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01.11.2001
 
 
   

Es bleibt alles in der Familie
Die 35. Hofer Filmtage auf der Suche nach dem Kino von morgen

 
 
 
 

"Heinz, wir wollen alles sehen!" - von den vielen Sprüchen, die Heinz Badewitz, in 35 Jahren Hofer Filmtage in Ehren ergrauter Prinz Eisenherz unter den deutschen Festivaleitern, mit einer gewissen Regelmäßigkeit zum besten gibt, ist dieser vielleicht der charakteristischste: Der unvergleichbare Wert von Hof liegt darin, nichts auszulassen. Dabei geht es gar nicht um Masse gegen Klasse; Hof ist einfach wie ein alljährliches längst ritualisiertes Familientreffen, zu dem wirklich jeder kommen darf - das Wichtigste ist, dass zu den immergleichen Bratwürsten, Fußballspielen und Filmen wieder alle dabei sind. Das Rezept hat Vorteile: Nirgendwo sonst bekommt man einen so präzisen Querschnitt von Seelen- und Stimmungslage des deutschen Kinoschaffens geboten, nur hier, unter über 30 einheimischen Film- und Fernsehproduktionen (plus 25 Kurzfilmen verschiedener Filmhochschüler) erkennt man gemeinsame Motive, erspürt die leider seltenen neuen Talente und bemerkt, wer wirklich aus dem Rahmen fällt.

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Vor allem war das auch diesmal wieder Christian Petzold. Im vorigen Jahr hatte hier DIE INNERE SICHERHEIT Deutschland-Premiere, inzwischen gewann der Film verdient den deutschen Filmpreis - eines der wenigen Werke von internationalem Niveau. Mit TOTER MANN weicht Petzold geschickt dem folgenden Erwartungsdruck aus: Eine ZDF-Produktion, die das Understatement nicht verdient hat, mit der man sie voreilig - und aufgrund gewisser, durch Erzählkonvention und 90-Minuten-Zeitrahmen erzwungener Kompromisse - zu "nur Fernsehen" herunterspielt. Denn der stille Psychothriller könnte und sollte leicht im Kino laufen: Zur Musik von Burt Bacharach geht es wieder um den Umgang mit Erinnerungen, die einen nicht loslassen, um unterschiedliche Formen von Besessenheit, gegen die alle Selbstbestimmung nicht ankommen kann. Nicht allein die chimärenhafte, von Nina Hoss wunderbar gespielte Hauptfigur erinnert an Hitchcocks Vertigo, wie sie sich zur Projektionsfläche von zwei Männern entwirft, und trotzdem lange eine Art Kontrolle behält; auch die blass-künstliche Farbgebung, die Symmetrie der klaren, konzentrierten Bilder, in denen Petzold die Zuschauer auf Distanz hält, ohne sie unbeteiligt werden zu lassen, machen TOTER MANN zu einem kleinen Meisterwerk, das das Wichtigste hat, was große Filme brauchen - ein Geheimnis.

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Das ließ sich sonst nur von den wenigsten deutschen Produktionen sagen. Am ehesten noch von JEANS, dem Regiedebüt der Schauspielerin Nicolette Krebitz. Zugegeben, auch der Kritiker hat es bestimmt nicht erwartet, war eher mit dem Gefühl ns Kino gegangen: Muss die Krebitz jetzt auch noch Regie führen? Sieht ja gut aus, kann hervorragend spielen (erinnert sein hier noch einmal an ihre grandios-komödiantische Rolle im sonst vollständig missglückten BANDITS), aber selber Filme machen?
Doch dann bot Krebitz - ganz im Gegensatz zu ihrem Kollegen Bernd Michael Lade, der mit seinem chaotischen NULL UHR 12 zur Eröffnung uninteressant gescheitert war - einen Film, der wie TOTER MANN im Zweifelsfall einfach ruhig bleibt, wo andere kurzatmig einen Einfall an den anderen setzen.

