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"Heinz, wir wollen alles sehen!" - von den vielen
Sprüchen, die Heinz Badewitz, in 35 Jahren Hofer Filmtage
in Ehren ergrauter Prinz Eisenherz unter den deutschen Festivaleitern,
mit einer gewissen Regelmäßigkeit zum besten gibt,
ist dieser vielleicht der charakteristischste: Der unvergleichbare
Wert von Hof liegt darin, nichts auszulassen. Dabei geht es
gar nicht um Masse gegen Klasse; Hof ist einfach wie ein alljährliches
längst ritualisiertes Familientreffen, zu dem wirklich
jeder kommen darf - das Wichtigste ist, dass zu den immergleichen
Bratwürsten, Fußballspielen und Filmen wieder alle
dabei sind. Das Rezept hat Vorteile: Nirgendwo sonst bekommt
man einen so präzisen Querschnitt von Seelen- und Stimmungslage
des deutschen Kinoschaffens geboten, nur hier, unter über
30 einheimischen Film- und Fernsehproduktionen (plus 25 Kurzfilmen
verschiedener Filmhochschüler) erkennt man gemeinsame
Motive, erspürt die leider seltenen neuen Talente und
bemerkt, wer wirklich aus dem Rahmen fällt.
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Vor allem war das auch diesmal wieder Christian Petzold.
Im vorigen Jahr hatte hier DIE INNERE SICHERHEIT Deutschland-Premiere,
inzwischen gewann der Film verdient den deutschen Filmpreis
- eines der wenigen Werke von internationalem Niveau. Mit
TOTER MANN weicht Petzold geschickt dem folgenden Erwartungsdruck
aus: Eine ZDF-Produktion, die das Understatement nicht verdient
hat, mit der man sie voreilig - und aufgrund gewisser, durch
Erzählkonvention und 90-Minuten-Zeitrahmen erzwungener
Kompromisse - zu "nur Fernsehen" herunterspielt.
Denn der stille Psychothriller könnte und sollte leicht
im Kino laufen: Zur Musik von Burt Bacharach geht es wieder
um den Umgang mit Erinnerungen, die einen nicht loslassen,
um unterschiedliche Formen von Besessenheit, gegen die alle
Selbstbestimmung nicht ankommen kann. Nicht allein die chimärenhafte,
von Nina Hoss wunderbar gespielte Hauptfigur erinnert an Hitchcocks
Vertigo, wie sie sich zur Projektionsfläche von zwei
Männern entwirft, und trotzdem lange eine Art Kontrolle
behält; auch die blass-künstliche Farbgebung, die
Symmetrie der klaren, konzentrierten Bilder, in denen Petzold
die Zuschauer auf Distanz hält, ohne sie unbeteiligt
werden zu lassen, machen TOTER MANN zu einem kleinen Meisterwerk,
das das Wichtigste hat, was große Filme brauchen - ein
Geheimnis.
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Das ließ sich sonst nur von den wenigsten deutschen
Produktionen sagen. Am ehesten noch von JEANS, dem Regiedebüt
der Schauspielerin Nicolette Krebitz. Zugegeben, auch der
Kritiker hat es bestimmt nicht erwartet, war eher mit dem
Gefühl ns Kino gegangen: Muss die Krebitz jetzt auch
noch Regie führen? Sieht ja gut aus, kann hervorragend
spielen (erinnert sein hier noch einmal an ihre grandios-komödiantische
Rolle im sonst vollständig missglückten BANDITS),
aber selber Filme machen?
Doch dann bot Krebitz - ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen
Bernd Michael Lade, der mit seinem chaotischen NULL UHR 12
zur Eröffnung uninteressant gescheitert war - einen Film,
der wie TOTER MANN im Zweifelsfall einfach ruhig bleibt, wo
andere kurzatmig einen Einfall an den anderen setzen.
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JEANS ist ein Film, der keine Geschichte erzählt, sondern
schöne junge Leute in zumeist photographisch-ruhigen
Einstellungen beim Rumhängen, Labern und Anbaggern beobachtet,
fragmentarisch, mit Fehlern, aber auch von einer Intensität,
die man in den meisten deutschen Filmen vergeblich sucht.
