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Nicht nur der Eröffnungsfilm des Wettbewerbs um den "Goldenen
Löwen", DUST vom Mazedonier Milcho Manchevski sorgte für
Kontroversen. 1994 gewann Manchevski hier mit BEFORE THE RAIN
überraschend den Wettbewerb. Dann ging er nach Hollywood, DUST ist
der erste Film, den er seitdem, nach zwei Projekten, die ihm vom
Studio aus der Hand genommen wurden, vollenden konnte, und nun
endlich die Hoffnungen, die er mit seinem Erstling weckte, einlösen
möchte.
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Das Resultat ist ein vielschichtiges, mythisch angehauchtes und
sich biblisch gebendes Drama über zwei verfeindete Brüder,
Amerikaner, die es nach Europa verschlägt. Gespielt werden sie von
dem überzeugenden Newcomer David Wenham und Joseph Fiennes. Im
Mazedonien des Jahres 1912 kämpfen beide während der
Befreiungskriege gegen die osmanische Besatzung, auf verschiedenen
Fronten.
"Dust" ist ein düsteres, blutrünstiges, zugleich in Stil und
Erzählstruktur betont "postmodern" verschachteltes Epos - voller
halbgarer Referenzen an die Filmgeschichte, und mit deutlichen
Anleihen vor allem an die "Spaghetti-Western" der 60er-Jahre. Denn
für den erklärten Western-Fan Manchevski befindet sich im Balkan
der "wilde Osten", die Region, in der, wie es im Film heißt, "die
Jahrhunderte nicht aufeinander folgen, sondern parallel
existieren". "In mir lebt noch der Zwölfjährige, der ich einst
war", meinte Manchevski in der Pressekonferenz zum Film, "darum
habe ich diesen Film gemacht. Aber weil ich inzwischen älter bin,
ist er so geworden, wie er jetzt aussieht."
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Der politischen Realität und unserer Gegenwart verweigert sich
"Dust", der nach Wunsch des Regisseurs lieber als Reflexion über
das "Geschichtenerzählen" und die Relativität historischer Wahrheit
verstanden werden will - gerade das macht ihn aber wieder zu einem
auch politischen Statement der anderen Art. Und angreifbar.
Teile des Publikums reagierten mit heftigen Buhrufen auf diese
Eröffnung. Für Streit sorgte bei dem nicht zuletzt mit deutschen
und britischen Geldern finanzierten Film, weniger die mitunter
übertriebenen Blutorgien als vor allem die mehr als einseitige
Darstellung der türkischen Besatzer - es war schwer denen zu
widersprechen, die hier von "Rassismus" sprachen. Hinzu kam das
politische Pathos des Regisseurs, der in seinem Film diejenigen
verdammt, die "nur für Geld" töten, aber diejenigen feiert, die es
"für die Freiheit" tun - solche Worte werden dann von hübschen
jungen Frauen in knackiger Tracht gesprochen, ihre Zuhörer sind
junge Männer, die kurz darauf wieder frohgemut zur Flinte greifen.
Die Form, in der Manchevski sich zudem den Fragen nach seiner
"politischen Agenda" entzog, tat ein Übriges: mit Schweigen
reagierte er kurzerhand auf entsprechende Neugierde.
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Sex, Gewalt, Sozialkritik prägten auch viele andere Filme der
ersten Wettbewerbstage. Stilistisch sehr Unterschiedliches, Werke,
deren - bei allem Streitbaren - grundsätzlich hoher Anspruch den
Streit lohnenswert macht. Etwa BULLY von Larry Clark, der seit
KIDS auf die realistische Darstellung der Lebenswelten
amerikanischer Großstadtkids abonniert scheint. Diesmal geht es um
die Chronik eines angekündigten Mordes im Sündenpfuhl einer Gruppe
weißer Mittelstandskinder in Florida. Zwingend und eindringlich kam
BULLY, der mit einer ganzen Palette von Youngstars - Brad Renfro
oder Bijou Philipps - aufwarten kann, gut an. Viel diskutiert blieb
aber, ob Sex und Gewalt wirklich in derart offener, bewusst mit den
Voyeurismen eines Jeden spielender Form gezeigt werden muss - keine
Frage: Larry Clark ist ein Moralist, der an die Überzeugungskraft
drastischer Bilder glaubt.