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JEANS ist ein Film, der keine Geschichte erzählt, sondern schöne junge Leute in zumeist photographisch-ruhigen Einstellungen beim Rumhängen, Labern und Anbaggern beobachtet, fragmentarisch, mit Fehlern, aber auch von einer Intensität, die man in den meisten deutschen Filmen vergeblich sucht. Ambient-Music wird gespielt, Rainald Goetz tritt als wandelndes Selbstzitat auf, aber der Pool, an dem die zeitgenössischen Pop-Literaten sich gern räkeln, bleibt hier leer - und darum gelingt JEANS, der unprätentiöser ist, als er auf manch' gestandenen älteren Kritiker in Hof gewirkt hat: Denn Krebitz, deren Film man durchaus mit dem Godard-Spruch illustrieren könnte, ein Film müsse einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, "aber nicht notwendig in dieser Reihenfolge", erliegt nicht der Illusion, die Unschuld der Nouvelle Vague - "Rausgehen und Filme drehen" zitiert auch Badewitz gern Hofer Gründungsmythen - einfach wiederholen zu können. JEANS illustriert im Gegenteil einen Verlust der Unschuld, der sich nur ganz zögernd durch Experimentierfreude überwinden lässt - und bei alldem ist es ein caprisonnenfrisches Stück Pop-Kino geworden, mit dem man wie mit seiner Lieblingsplatte gern 90 Minuten verbringt.

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Ein Wort zu den in der Regel außerordentlich geschätzten Kollegen (keine Namen hier, aber man muss nur ein paar Hofberichte guter Zeitungen nachlesen): Wir alle schauen uns ja 'mal Filme auf Videocasette an, weil sie aufs Festivalende programmiert sind, weil man vorab 'sichten' muss, weil man nicht alles sehen kann, aber doch irgendwie alles sehen will, weil es manchmal 'nicht anders geht'. Und uns allen zuckt da auch der Finger an die Vorspultaste, wenn uns etwas langweilt, wenn wir nicht weiterkommen - aber das Beispiel JEANS zeigt dann doch, zu welch ungerechtem Umgang das führen kann. Da wird ein immerhin fürs Fernsehen produzierter Film wie der von Petzold auf der großen Leinwand gezeigt - was er sehr gut verträgt, was seine Qualität nur sichtbarer macht - und die gleichen Leute, die zu recht von TOTER MANN schwärmen, gucken JEANS am Vormittag danach auf Casette, kommen nicht rein, spulen vor, und schämen sich noch nicht einmal, sondern reduzieren das alles, da auf DV gedreht, auf "Homevideo". Dabei ist JEANS, wenn irgendetwas, ein Film, der Zeit und Ruhe braucht, die Dunkelheit des Kinos, nicht das grelle Licht des Morgenkaters.

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Wer alles sehen will, muss aber auch leiden. Sven Taddickens Debüt MEIN BRUDER, DER VAMPIR möchte genau das sein, was JEANS tatsächlich ist: Jung und unverbraucht, zitatreich, cool und mutig. Es klappt aber nicht. Herausgekommen ist ein hysterischer Film, über den der Regisseur die Kontrolle verloren hat - weil er nicht weiß, was er zwischen allen formalen Einfällen erzählen soll, weil er infantil zwar irgendwie von Sex handelt, aber von welchem, der halb besinnungslos in einer bunten Bonbonhäuschenkindheit zwischen Gimmicks, Draculakostüm und Spielzeugeisenbahn (nicht) stattfindet, weil er das Thema Behindertensex nur als Vorwand, aber keinen Moment ernst nimmt, weil er sich zwischen drei Hauptfiguren nicht entscheiden will, wem die Aufmerksamkeit gilt, weil er sich traut wieder ein weises kluges Mädchen zu zeigen, das wieder einmal permanent aus dem Off die Welt erklärt und mit einer Videokamera herumläuft (was wohl heißen soll, dass sie die Welt irgendwie distanziert und daher nicht richtig wahrnimmt, und wohl auch etwas mit Film im Film zu tun hat), weil die Unsicherheit der Hauptfiguren Taddickens eigene ist, ohne dass er dazu steht. Und wie in vielen deutschen Produktionen wird die Pubertät zum Fluchtort für Regisseure, die offenbar nicht richtig erwachsen werden wollen.

