Hirtenreise ins dritte Jahrtausend
Erich Langjahr, Schweiz 2002
"Jetzt komm ich wieder in den Hirtentrott", sagt
Thomas Landis, Schäfer aus Passion. Nach ein paar Wochen
mit Frau und Kindern ist er nun mehrere Monate unterwegs.
Es ist Winter und seine Schafe sehen aus wie schmuddelige
Flokatis. Schnee verkrustet den dichten Pelz und baumelt in
großen Klumpen um die mümmelnden Mäuler. Drei
Hunde und zwei Esel leisten Landis Gesellschaft und natürlich
die Schafe. Wanderhirten gibt es nicht mehr viele in der Schweiz,
und so besucht ihn ab und zu eine wissbegierige Schulklasse
oder auch eine Radioreporterin, die ihn als lebendes Relikt
einer verschwindenden Epoche interviewt. "Wird ihnen
denn nie langweilig?", fragt die Frau. Die Frage löst
bei Thomas pures Unverständnis aus. In der Natur gibt's
schließlich immer was zu entdecken.
Mit Hirtenreise ins dritte Jahrtausend legt der Schweizer
Dokumentarfilmer Erich Langjahr nach Sennenballade (1996)
und Bauernkrieg (1998) den letzten Teil seiner Trilogie über
den Bauernstand vor. Während Sennenballade dem bäuerlichen
Alltag nachspürt und Bauernkrieg die Technisierung der
Agrarwirtschaft beschreibt, zeigt Hirtenreise einen der ältesten
Berufe der Menschheit als Kontrapunkt zur modernen Welt. Langjahr
selbst wäre gerne Bauer geworden. Bis ihm klar wurde,
dass zu diesem Beruf das Töten gehört. So ist er
also Filmemacher geworden und nähert sich dem Objekt
seiner Leidenschaft mit der Kamera. Ohne die gemeinschaftsstiftende
Liebe zum Ursprünglichen hätte er seinen weltabgeschiedenen
Protagonisten wohl auch nicht so nah auf die Pelle rücken
können.
Diese tiefe Verbundenheit wird in den langen, ruhigen Einstellungen
spürbar. Kontemplative Bilder von Tieren in der alpinen
Landschaft und Menschen, die ganz urwüchsige Arbeiten
verrichten. Trotz der stillen Bilder ist Hirtenreise sicher
kein romantischer Film. Der Hirtenjob ist Knochenarbeit. Während
der Sommermonate melken Landis und seine Frau täglich
mehrere Stunden die Ziegen, "bis die Finger schmerzen
und voller Blasen sind". Auf seinen winterlichen Wanderungen
muss er stundenlang in bitterer Kälte ausharren, bis
die Schafe unter der Schneedecke genug zu fressen gefunden
haben. Landis Ausrüstung ist auf das Nötigste reduziert.
Statt eines modernen Hightechzelts genügt ihm eine schwere
Plane zum Schutz vor der Witterung, statt auf einem Propangaskocher,
köchelt er sein Süppchen in einem rußgeschwärzten
Topf über offenem Feuer. Landis größter Traum
ist es, mit seiner Familie nach Chile auszuwandern und dort
das einfache Leben zu führen, das hierzulande immer mehr
verschwindet. "Ich bin nicht sicher, ob ich dazu noch
den Mut habe oder die Kraft", sagt er.
Sein jüngerer Kollege Michel Cadenazzi hat sich etwas
luxuriöser eingerichtet. Per Hubschrauber hat man ihm
einen Wohnwagen auf die Sommeralm geschafft. "Hier bin
ich mein eigener Boss" erklärt Cadenazzi seine Bereitschaft,
monatelang in selbstgewählter Abgeschiedenheit zu hausen.
Neben der Nähe zur Natur ist es vor allem das Gefühl
von Freiheit, das diese Menschen dazu bewegt, allerlei Entbehrungen
auf sich zu nehmen. Weder Landis noch Cadenazzi stammen aus
Bauernfamilien. Sie haben sich bewusst für einen Beruf
entschieden, der sie an die Grenzen der Belastbarkeit führt.
Doch wer die Erfahrung gemacht hat, dass er zum Leben nicht
viel mehr braucht, als Schlafsack und wasserfeste Plane, bei
dem haben die Alltagssorgen neurotischer Stadtbewohner keine
Chance.