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Damit ist er nicht allein in Venedig: ADDRESS UNKNOWN, der
Wettbewerbsbeitrag des Koreaners Kim Ki-Duk, ist eine groteske
Parabel auf die desillusionierte südkoreanische Gesellschaft der
späten 70er und ihr prekäres Verhältnis zu den USA. Brutal, ohne
allzuviel tatsächlich zu zeigen, zugleich auf einer symbolischen
Ebene als Traktat über Sehen und Blindheit mündet der Film in eine
universale Tragödie - vier, fünf verschiedene Episoden und ihre
Charaktere, deren Schicksal in irgendeiner Form miteinander
verbunden ist, metzeln sich selbst oder de anderen hin - ein
verstörender Film, den die einen als sadistisches Machwerk
kritisierten, die anderen als authentischen Ausdruck einer sozialen
Krise ernstnahmen.
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Fast etwas verdächtig viel Einigkeit herrschte dagegen über die
Qualität von Y TU MADRE TAMBIEN vom Mexikaner Alfonso Cuaron.
Eine so bewegende wie komische Mischung aus Road-Movie und kluger
Gesellschaftssatire, die ein modernes Mexiko jenseits der Klischees
zeigt, ein Land, im Wandel, das - wie seine beiden pubertierenden
Hauptfiguren -lernt, erwachsen zu werden.
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Am Wochenende kamen die Stars auf den Lido: Nicole Kidman,
Charlize Theron, Martin Scorsese, Denzel Washington - sie alle
gaben sich die Klinke in Venedig in die Hand. Mit viel Routine und
kaum weniger Disziplin wechseln die Pressekonferenzen im
Halbstundenrythmus -ein Filmfestival erlebt seine ersten
Höhepunkte.
Besonders der Auftritt von Nicole Kidman zog dabei alle in Bann.
"Film ist vor allem die Kunst der Regisseure" brach die
Schauspielerin mit Charme und Intelligenz vor der versammelten
internationalen Presse eine Lanze fürs Autorenkino, und erklärte
dass sie in Zukunft vor allem mit europäischen Regisseuren
zusammenarbeiten wolle - so etwa dreht sie bald mit dem Dänen Lars
von Trier.
Diesmal war sie mit OTHERS zu Gast, einer klassischen
"Gothic"-Schauergeschichte mit Anklängen an THE SIXTH SENSE. Im
Stil erinnert der über weite Strecken gelungene Wettbewerbsfilm des
Spaniers Alejandro Amenabar aber noch eher Hitchcocks REBECCA und
andere Filme der 40er Jahre. In deren Atmosphaehre spielt die
Geschichte einer Mutter zweier Kinder, die allein in einem
überdimensionierten Haus im britischen Nebel lebt. Merkwürdige
Ereignisse nehmen zu, ein düsteres Geheimnis ist zu entdecken, und
die von Kidman großartig gespielte Hauptfigur zweifelt zunehmend in
der Realität ihrer Wahrnehmungen.
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Über Balanceakte auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit
geht es in vielen Filmen. In seiner unnachahmlichen Art spielt
Woody Allens THE CURSE OF THE JADE SCORPION mit dem Thema. Auch er
lässt seinen neuen Film wieder einmal in seiner Lieblingsepoche,
den 40er-Jahren spielen: Eine Detektivgeschichte mit ironischen
Anklängen an Motive des "Film Noir". Allen selbst spielt einen
"Private Eye", der von einem Hyptnotiseur ohne sein Wissen zu einem
erfolgreichen Einbrecher gemacht wird - per Codewort
"Konstantinopel". Im Wachzustand ist er dann im Auftrag der
Versicherung sich selber auf der Spur - eine intelligente, zugleich
sehr alberne Komödie um Schizophrenie und die Relativität aller
Fakten. Persönlich ließ sich Venedigliebhaber Allen nach dem Film
von seinen Hauptdarstellern Helen Hunt und der funkensprühenden
Hollywoodnewcomerin Charlize Theron vertreten - da sein Film
diesmal außer Konkurrenz läuft, hielt er wohl persönliche
Anwesenheit für unnötig.