Ambient-Music wird gespielt, Rainald Goetz tritt als wandelndes
Selbstzitat auf, aber der Pool, an dem die zeitgenössischen
Pop-Literaten sich gern räkeln, bleibt hier leer - und
darum gelingt JEANS, der unprätentiöser ist, als
er auf manch' gestandenen älteren Kritiker in Hof gewirkt
hat: Denn Krebitz, deren Film man durchaus mit dem Godard-Spruch
illustrieren könnte, ein Film müsse einen Anfang,
eine Mitte und ein Ende haben, "aber nicht notwendig
in dieser Reihenfolge", erliegt nicht der Illusion, die
Unschuld der Nouvelle Vague - "Rausgehen und Filme drehen"
zitiert auch Badewitz gern Hofer Gründungsmythen - einfach
wiederholen zu können. JEANS illustriert im Gegenteil
einen Verlust der Unschuld, der sich nur ganz zögernd
durch Experimentierfreude überwinden lässt - und
bei alldem ist es ein caprisonnenfrisches Stück Pop-Kino
geworden, mit dem man wie mit seiner Lieblingsplatte gern
90 Minuten verbringt.
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Ein Wort zu den in der Regel außerordentlich geschätzten
Kollegen (keine Namen hier, aber man muss nur ein paar Hofberichte
guter Zeitungen nachlesen): Wir alle schauen uns ja 'mal Filme
auf Videocasette an, weil sie aufs Festivalende programmiert
sind, weil man vorab 'sichten' muss, weil man nicht alles
sehen kann, aber doch irgendwie alles sehen will, weil es
manchmal 'nicht anders geht'. Und uns allen zuckt da auch
der Finger an die Vorspultaste, wenn uns etwas langweilt,
wenn wir nicht weiterkommen - aber das Beispiel JEANS zeigt
dann doch, zu welch ungerechtem Umgang das führen kann.
Da wird ein immerhin fürs Fernsehen produzierter Film
wie der von Petzold auf der großen Leinwand gezeigt
- was er sehr gut verträgt, was seine Qualität nur
sichtbarer macht - und die gleichen Leute, die zu recht von
TOTER MANN schwärmen, gucken JEANS am Vormittag danach
auf Casette, kommen nicht rein, spulen vor, und schämen
sich noch nicht einmal, sondern reduzieren das alles, da auf
DV gedreht, auf "Homevideo". Dabei ist JEANS, wenn
irgendetwas, ein Film, der Zeit und Ruhe braucht, die Dunkelheit
des Kinos, nicht das grelle Licht des Morgenkaters.
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Wer alles sehen will, muss aber auch leiden. Sven Taddickens
Debüt MEIN BRUDER, DER VAMPIR möchte genau das sein,
was JEANS tatsächlich ist: Jung und unverbraucht, zitatreich,
cool und mutig. Es klappt aber nicht. Herausgekommen ist ein
hysterischer Film, über den der Regisseur die Kontrolle
verloren hat - weil er nicht weiß, was er zwischen allen
formalen Einfällen erzählen soll, weil er infantil
zwar irgendwie von Sex handelt, aber von welchem, der halb
besinnungslos in einer bunten Bonbonhäuschenkindheit
zwischen Gimmicks, Draculakostüm und Spielzeugeisenbahn
(nicht) stattfindet, weil er das Thema Behindertensex nur
als Vorwand, aber keinen Moment ernst nimmt, weil er sich
zwischen drei Hauptfiguren nicht entscheiden will, wem die
Aufmerksamkeit gilt, weil er sich traut wieder ein weises
kluges Mädchen zu zeigen, das wieder einmal permanent
aus dem Off die Welt erklärt und mit einer Videokamera
herumläuft (was wohl heißen soll, dass sie die
Welt irgendwie distanziert und daher nicht richtig wahrnimmt,
und wohl auch etwas mit Film im Film zu tun hat), weil die
Unsicherheit der Hauptfiguren Taddickens eigene ist, ohne
dass er dazu steht. Und wie in vielen deutschen Produktionen
wird die Pubertät zum Fluchtort für Regisseure,
die offenbar nicht richtig erwachsen werden wollen.