Vaterland
Thomas Heise, Deutschland 2002
Irgendwo in der sachsenanhaltischen Provinz: Die kleine Ortschaft
liegt im Windschatten einer verlassenen Armeebasis. Seit die
Russen abgezogen sind, ist die Zeit stehen geblieben. Die
Wiedervereinigung ist hier nie angekommen. Man raucht F6,
trinkt Clubcola und Wodka. "Lieber zehn Russen als einen
Wessi", sagt Otti, dessen Kneipe gesellschaftlicher Umschlagplatz
des Dorfes ist. Der Lebensradius der Dorfbewohner beträgt
nur ein paar Kilometer. "Ich fahr höchstens mal
zum Fröscheteich," sagt Moni, eine Hausfrau mit
raspelkurzen Haaren und Nasenpiercing.
In einem Ort wie diesem wird selbst die Einweihung des Gemeindehauses
zum Event. Dass die Russen weg sind, bedauert man, damals
war wenigstens noch etwas los im Dorf. Moni fand vor allem
die Offiziersfrauen cool. "Die haben gesoffen wie die
Kerle". Heute bleiben zur Unterhaltung nur der Schnaps
und das Trompetenduo Rita und Klaus. Hingebungsvoll spielen
sie "Heitschibumbeitschi". Klaus trägt ein
Nicolauskostüm, Rita gibt mit güldener Lockenperücke
ein überaltertes Christkind. Ansonsten schlägt man
sich so durch, und wartet auf eine ungewisse Zukunft. "Ich
muss noch zwei Jahre irgendwie aushalten", sagt Volker,
ein alleinerziehender Vater, dessen Frau schon das Weite gesucht
hat. Sobald sein Jüngster aus der Schule ist, will er
auch raus aus dem Dorf, ins Leben zurück. Moni flüchtet
sich derweil in trotzige Akzeptanz. "Ich bin froh, dass
ich hier bin", sagt sie, "glücklich brauch'
ich nicht sein."
Eine endlose Kamerafahrt über die Betonmauern eines
Hangars zeigt abblätternde Farbe in wechselnden Graunuancen.
An einem Ort, der so wenig Zukunftsperspektiven bietet, wird
die Zeit transparent für die Vergangenheit. Und so wird
der Film zur archäologischen Spurensuche. Da sind Briefe
von Heises Vater Wolf, aus einer Zeit, als die Armeebasis
als Arbeitslager fungierte. Da sind die Kriegsgeschichten
der Dorfbewohner. Erinnerungen an die Russen.
Für Heise ist dies bereits der dritte Anlauf für
einen Film, den er bereits zu DEFA-Zeiten drehen wollte. Sein
hartnäckiges Festhalten an dem Projekt wurde belohnt:
Vaterland erhielt die silberne Taube des Leipziger Filmfests.
Vier Wochen lang haben Heise und sein Team sich bei Dorfbewohnern
einquartiert. Einen Dorfgasthof gibt es nicht. Doch so richtig
warm scheint die Mannschaft mit den Gastgebern nicht geworden
zu sein. Der alte Otti ließ sich nur ungern filmen.
"Das sind ganz neue Kameraprobleme, die sind nicht technischer
Art, sondern moralischer", sagt Kameramann Peter Badel.
Wer das Objektiv auf Menschen hält, wandelt auf einem
schmalen Grat zwischen größtmöglicher Nähe
und Respekt vor der Intimsphäre. Der Balanceakt gelingt
Heise nicht immer, das macht die Entscheidung der Jury, die
ihm in Leipzig die Silberne Taube verlieh, problematisch.
Erbarmungslos rückt die Kamera die Jogginghose ins Bild,
schweift über das grausliche Interieur. Und so fühlt
sich der Zuschauer von Zeit zu Zeit wie in einem Kuriositätenkabinett.
Um dem zu entgehen, gibt es nur einen sicheren Weg. "Man
muss die Menschen gern haben", sagt Gerd Kroske, ein
alter Kollege aus DEFA-Tagen, "das ist das ganze Geheimnis".