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Der Wettbewerb bleibt bislang auf hohem Niveau verhalten. Zwar
sieht man kaum schlechte Filme, doch umgekehrt fehlen auch bisher
die klaren Favoriten. Die Beiträge unbestritten guter Regisseure
verliefen dabei eher enttäuschend. Von André Téchiné hatte man zum
Beispiel viel erwartet: Wie zuvor in Fruit Chans missglücktem
HOLLYWOOD HONGKONG geht es in LOIN um das, durch ökonomische
Globalisierung zusätzlich aktuelle Thema Grenzüberschreitung. Ein
französischer Fernfahrer liebt eine Frau in der marokkanischen
Hafenstadt Tanger. Sie wiederum spielt mit der Hoffnung, durch
Emigration nach Kanada ein besseres Leben zu führen, und dem
Wunsch, in der schwierigen Heimat zu bleiben. Trotz seines guten
Themas lässt der Film merkwürdig kalt, im Gegensatz zu Téchinés
Meisterwerken der 90er - MEINE LIEBSTE JAHRESZEIT und WILDE HERZEN
- wirkt LOIN beliebig. Vielleicht war Téchiné mit der Doppelrolle
als Regisseur und Autor einfach überfordert, vielleicht war die
Story zu kopflastig, um in den Bann zu ziehen - immerhin bleibt
einem der Film nachdruecklicher im Gedaechtnis, als andere, und der
Franzose dürfte ingesamt durchaus Preischancen haben.
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Am Anfang ist jede Leinwand schwarz. Doch diesmal bleibt es so.
Ganz einfach, 70 Minuten lang. Nur unterbochen vom gelegentlichen
kurzen Aufblitzen eines reinen Weiss. Zunächst begrüsst das der
Zuschauer noch wie einen Schimmer der Hoffnung, dass es nun mit den
Capricen des Regisseurs ein Ende habe, dass der Film endlich
anfängt. Später sind die Unterbrechungen nur noch lästig, kleine
sadistische Exkurse in meditativer Dunkelheit. "Hurlement en faveur
de Sade" stammt von 1952 und ist ganz und gar geprägt vom
Avantgardismus seiner Enstehungszeit. Gedreht hat ihn der zu spät
gekommene Surrealist Guy Debord, dem beim Filmfestival von Venedig
die Retrospektive gewidmet ist. Die meisten von Debords Filmen
sind sehr persönliche Dokumentationen, filmische Illustration und
Erweiterung seiner in Buchform entwickelten These von einer
universalen Diktatur der Bilder, "Der Gesellschaft des Spektakels".
Die macht Debord attraktiv und aktuell in einem Moment, in dem
seine Theorien Realität zu werden scheinen. Denn dass einmal alle
Bildschirme schwarz sein koennten, das ist die wahre Utopie im
Reich Berlusconis, und in einem Moment, in dem aus dessen Regierung
massive Angriffe gegen Mostra-Direktor Alberto Barbera lanciert
werden, fast schon wieder ein Hoffnungsschimmer. Das italienische
Publikum jedenfalls pilgert in Scharen zu diesem Toten, hält dessen
Zumutungen gerne aus.
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Überraschenderweise bildet Debord auch zu vielen Filmen der
beiden Wettbewerbe im Festival einen produktiven Kontrast. Es
erinnert daran, dass Kino einmal ein Reich der Intensität war, die
sich nicht durch Spezialeffekte herstellen liess. Natürlich war
auch zu Debords Zeiten nicht alles besser, aber damals war
zumindest das Verlangen vieler Filmemacher spürbar, authentischer
Ausdruck von widersprüchlichen Lebensgefühlen und nicht nur deren
beruhigende Ablenkung zu sein. Wo im zeitgenösssischen Kino
verbirgt sich dieser konsequente Wille, Kino über das Amüsement
hinaus als Kunstwerk zu begreifen, der radikle Mut, mit der einst
das europäische Autorenkino um neue Bilder und andere Wahrheiten
gerungen hat, der hier in Dokumentationen zu Pasolini und Antonioni
immerhin nostalgisch beschworen wird?