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Der aktuelle Trend heißt Inzest. Schon in Christian Zülberts LAMMBOCK kaschierte man mit diesem Einfall vor allem, dass den Autoren der dramaturgische Ausweg fehlte. Bei Taddicken liegen die drei Geschwister am Schluß nackt im eigenen Bettchen, zwischen Spielzeugbahn und zerstobenen Träumen finden sie ihr Glück im Kokon des Daheim. Als Tragödie finden wir das Gleiche in Thomas Stillers DIE WUNDE. Ein Familiendrama von archaischem Ausmaß: Querschnittsgelähmte Mutter, vor 20 Jahren mit kaum geborener Tochter vom Vater verlassen. Psychotische Tochter (gespielt von einer herausragenden Alexandra Schalaudek, dem einzigen Lichtblick des Films), die, nun erwachsen, dem Vater nachspürt, ihn, ohne sich zu erkennen zu geben, als Bartänzerin im Rotlichtmilieu kennenlernt, der inzwischen als kühler Manager in den Herrschaftszentralen der Hochfinanz arbeitet. Die Zuschauer werden Zeuge, wie dieser Mikrokosmos implodiert. Doch auch wenn Regisseur Stiller vielleicht eine Art bürgerliches Melodrama im Stile Fassbinders vorgeschwebt haben mag, dann weicht er doch dort, wo dieser die Verhältnisse entlarvt, indem er sie kühl an ihren eigenen Widersprüchen zugrundegehen lässt, in Sentimentalität aus - verschiebt seinen Stoff ins bloß Private, Emotionale, Moralisierende.
Dabei begegnet die Tochter auch Papas Sohn aus zweiter Ehe; ohne zu wissen, um wen es sich handelt - Inzest als (letztlich doch folgenlose) Tragödie. Und so bleibt eben in Hof wirklich alles in der Familie.

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MEIN BRUDER, DER VAMPIR war einer jener Filme, die in Hof mit jeder Bratwurst schlechter wurden. Anderen ging es umgekehrt. Etwa DER GLANZ VON BERLIN, ein neugieriger Dokumentarfilm über drei Putzfrauen, der seine Figuren weder bloßstellt, noch verkitscht, der ihnen Raum gibt, und dem es darin gelingt, plötzlich Situationen von fast unerträglicher Offenheit zu zeigen. Ein großer kleiner Film von Antje Kruska und Judith Keil, die beide nicht an der Filmhochschule studiert haben.

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Zu weiterer Standortbestimmung hilft auch der Vergleich mit anderen Ländern. Zu den besten ausländischen Filmen gehörte Ray Lawrences LANTANA. Midlife-Crisis im australischen Sidney, unter der Oberfläche des Alltäglichen lauert die Gefahr, die wir alle kennen: Das alles ganz anders wird, das alles so bleibt, wie es ist. Die Kamera begleitet eine Handvoll Menschen, alle so erwachsen, dass es Zeit wird, etwas zu unternehmen, wenn man die Dinge noch ändern will.
Die Psychoanalytikerin Valerie, äußerlich selbstbewusst, innerlich gebrochen. Ihre Tochter wurde vor zwei Jahren ermordet, sie hat ein Buch geschrieben, in dem sie hilflos versucht, den Tod zu bewältigen. Ihre Ehe ist unglücklich. Und den ganzen Tag über hört sie sich in ihrer Praxis die Geschichten von anderen unglücklichen Ehen an. Zum Beispiel von Sonja, deren Verhältnis zu ihrem Mann Leon zunehmend kühler wird. Dieser Leon, wiederum, Polizist in der Mordkommission, steht im Zentrum der Geschichte. Ihn lernt man am besten zu verstehen, erkennt seine Beweggründe und begreift seine Midlife-Crisis, die ihn zu einer kurzen Affaire mit Jane führt, die im gleichen Salsa-Kurs ist wie Sonja.
Hinter allen Lebenslügen ist der Zwang, der Wahrheit ins Auge zu sehen, ganz nahe. Eines Tages verschwindet jemand, und Leon, der Polizist, der schon bisher durch seine Ehekrise im Zentrum stand, beginnt zu ermitteln, Stellvertreter des Zuschauers und (Selbst-)Aufklärer in einem... Ruhig, mit langem Atem und einer Intensität, die irgendwo zwischen Ang Lees EISSTURM und den Filmen Michael Winterbottoms angesiedelt ist, gelingt Lawrence ein berührender, kühl-gefühlvoller, "europäischer" Film, in dem sich Thriller und Beziehungsdrama vermischen.