Neun gute Zähne (Nine Good Teeth)
Alex Halpern, USA 2002
"Steckt mich einfach in eine Kiste und lasst mich von
diesen kleinen Viechern auffressen", sagt die Nana. Sie
ist uralt und was sie zu Beerendigung tragen will, weiß
sie schon lange: einen grünen Seidenfummel mit vielen
Schleifen und Spitzen. Ob sie denn an den Himmel glaubt und
die Hölle, will Filmemacher Alex Halpern, Nanas Enkel,
wissen. "Hältst Du mich für einen Trottel?",
fragt die gute Katholikin indigniert: "Wir sterben und
wir werden zu Staub - das ist alles."
1899 wurde sie als Tochter einer Einwandererfamilie in Brooklyn
geboren. Bei ihrer ersten Reise in die sizilianische Heimat
prophezeite ihr eine Zigeunerin, sie werde mit 96 Jahren sterben.
"Wenn Du noch den Film über mich machen willst,
musst Du Dich beeilen", hat Nana gesagt, als es soweit
war. Und so nahm der Filmemacher das lang geplante Projekt
in Angriff...
Halpern filmt und filmt: Nana, wie sie ihre vielen Geburtstagskerzen
auspustet. Nana beim Reinigen ihres Gebisses. Nana beim Wühlen
in der Schublade mit Erinnerungsstücken und Photos: Tausende
von Bildern hat sie gehortet, Momentaufnahmen eines langen
Lebens. Sie selbst als Kleinkind, später, geschmückt
wie eine Braut im Kommunionskleidchen und als spitzbübische
junge Frau. Später, in den 30er Jahren, beginnen die
Familienerinnerungen zu laufen. Nanas Mann war ein unermüdlicher
Hobbyfilmer - ein seltener Glücksfall für diesen
Film. So kann man sie als lebenslustige junge Frau erleben,
schaut ihren Kindern beim Aufwachsen zu.
Zu jedem Bild, zu jeder Filmrolle gibt es eine Geschichte.
Und wenn der geliebte Enkel ihr richtig auf die Pelle rückt,
packt die resolute Dame auch aus. Sie berichtet wie das damals
war mit ihrer Mutter und Jack Keruac, der dann auf offener
Straße erschossen wurde. Wie sie selbst von ihrem Mann
betrogen wurde, und ihre Nebenbuhlerin zur Rede stellte. Und
wie sie ihrerseits fast ihren Mann mit einem Verehrer betrog,
dem sie 30 Jahre später noch einmal begegnete. Liebe
und Verrat, Mord und Tod, keine Facette menschlichen Schicksals
hat diese grandiose alte Dame verpasst. Und so verdichtet
sich das Porträt einer Frau, deren Courage, Weisheit
und Lebensfreude noch heute so präsent sind wie vor hundert
Jahren.
Als der Film fertiggestellt ist, ist Nana 103 Jahre alt.
"Außen bin ich alt aber innerlich fühle ich
mich noch blutjung", sagt sie vergnügt. Selbst gegen
die Prophezeiungskraft einer Zigeunerin scheint diese quicklebendige
Greisin immun.
Dim Sum (A Little Bit of Heart)
Jane Wong, Großbritannien 2002
"Wenn Du einen Affen heiratest, musst Du mit ihm in
die Berge", lautet ein chinesisches Sprichwort. Und so
sitzen drei Exilchinesinnen in einem kleinen Laden in Liverpool
und machen Dim Sum, köstlich gefüllte Teigtaschen.
Während der Arbeit plaudern sie freimütig über
den Sinn des Lebens, kleine und große Sorgen und das
Leben in einem fremden Land. Dim Sum heißt frei übersetzt
soviel wie "Ein kleines Stück vom Herzen",
und genau das geben die drei Frauen großzügig preis.
Wah So, die älteste, spricht kaum ein Wort Englisch.
"Ich fühle mich wie ein Invalide", sagt sie,
"taub, stumm und blind". Taub, weil sie nichts versteht,
stumm, weil sie mit den Menschen nicht reden kann und blind,
weil sie nirgendwo hingehen kann. Linda, die jüngste
des resoluten Trios, hat die Nase voll von der Sprachlosigkeit
und besucht eifrig einen Englischkurs. Dennoch bleibt die
Kommunikation im Alltag hürdenreich, denn mit der Aussprache
hapert es. So wird der Erwerb eines Gummibaums zu einer komischen
Herausforderung. "Ich glaube, der Verkäuferin haben
wir gerade den letzten Nerv geraubt", grinst Linda nach
erfolgreich abgeschlossener Transaktion.