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Der aktuelle Trend heißt Inzest. Schon in Christian
Zülberts LAMMBOCK kaschierte man mit diesem Einfall vor
allem, dass den Autoren der dramaturgische Ausweg fehlte.
Bei Taddicken liegen die drei Geschwister am Schluß
nackt im eigenen Bettchen, zwischen Spielzeugbahn und zerstobenen
Träumen finden sie ihr Glück im Kokon des Daheim.
Als Tragödie finden wir das Gleiche in Thomas Stillers
DIE WUNDE. Ein Familiendrama von archaischem Ausmaß:
Querschnittsgelähmte Mutter, vor 20 Jahren mit kaum geborener
Tochter vom Vater verlassen. Psychotische Tochter (gespielt
von einer herausragenden Alexandra Schalaudek, dem einzigen
Lichtblick des Films), die, nun erwachsen, dem Vater nachspürt,
ihn, ohne sich zu erkennen zu geben, als Bartänzerin
im Rotlichtmilieu kennenlernt, der inzwischen als kühler
Manager in den Herrschaftszentralen der Hochfinanz arbeitet.
Die Zuschauer werden Zeuge, wie dieser Mikrokosmos implodiert.
Doch auch wenn Regisseur Stiller vielleicht eine Art bürgerliches
Melodrama im Stile Fassbinders vorgeschwebt haben mag, dann
weicht er doch dort, wo dieser die Verhältnisse entlarvt,
indem er sie kühl an ihren eigenen Widersprüchen
zugrundegehen lässt, in Sentimentalität aus - verschiebt
seinen Stoff ins bloß Private, Emotionale, Moralisierende.
Dabei begegnet die Tochter auch Papas Sohn aus zweiter Ehe;
ohne zu wissen, um wen es sich handelt - Inzest als (letztlich
doch folgenlose) Tragödie. Und so bleibt eben in Hof
wirklich alles in der Familie.
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MEIN BRUDER, DER VAMPIR war einer jener Filme, die in Hof
mit jeder Bratwurst schlechter wurden. Anderen ging es umgekehrt.
Etwa DER GLANZ VON BERLIN, ein neugieriger Dokumentarfilm
über drei Putzfrauen, der seine Figuren weder bloßstellt,
noch verkitscht, der ihnen Raum gibt, und dem es darin gelingt,
plötzlich Situationen von fast unerträglicher Offenheit
zu zeigen. Ein großer kleiner Film von Antje Kruska
und Judith Keil, die beide nicht an der Filmhochschule studiert
haben.
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Zu weiterer Standortbestimmung hilft auch der Vergleich mit
anderen Ländern. Zu den besten ausländischen Filmen
gehörte Ray Lawrences LANTANA. Midlife-Crisis im australischen
Sidney, unter der Oberfläche des Alltäglichen lauert
die Gefahr, die wir alle kennen: Das alles ganz anders wird,
das alles so bleibt, wie es ist. Die Kamera begleitet eine
Handvoll Menschen, alle so erwachsen, dass es Zeit wird, etwas
zu unternehmen, wenn man die Dinge noch ändern will.
Die Psychoanalytikerin Valerie, äußerlich selbstbewusst,
innerlich gebrochen. Ihre Tochter wurde vor zwei Jahren ermordet,
sie hat ein Buch geschrieben, in dem sie hilflos versucht,
den Tod zu bewältigen. Ihre Ehe ist unglücklich.
Und den ganzen Tag über hört sie sich in ihrer Praxis
die Geschichten von anderen unglücklichen Ehen an. Zum
Beispiel von Sonja, deren Verhältnis zu ihrem Mann Leon
zunehmend kühler wird. Dieser Leon, wiederum, Polizist
in der Mordkommission, steht im Zentrum der Geschichte. Ihn
lernt man am besten zu verstehen, erkennt seine Beweggründe
und begreift seine Midlife-Crisis, die ihn zu einer kurzen
Affaire mit Jane führt, die im gleichen Salsa-Kurs ist
wie Sonja.