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Jedenfalls nicht bei Ken Loach. Mit "Navigators" ist der Brite
seinem Stil treu geblieben und erzählt von einer Gruppe von
Bahnarbeitern, die 1995 ein Opfer der Privatisierung wird.
Unaufhaltsam nimmt der Sozialabbau seinen Lauf zu einem Ende hin,
das schon in den ersten Bildern angedeutet wird, und bei dem einer
aus der Gruppe sein Leben verliert. Aber da, wo die Geschichte als
persönliche interessant wird, bei der Frage, wie es mit den Dreien
weitergeht, die den durch Sicherheitsmängel verschuldeten Unfalltod
ihres Kollegen decken, um ihren eigenen Job zu behalten, hört der
Film auf. Nie findet Loach zu jener Intensität des Gefühls, die
"Land & Freedom" oder "My Name is Joe" prägte. Und auch als
politisches Manifest funktioniert "Navigators" nicht. Denn Loach
bietet längst bekannte Befunde, beschreibt Vertrautes; bei der
Frage nach Konsequenzen lässt er den Betrachter allein. Man mag das
als weise Zurückhaltung, als kluge Vermeidung zu einfacher Lösungen
loben. Aber im persönlichen Gespräch verweist Loach dann durchaus
darauf, man müsse eben "wieder die Klassiker lesen, analysieren,
was 1917 und 1936 falsch gelaufen ist", und im Übrigen daruaf
warten, dass die Selbstwidersprüche des modernen Kapitalismus
diesen endlich zerstört haben. Ein bisschen feige wirkt da der
Verzicht, solchen Thesen auch filmische Gestalt zu geben, und wie
etwa Debord oder Pasolini oder zumindest in Ansätzen André Techinés
Grenzgängerdrama "Loin" das ganz Andere einzufordern.
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Die Türsteher wecken tagsüber bei vielen die niedrigen Instinkte.
Nach einer Woche hat man immerhin gelernt, nicht wegzugehen, wenn
es heisst: "The Film ist sold out." Das ist dann nur eine Floskel
für: "Die Dummen gehen jetzt." Denn irgendwann kommt man dann doch
rein. Man muss nur hartnaeckig bleiben, schimpfen, diskutieren,
nerven. Die Italiener sprechen nur vom "cazzo da porta". Aber das
wollen wir lieber nicht übersetzen.
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Richard Linklater kann man mangelnden Mut nicht nachsagen. Mit
zwei sehr unterschiedlichen, doch gleichermassen künstlerisch
gewagten Filmen ist der US-Independent in Venedig vertreten.
"Waking Life" ist stilistisch ein Trickfilm. Inhaltlich variiert
dieser philosophische Essay ein untergründiges Leitmotiv des
Wettbewerbs, das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit - um das ja
neben Amenabars "Others" oder Woody Allens "The Curse of the Jade
Scorpion" selbst Loachs Film gewissermassen kreisst. Mit der Zeit
nehmen die sprechenden Köpfe hier zwar stark überhand, und viele
der Debatten über den Sinn des Lebens erinnern stark an "Sofies
Welt", doch trotzdem bemüht sich Linklater darum, die Konvention zu
verlassen, den Zuschauern eine persönliche Reflexion über die Welt
zuzumuten ohne dabei völlig unzuganglich zu sein. "Tua res agitur"
könnte auch das Motto von "Tape" sein, Linklaters zweitem Beitrag
(in der Reihe Nuovo Territori). Ein digitales Kammerspiel für drei
Personen, nach Stephen Belbers Theaterstück. Uma Thurman, Ethan
Hawke und Robert Sean Leonard sind allesamt grossartig, und zeigen
einen der schauspielerisch anspruchvollsten Auftritte, die bisher
zu sehen waren. Sie spielen drei Schulfreunde, die sich nach Jahren
in einem Motel wieder treffen. Ihre miteinander verwobenen
Beziehungen und ein ungeklärtes Ereignis der Vergangenheit, von dem
drei verschiedene Versionen existieren, bieten Stoff für ein dicht
gefilmtes Drama ibsenscher Dimension.