Jane Wong hat den Laden ihrer Mutter Marietta ins Zentrum
ihres Films gerückt. Ein Chinaimbiss als Mikrokosmos
des Emigrantenlebens.
Mrs. Wong ist eine bemerkenswerte Frau, die kein Blatt vor
den Mund nimmt. Im Gespräch zwischen Mutter und Tochter
zeigt sich, wie weit sich die Werte innerhalb einer Generation
von Ost nach West verlagert haben. Während Jane nach
künstlerischer Selbstverwirklichung strebt, setzt Marietta
auf Ehe, Familie und Pflichterfüllung. In China sieht
man die Welt pragmatisch. "Für die Menschen aus
dem Westen ist Sex das Wichtigste, für die Chinesen das
Essen", erklärt Marietta Wong, belustigt. In Südchina
fragt man zur Begrüßung statt "Wie geht's?"
- "Hast du schon gegessen?". Mit vollem Bauch ist
jede Katastrophe nur noch halb so schlimm.
Trotz kleiner und großer Tragödien wird viel gelacht
in diesem hinreißend erfrischenden Film. Das Geheimnis
der drei Damen scheint zwar simpel, ist aber schwer zu leben:
Statt auf das große Glück zu warten, genügt
ihnen ein Moment Zufriedenheit. Und die stellt sie sich schon
ein, wenn man gemütlich in Mariettas Hinterzimmer zusammenhockt,
schwatzt und einen Berg Dim Sum vorbereitet.
Sturm im Wasserglas (Remue-Ménage)
Fernand Melger, Schweiz 2002
"Kannst du dir das vorstellen: Papa im Bikini?"
fragt der Kleine seinen Bruder. Und dann kichern die beiden
Jungen um die Wette.
Pascal und Carole führen eine liebevolle Ehe, haben
vier Kinder und leben in einem kleinen Dorf in der französischen
Schweiz. Pascal arbeitet als Autoschlosser. Bei der Geburt
seiner Tochter ist er dabei: Alles ganz normal. Bis auf eine
Kleinigkeit: Pascal trägt gern Frauenkleider. Und so
stöckelt er manchmal im Minirock durch den Ort, die langen
Nägel rot lackiert. Die Kinder finden es eher cool, dass
der Papa schrille Klamotten trägt und trotzdem so starke
Muckies hat. Seine Frau hat die Vorliebe ihres Mannes akzeptiert,
berät ihn kichernd bei der Kleiderauswahl. Nur manchmal
verzweifelt sie an den Reaktionen der Nachbarn. Daran, dass
einige nicht kommen, wenn sie sie zu einer Party einladen.
Im Ort gibt es so manchen, der ein Problem mit der Familie
hat. Allen voran die Mutter von Pascal, die sich um das Wohlergehen
der Enkelkinder sorgt. Kurzerhand hat sie die Familie ihres
Sohnes angezeigt. Und so haben Pascal und Carole nun eine
Untersuchung am Hals, ob denn der "unnatürliche"
Lebenswandel des Paares den Kindern schadet.
"Ich habe mich sofort in die beiden verliebt",
erzählt Fernand Melgar. Ein Jahr lang, von der Geburt
ihrer Tochter bis zu deren erstem Geburtstag, begleitet der
Regisseur die Familie durch den Alltag. Nach und nach kippt
die Perspektive: Erstaunlich ist nicht mehr Pascal, der mit
seinen rotlackierten Fingern Automotoren wuchtet, sondern
seine Umwelt, die daran Anstoß nimmt.
Gemeinsam mit seiner Frau kämpft er um das Recht, sein
eigenes Leben zu führen, wirbt um Verständnis oder
wenigstens um Respekt. Und so zieht zur Weihnachtszeit neben
Santa Claus auch eine Weihnachtsfrau durch die Straßen
des Städtchens. Statt des Bartes trägt die Weihnachtsfrau
knallroten Lippenstift. Die Kinder haben ihren Spaß
an den Geschenken, bis ein Ordnungshüter dem Treiben
ein Ende macht. Anweisung von Oben.