Hinter allen Lebenslügen ist der Zwang, der Wahrheit
ins Auge zu sehen, ganz nahe. Eines Tages verschwindet jemand,
und Leon, der Polizist, der schon bisher durch seine Ehekrise
im Zentrum stand, beginnt zu ermitteln, Stellvertreter des
Zuschauers und (Selbst-)Aufklärer in einem... Ruhig,
mit langem Atem und einer Intensität, die irgendwo zwischen
Ang Lees EISSTURM und den Filmen Michael Winterbottoms angesiedelt
ist, gelingt Lawrence ein berührender, kühl-gefühlvoller,
"europäischer" Film, in dem sich Thriller und
Beziehungsdrama vermischen.
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Vor allem sah man viele Österreicher, neben Ulrich Seidels
in Venedig ausgezeichnetem HUNDSTAGE auch Paul Harathers neuen
Film ARABESKEN UM FROSCH, ein herrlich-boshaftes Kammerspiel
und ein Beleg für das Potential der neuen digitalen Techniken.
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Das reine Glück des Kinos liegt im Vergessen. In der
Neuheit der ersten Bilder, in denen man sich als Zuschauer
ganz dem Regisseur überlässt, dem Geheimnis, das
er einem enthüllen wird, und von dem man hofft, dass
es das eigene Leben verändert. Die besten Filme sind
die, die sich diesen Geist des Anfangens bewahren, die immer
wieder den Zauber des Augenblicks beschwören, in denen
alles möglich war, für die Zuschauer, aber vor allem
für die Regisseure - eine Utopie bestimmt. Denn vielleicht
kann man erst wirklich neu anfangen, wenn man alles kennt.
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Auch Mike Figgis kennt alles, aber das genügt ihm nicht.
"Guten Abend, gute Nacht" klingt das bekannte Lied
mehr als einmal durch seinen neuen Film HOTEL. Und eine der
Hauptfiguren ist ein Regisseur, der im Wachkoma liegt - was
vielleicht mehr Regisseuren passiert, als man glaubt. Auch
das Wachkoma haben wir schon einmal in Hof gesehen: In JEANS
liegt eine junge Frau im Krankenhaus, ein Freund besucht sie,
und liest ihr vor, unter anderem Houellebecq. Aber auch das
weckt sie nicht auf. Aber ein bisschen ist Kino, vor allem
das spontane, digitale, ja auch wie Wachträumen. Und
die modernsten Filme sind in manchem die ältesten.
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HOTEL ist ein genialer Wurf. Er spielt ausschließlich
in Venedig, vor allem im alten Hotel "Hungaria"
auf dem Lido, einem der magischen Orte auch des Filmfestivals.
Hier dreht ein Filmteam eine Kino-Version von John Websters
Renaissance-Drama "The Duchess of Malfi" im "Dogma"-Stil.
Begleitend wird eine Dokumentation über die Arbeiten
ebenfalls im Dogma-Stil gedreht. Und auch Figgis eigene Bilder
ähneln mit seiner Handkamera, die ganz nah und unmittelbar
an die Figuren herangeht, jenen der Dänen. Eines Tages
unternimmt der Produzent einen Anschlag auf den Regisseur,
der im Wachkoma überlebt. Und andere Hotelgäste
verschwinden. Immer mehr scheint die blutig-apokalyptische
Handlung von Webster ihre Rückwirkung zu entfalten.
Film im Film im Film - das Atemberaubende von HOTEL liegt
gerade in der Mischung auch hochreflexiver Klugheit und der
Tatsache, dass Figgis wirklich neue Bilder zeigt. Wo andere
lange Kamerafahrten einsetzen, um ihre Handlung wieder zu
bündeln, Ruhepausen zu finden, da gebraucht er den Splitscreen,
der vier Handlungen gleichzeitig zeigt und kombiniert. Zudem
gelingt es Figgis, der kaum Gagen bezahlen kann, viele interessante,
schöne Schauspieler - unter anderem Salma Hayek, Lucy
Liu, Chiara Mastroianni, Julian Sands, John Malkovitch - in
sein Projekt zu integrieren. Wenn es eine Form gibt, in der
der Aufbruchsgeist, in dem einst auch die Hofer Filmtage begannen,
auch in die Zukunft fortgesetzt wird, dann hier.
Rüdiger Suchsland
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