Angesichts all der belanglosen Nasen, die sich heute hierzulande
schon "Star" nennen dürfen, vergisst man hin und wieder, welches
Format, welche Größe deutsche Schauspieler in Zeiten erreichten,
als man sie sich noch nicht in grauenvollen Sumpf der Vorabend-Serien
heranzüchtete. Dabei ist es noch gar nicht so lang her, dass
der leibhaftige Kinski zuletzt über unsere Leinwände tobte
- wie kommt's, dass viele sich heute mit den pubertären Turnübungen
eines blöden Bubs wie Ben Becker zufriedengeben (der jüngst
meint, sich just an Kinskis lyrischem Output vergreifen zu
müssen)? Sicher, Kinski hat einen großen Teil seiner Karriere
und seines Lebens damit verbracht, den Wahnsinnigen zu spielen
- und mit nichts läßt sich als Schauspieler auf billigere
Weise nachhaltiger Eindruck schinden. Aber Kinskis Exzess
war stets auch wirklich gelebt - selbst, wenn er offensichtlich
nur die Erwartung an den Darsteller-Derwisch erfüllte, nur
seine bis zur Perfektion erprobte Irrsins-Nummer abzog, selbst
dann wusste man immer: Er kennt auch den echten Wahn; auch
da, wo er (vor allem in den späteren Jahren) nur noch die
Figur "Klaus Kinski" spielte, spürte man, dass es dahinter
einen echten Kinski gab, der nicht weniger radikal an die
Grenzen zu gehen bereit war.
Und Kinskis Wahnsinn hatte Methode - er hatte sich das Schauspielen
tatsächlich erst einmal mit Fleiß und Geduld beigebracht,
bevor er dann auf die Bühnen stürmte und sich mit dem Nimbus
eines "Naturgenies" umgab. Wann immer Regisseure an mehr interessiert
waren als dem wilden Wüterich, dem Irrsins-Clown Kinski, konnten
sie aus ihm auch wesentlich vielschichtigere, zurückgenommenere
Leistungen herausholen. So eindrucksvoll die Filme bleiben,
die in seiner legendären Zusammenarbeit mit Werner Herzog
entstanden - es ist ein wenig schade, dass ausgerechnet sie
das Kinski-Bild so nachhaltig prägen. Freilich konnte kaum
einer Kinskis Affen so produktiv Zucker geben wie Herzog,
aber dadurch drängt sich etwas zu sehr in den Hintergrund,
was Kinski als durchaus auch professioneller Schauspieler
zu geben im Stande war, wenn ihn mit dem Regisseur eben keine
(filmisch statt sexuell ausgelebte) sado-masochistische Beziehung
verband.
Zur derzeitigen Kinski-Renaissance, mit Ausstellungen, CDs,
Lesungen, Büchern, liefert das Münchner Filmmuseum nun die
Film-Retro; verständlicher-, aber dennoch bedauerlicherweise
bei weitem nicht vollständig. Das Angebot dürfte aber allemal
ausreichen, um ein weniger eingeengtes Bild von Kinski zu
bekommen, als es landläufig kursiert. (Wer bringt normalerweise
z.B. Kinski und DR. ZHIVAGO in Verbindung?) Der schöne Nebeneffekt:
Das Ganze wird zugleich zum Streifzug durch jene Jahrzehnte,
als es noch ein lebendiges, eigenständiges, populäres europäisches
Genre-Kino gab. Das Hollywood Paroli bieten konnte, in dem
es sich auf ganz eigene Traditionen und Werte besann und diese
mit den amerikanischen Vorbildern produktiv verknüpfte, anstatt
nur lächerlich hilflose Kopien letzterer abzuliefern. Seien
es die bundesdeutschen Edgar Wallace-Filme (die, es sei hier
mit Nachdruck gefordert, schon längst eine eigene, umfassende
Retrospektive verdient hätten!) oder die Italo-Western (dito!),
oder sei es des hyperproduktiven Jess Francos Ausstoß an spanisch-italienisch-französisch-deutsch
koproduzierten Horror-Filmen (s.o.): Endlich sind diese großen
Filme (weitgehend noch immer zu wenig gewürdigt, zu wenig
verstanden) wieder einmal im Kino zu sehen.
Wenn man dort dann einen wunderbaren Film wie DIE TOTEN AUGEN
VON LONDON betrachtet und zum Vergleich das gegenwärtige deutsche
Kino, dann wird einem auch klar, warum heute die anfangs angesprochenen
belanglosen Nasen das Ruder übernommen haben: Selbst wenn
Kinski noch lebte - wo, bitte, wäre für einen Großen wie ihn
im derzeitigen deutschen Film noch ein Platz?
Thomas
Willmann
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