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Vor allem sah man viele Österreicher, neben Ulrich Seidels in Venedig ausgezeichnetem HUNDSTAGE auch Paul Harathers neuen Film ARABESKEN UM FROSCH, ein herrlich-boshaftes Kammerspiel und ein Beleg für das Potential der neuen digitalen Techniken.

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Das reine Glück des Kinos liegt im Vergessen. In der Neuheit der ersten Bilder, in denen man sich als Zuschauer ganz dem Regisseur überlässt, dem Geheimnis, das er einem enthüllen wird, und von dem man hofft, dass es das eigene Leben verändert. Die besten Filme sind die, die sich diesen Geist des Anfangens bewahren, die immer wieder den Zauber des Augenblicks beschwören, in denen alles möglich war, für die Zuschauer, aber vor allem für die Regisseure - eine Utopie bestimmt. Denn vielleicht kann man erst wirklich neu anfangen, wenn man alles kennt.

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Auch Mike Figgis kennt alles, aber das genügt ihm nicht. "Guten Abend, gute Nacht" klingt das bekannte Lied mehr als einmal durch seinen neuen Film HOTEL. Und eine der Hauptfiguren ist ein Regisseur, der im Wachkoma liegt - was vielleicht mehr Regisseuren passiert, als man glaubt. Auch das Wachkoma haben wir schon einmal in Hof gesehen: In JEANS liegt eine junge Frau im Krankenhaus, ein Freund besucht sie, und liest ihr vor, unter anderem Houellebecq. Aber auch das weckt sie nicht auf. Aber ein bisschen ist Kino, vor allem das spontane, digitale, ja auch wie Wachträumen. Und die modernsten Filme sind in manchem die ältesten.

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HOTEL ist ein genialer Wurf. Er spielt ausschließlich in Venedig, vor allem im alten Hotel "Hungaria" auf dem Lido, einem der magischen Orte auch des Filmfestivals. Hier dreht ein Filmteam eine Kino-Version von John Websters Renaissance-Drama "The Duchess of Malfi" im "Dogma"-Stil. Begleitend wird eine Dokumentation über die Arbeiten ebenfalls im Dogma-Stil gedreht. Und auch Figgis eigene Bilder ähneln mit seiner Handkamera, die ganz nah und unmittelbar an die Figuren herangeht, jenen der Dänen. Eines Tages unternimmt der Produzent einen Anschlag auf den Regisseur, der im Wachkoma überlebt. Und andere Hotelgäste verschwinden. Immer mehr scheint die blutig-apokalyptische Handlung von Webster ihre Rückwirkung zu entfalten.
Film im Film im Film - das Atemberaubende von HOTEL liegt gerade in der Mischung auch hochreflexiver Klugheit und der Tatsache, dass Figgis wirklich neue Bilder zeigt. Wo andere lange Kamerafahrten einsetzen, um ihre Handlung wieder zu bündeln, Ruhepausen zu finden, da gebraucht er den Splitscreen, der vier Handlungen gleichzeitig zeigt und kombiniert. Zudem gelingt es Figgis, der kaum Gagen bezahlen kann, viele interessante, schöne Schauspieler - unter anderem Salma Hayek, Lucy Liu, Chiara Mastroianni, Julian Sands, John Malkovitch - in sein Projekt zu integrieren. Wenn es eine Form gibt, in der der Aufbruchsgeist, in dem einst auch die Hofer Filmtage begannen, auch in die Zukunft fortgesetzt wird, dann hier.

Rüdiger Suchsland

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