Deutschland 2001, Regie: Andres Veitel
Montag, 18.11.2002, 22.50 Uhr bei arte
Die Black Box ist ein Konstrukt. Ein fiktiver Kasten, von
dem man lediglich weiß, welchen Input er erhält
und was anschließend als Ergebnis ausgespuckt wird.
Was im Inneren des Systems passiert, bleibt im dunklen.
Vieles bleibt auch im dunklen im Film von Andres Veiel. War
der RAF-Terrorist Wolfgang Grams an dem Anschlag auf Alfred
Herrhausen, den Sprecher der Deutschen Bank, beteiligt? Was
passierte während Grams Zeit im Untergrund? Beging er,
als er 1993 in eine Polizeifalle geriet, tatsächlich
Selbstmord?
Statt detektivische Spurensuche zu betreiben hat Veiel sich
daran gemacht, die Porträts zweier Männer zu zeichnen,
die für gegensätzliche Pole der Gesellschaft standen.
Im Koordinatenkreuz ihrer Lebenslinien entsteht nach und nach
ein Bild der Bundesrepublik jener Tage.
Da ist Alfred Herrhausen, Jahrgang 1930, der in einer NSDAP-Eliteschule
gedrillt wurde, "Der Herr des Geldes", wie der Spiegel
titelte, einer der mächtigsten Männer des Landes.
Für die RAF ist er eine Symbolfigur des Schweinesystems.
Auf der anderen Seite der zwanzig Jahre jüngere Wolfgang
Grams, der zum letzten Aufgebot der Roten Armee Fraktion gehört,
ein Mann, der forderte, man müsse genug hassen können,
um einen Feind mit bloßer Hand zu erwürgen.
In Gesprächen mit Herrhausens Witwe Traudel, den Eltern
Grams und Weggefährten der beiden Toten bricht Veiel
die Fronten auf. Hinter den Schablonen werden nach und nach
die Menschen sichtbar.
Grams ist nicht nur der radikale Verfechter einer erbarmungslosen
Ideologie, er ist zugleich einer, der den Wehrdienst verweigerte,
weil er sich nicht vorstellen konnte, sich zu bewaffnen. Ein
noch immer geliebter Sohn, der seinen kleinbürgerlichen
Eltern aus dem Untergrund ein selbstgesticktes Bild mit Tieridyll
schickt.
Herrhausen wiederum ist nicht nur kühler Karrierist,
sondern auch ein charmanter Lebemann, der mit Juchhe im Bonanzastil
reitet. Ein Visionär, der die Unabwendbarkeit der Globalisierung
erkennt und vehement für eine ungeheuerliche Forderung
eintritt: die Entschuldung der Dritten Welt. Der radikale
Umstrukturierungen fordert und mit seinen Ideen auf heftigsten
Widerstand stößt.
Die Brüche in den Persönlichaktien enthüllen
frappierende Berührungspunkte zwischen den beiden Männern.
Währe nicht der immer noch gängige Kleidercode,der
Anzugträgern und Strickpulligenossen separiert, könnte
man aus dem Blick verlieren, von wem gerade die Rede ist.
Herrhausen und Grams - zwei ideologische Autokraten, denen
nach und nach die Weggefährten abhanden kamen. Grams
Gesinnungsgenossen werfen sich noch heute vor, nicht genügend
Konsequenz gehabt zu haben, um ihm zu folgen. Und auch Herrhausen
bleibt allein, weil seine Kollegen nicht Schritt halten können.
Und so sterben beide ideologischen Kontrahenten in Momenten
großer Einsamkeit. "Er hat Menschen vermisst, die
mit ihm mitgezogen sind", sagt Traudel Herrhausen über
ihren Mann. "Die Bedenkenträger hat er gehasst."
Nach seiner letzten Sitzung sagt Herrhausen zu seiner Frau,
"Ich weiß nicht, ob ich das überlebe"
- und meint es beruflich. Tags darauf ist er tot, eine Tragödie,
auf die neben Entsetzen auch sicher auch geheime Erleichterung
folgte.
Deutschland hat offenbar noch lange nicht abgeschlossen mit
diesem Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Mit den Zeiten, in
der heutige Amtsträger in Straßenschlachten mit
der Polizei verwickelt waren, in denen ein Funktionsträger
wie Herrhausen stets einen Brief in der Nachttischschublade
aufbewahrte, in dem er schreibt, man möge im Falle seiner
Entführung nicht auf erpresserische Forderungen eingehen.
Heute reicht die Distanz, um sich an eine Aufarbeitung zu
wagen. Der Film hat den Nerv des Publikums getroffen: Mehr
als 100.000 Menschen sahen ihn bislang im Kino - für
einen Dokumentarfilm ein grandioses Ergebnis. Der Erfolg dieser
Dokumentation, wie auch der von Spielfilmen wie Die Stille
nach dem Schuss oder die Innere Sicherheit sprechen für
sich. Der Kampf ist vorbei, aber die Wunden sind noch nicht
vernarbt.
Black Box, so heißt auch der Flugschreiber, der nach
einem Absturz Aufschluss über die Ursachen der Katastrophe
gibt. Im Falle des Deutschen Herbstes hat man sie bis heute
nicht gefunden.
Nani Fux
|