Ein anderes Mal tritt das Paar in einer französischen
Talkshow auf. Pascal in einem eleganten Kleid, erzählt
freimütig von der Normalität ihrer Beziehung. Als
die Sendung ausgestrahlt wird, läuft in der Dorfkneipe
der Fernseher. Pascal hält eine kleine Ansprache, sucht
anschließend das Gespräch mit den Gästen.
In solchen Sequenzen zeigt sich das eigentlich Außergewöhnliche
dieser Geschichte: die unerschütterliche Freundlichkeit
dieses Mannes, seine Toleranz und seine Kraft. Was Pascal
wiederfahren ist, wäre genug, um an den Menschen zu verzweifeln.
Seine Mutter, die ihn einst ins Heim abschob und ihm nun die
Fähigkeit abspricht, seinen Kindern ein guter Vater zu
sein. Die erste Ehe mit einer Frau, die mit seinem eigenen
Vater ein Kind gezeugt hat. Die Ablehnung seiner Mitbürger.
Mit Pascal lernen wir einen außergewöhnlichen Menschen
kennen, eine starke Seele. Es ist, als hätte er sich
einfach noch einmal ganz neu erfunden, um die Vergangenheit
abzuschütteln. Gerüstet mit Lippenstift und Wimperntusche
gelingt es ihm, trotz der tiefen Verletzungen nicht bitter
zu werden. Und er gibt nicht auf.
Fitfty Fifty
Neelesha Barthel, Deutschland 2002
"Seit ein paar Jahren ist Kinderkriegen wieder irgendwie
cool", sagt Celine. Und so hat sie sich mit ihrem Freund
Dirk Hals über Kopf ins größte Abenteuer des
Lebens gestürzt. Fifty Fifty hieß damals der Deal,
Babysitting durch zwei. Jetzt ist der kleine Jannik da, die
Liebe der Eltern zuende und das mit dem Fifty-Fifty haut so
richtig nicht hin. Auch bei ihrer besten Freundin Naty ist
mit Exfreund Rafi in ständige Scharmützel um Söhnchen
Noah verstrickt. Unter der Oberfläche jedes Gespräches
köcheln noch Eifersucht und alte Verletzungen, die das
Tauziehen um jedes Stück Freiheit zusätzlich verkomplizieren.
"Die Kommunikation klappt nicht, weil wir uns beide als
Opfer sehen", beschreibt Dirk die vertrackte Konstellation.
Neelesha Barthel ist mit ihrem ersten Film eine hinreißende
Dokukomödie gelungen. Sie begleitet ihre temperamentvollen
Freundinnen durchs alltägliche Chaos zwischen Windelnwechseln,
Job und Nightlife, das die beiden jungen Mütter mit Humor
und Selbstironie entschärfen. Wenn Rafi mal wieder zu
spät zur Kindsübergabe aufkreuzt oder seinen vegetarisch
ernährten Sohn mit Hackfleisch füttert. Wenn eine
Wespe im Nuckelfläschchen schwimmt, oder der Apfelsaft
nicht mehr ganz koscher ist. "Mensch Celine, du solltest
Aufkleber an die Flaschen machen, wo drauf steht Seit einer
Woche schlecht oder so", stöhnt Naty in komischer
Verzweiflung und programmiert der Freundin die Nummer vom
Giftnotruf ins Telefon.
Jenseits allen Gelächters und der erfrischenden Unbekümmertheit
deckt Barthel behutsam auch ernste Töne auf. "Manchmal
bin ich total unglücklich, weil ich meinem Sohn nicht
die Stabilität geben kann, die ich ihm geben möchte",
bekennt Naty an einer Stelle. In solchen Momenten schlägt
sie sich die Nacht um die Ohren, um vor ihren Selbstzweifeln
zu fliehen. Doch wer ein Kleinkind allein groß zieht,
dem bleibt zur Nabelschau nicht viel Zeit.
"Schimpf Du mit ihm, ich kann grad nicht mehr",
stöhnt Naty, als Noah lässig seinen Teller auf den
Boden schubst. Celine schimpft ein bisschen, der Ordnung halber.
Und dann lachen sich die beiden schlapp. Solange man noch
über sich selbst lachen kann, ist das größte
Chaos halb so wild.
Nani Fux
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