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Irritation und Beunruhigung dominieren erst recht in "Hundstage",
so oder so einem der Höhepunkte im bisherigen Wettbewerb. Ulrich
Seidel, bisher durch Dokumentationen ("Tierische Liebe", "Models")
auf Festivals bekannt geworden, bewegt sich in seinem ersten
Spielfilm in den Abgründen des privaten Österreich. Wenn Loachs
Film beweist, wo der Humanismus des 19.Jahrhunderts an seine Grenze
stößt, zeigt "Hundstage" wo der antihumanistische Blick eines
Michel Houellebecq produktiv werden kann. Überwiegend mit
Laiendarstellern zeigt Seidel wie ein Ethnologe des europäischen
Suburbia Menschen eines namenlosen Vororts, die sich lieben und
sich schlagen, die zuviel und zuwenig reden, im Supermarkt und im
Swingerclub - Ficken und Shoppen als Essenz des modernen Lebens.
Seidels auf Anklagen verzichtende Vivisektionen der Spiesserseele
bewegen sich an der Grenze zur Zumutung. Hart und kompromisslos
sind sie zugleich dort am stärksten, wo sie sich auf Alltäglichkeit
ganz einlassen, diese mit der Kühle eines Strukturalisten
offenlegen, ohne sie blosszustellen oder zu denunzieren. Da kann
sich dann auch der Betrachter nicht mehr wohlgefällig
ausschliessen. Wo es hingegen ins Extrem abgleitet, auf der
Frotteecouch gefoltert wird, wo eine Figur mit anal eingeführter
brennender Kerze die österreichische Nationalhymne zu singen hat,
nähert sich "Hundstage" dem zynischen Blick und einer
Effekthascherei, die der Film im Übrigen vermeidet, und die seine
Wirkung eher verwässert. Ansonsten belegt "Hundstage", dass
Objektivierung nicht notwendig zur Teilnahmslosigkeit führen muss.
Liebe freilich trifft man hier nur in fratzenhafter Verzerrung -
eine ferne Erinnerung, dass da noch etwas war.
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So geht es also weiter in Venedig. Die Suche der Filmemacher nach
Intensität kommt kaum ohne Sex und Gewalt aus, mündet manchmal in
billige Provokation, doch öfter noch ist das Bemühen spürbar, der
Realität nicht auszuweichen, jedenfalls genau hinzusehen. Immerhin
etwas.
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Attacken auf ein Festival
Von der Wertschaetzung der Kultur - Notizen aus Venedig,
2.Folge
Wenn Ordner mit Ellenbogen und geballten Fäusten auf Filmkritiker
losgehen, dann ist das auch für ein großes Filmfestival bei dem
naturgemäß alle Seiten ein wenig überarbeitet sind, und sich
vielleicht auch noch etwas wichtiger nehmen, als sonst,
ungewöhnlich. Erst recht wenn man sich gerade im italienischen
Venedig befindet, also unter Menschen, denen man nachsagt, dass sie
das "dolce vita", das süss-lockere "leben und leben lassen"
geradezu erfunden haben.
Aber zur Zeit liegen in Venedig, bei aller südländischen
Gelassenheit, die Nerven blank. Zum 58. Mal findet zwischen den
noblen Hotels am Strand des Lido die renommierte "Mostra" statt,
und noch nie, noch nicht einmal in den Gründungsjahren, als noch in
Rom der "Duce" regierte, war das Filmfestival, eines der ältesten
der Welt, ähnlichen politischen Attacken ausgesetzt wie jetzt. Denn
in Rom regiert seit Mai der Medientycoon Silvio Berlusconi, in
dessen Koalitionsregierung bekanntlich unter anderem die
rechtsextreme - sie selbst nennen sich gerne "postfaschistische" -
"Alleanza Nationale" sitzt und in dieser Partei gibt es offenbar
einige Leute, die in Venedig gern einmal so richtig aufräumen
würden. Zum Beispiel Vittorio Sgarbi, Staatssekretär im
Innenministerium. Vom in allen Demokratien gültigen Grundsatz der
Kunstfreiheit hat Sgarbi offenbar noch nichts gehört. Kurz nach
Festivalbeginn erzählte er einigen Journalisten, die Mostra sei ein
"Festival der linken Rüpel", und das Programm ein Zeichen von
"Dekadenz". Aus Sgarbis Sicht mag das sogar stimmen, denn
tatsächlich sind die Filme, die Festivalleiter Antonio Barbera
ausgewählt hat, von großer Toleranz geprägt, also bestimmt nicht
von dem, was ein postfaschistischer Staatssekretär für
prinzipienfest hält. Einige von ihnen, zum Beispiel die angesehenen
Filmemacher André Techiné und Ken Loach setzen sich mit den Folgen
der wirtschaftlichen Globalisierung auseinander und sparen nicht
mit Kritik an ihren jeweiligen Regierungen, die in ihren jeweiligen
Heimatländern Frankreich und England übrigens derzeit von den
Sozialdemokraten gestellt werden.
Nun gibt es in Rom auch noch einen Kulturminister, der eigentlich
im Gegensatz zu Sgarbi für derartige Fragen zuständig wäre. Er
heisst Guiliani Urbani und hatte sich bereits zur Eröffnungsgala
des Festivalauftakt entschuldigen und nicht vertreten lassen, was
als offener Affront gegen das filmische Aushängeschild Italiens
empfunden wurde. Trotzdem gilt Urbani, ein Mitglied der Partei
Berlusconis als verhältnismässig liberal, und hielt nach Sgarbis
Attacken, vielleicht um diese Liberalität zu demonstrieren, erst
einmal zwei Tage den Mund, um dann am dritten Tag seine eigene
Zuständigkeit zu erklären. Er wies Sgarbi Äusserungen zurück,
erklärte aber doch gleichzeitig, in Venedig müsse sich "einiges
ändern". Nun ist das etwa so aussagekräftig, wie Berlusconis
Wahlkampfslogan, er werde für die Renten "eine angemessene Lösung"
finden. Trotzdem verstand jeder Urbanis Bemerkung als offene
Drohung gegen den Festivalleiter, dessen Vertrag Ende nächsten
Jahres ausläuft, und bald zur Verlängerung ansteht.
Wirklich gefährlich für Barbera ist dabei die Tatsache, dass er
nicht nur aus einer Ecke angegriffen wird. Vielmehr gibt es
durchaus ein paar Leute, die zwar, wie Barbera, kulturell und
politisch eher dem linksliberalen Lager zuzurechnen sind, die aber
persönlich nur gar zu gerne selbst auf seinem Posten sässen. Und
bei genauem Hinschauen wird die Lage noch komplizierter. So ist
einer der Hauptsponsoren des angeblich so "linken" und "dekadenten"
Festivals in Fernsehsender, der zu 100 Prozent dem Regierungschef
Berlusconi gehört, in täglichen und wie es heisst sehr
erfolgreichen Livesendungen wird vom Lido berichtet.
Einstweilen erregen sich in Venedig alle über die unerzogene
Regierung und die Grobheiten der Ordner. Manche Kollegen
konstruieren gar zwischen beidem einen Zusammenhang, und vermuten,
vielleicht wolle Berlusconi einen Skandal provozieren. Aber das
scheint dann doch etwas weit hergeholt.
Festzuhalten leibt, dass selbst so eine zwilichtige Figur wie
Vittorio Sgarbi die Kultur und die Bedeutung des Films offenbar
wichtig genug nimmt, um einen handfesten Kulturkampf zu
provozieren. Und das ist, trotz allem anderen, ein gutes
Zeichen.
Rüdiger
Suchsland
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