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30.01.2003
 
 
       

Körper/Kino

Neue Filmliteratur zu Identitäts-, Gender- und Körperdiskursen
 
 
Cronenbergs VIDEODROME
   
 
 
 
 

Die Gender Studies sind nun endgültig im Kino angekommen. Während noch vor einigen Jahren die feministische Filmtheorie die Inszenierung der Frau im Kino als männliches Schau- und Lustobjekt verurteilte, kontern die Filmwissenschaftlerinnen von heute mit der These, dass auch der Mann auf der Leinwand schon immer ein Objekt der Begierde gewesen sei.

Bereits 1926 - so berichten Horst und Kleis im Vorwort ihres Sammelbandes "Göttliche Kerle" - führte der Tod des Frauenschwarms Rudolph Valentino zu einem öffentlichen Aufruhr von 50.000 weiblichen Fans. Heute sind es zum Beispiel Tom Cruise, Ewan McGregor, Johnny Depp, George Clooney oder natürlich Brad Pitt, die in ihrer Leinwandpräsenz zu "göttlichen Kerlen" hochstilisiert werden. Kriterien der Bewertung sind jedoch nicht mehr ausschließlich ihr Mut, ihr Kampfgeist oder ihre moralische Integrität, sondern nunmehr auch ihr Waschbrettbauch, ihr Knackarsch und ihre Brustmuskulatur.

Mit der "Erotisierung der Filmhelden", so Horst und Kleis, "geht gleich zweifach eine 'Feminisierung' des Mannes einher. Er muss nicht mehr nur seine Leinwandabenteuer, sondern auch den Body-Check bestehen." Der Sammelband "Göttliche Kerle" begibt sich aus weiblicher Perspektive auf die Spuren dieser Traumtypen oder gar "Sexgötter" des zeitgenössischen Kinos und sortiert die Versatzstücke des Mythos von der männlichen Einmaligkeit. Denn mit dem Einzug der Postmoderne ins Kino wurden vielfältige neue Diskurse eröffnet, die sich um die Fragen von Identität(en) zentrieren.

Körper-Inszenierungen werden in nie zuvor gekannter Intensität zelebriert, man denke nur an die Körper-Obsession des Protagonisten in AMERICAN PSYCHO, die rituellen Kämpfe in FIGHT CLUB oder die Umwandlung des männlichen Körpers zum seriellen Kunstwerk in BETTLEKTÜRE. Doch die Untersuchungen des Sammelbandes stoßen noch tiefer vor und behandeln im Kapitel "Body Parts" vom Penis über die Lippen, den Po und die Beine sämtliche Körperteile, die den Mann zum Objekt der Begierde werden lassen können. Der schriftlichen Argumentation werden dankenswerterweise - wie bei Bertz üblich - etliche visuelle Anschauungsmöglichkeiten in Form von Einzelbildern und Bildsequenzen an die Seite gestellt.

Dies gilt auch für eine weitere Neuerscheinung des selben Verlags, die unter dem Titel "wo/man" die Beiträge des 7. Internationalen Bremer Symposion zum Film bündelt. Der Schwerpunkt ist hier etwas anders gelagert, denn es geht hier nicht ausschließlich um den (weiblichen) Blick auf den Mann bzw. den männlichen Körper, sondern allgemeiner um die Frage nach dem Beitrag des Kinos zur Konstruktion von Identität.

Im Fokus steht dabei die Frage nach den Geschlechterverhältnissen und den Veränderungen und Brüchen der Geschlechterrollen im Publikumsfilm der 90er Jahre und seinen filmischen Vorläufern. Elisabeth Bronfen untersucht beispielsweise den Zusammenhang von männlichen Halluzinationen und weiblicher Vernunft in EYES WIDE SHUT und FIGHT CLUB. Die Protagonistinnen der beiden Filme stützen und stören gleichzeitig die Einbildungen ihres männlichen Gegenübers und sind am Ende der einzige Weg aus ihren Wahnvorstellungen.

Mit einer faszinierenden Trilogie von Lætitia Masson, einer wichtigen Vertreterin des Jeune Cinéma Français, beschäftigt sich der Aufsatz von Sabine Nessel. Die Filme EN AVOIR (OU PAS), A VENDRE und LOVE ME kreisen um den "Dreiklang des Lebens: Geld, Arbeit, Liebe" (Masson) und erzählen davon, was passiert, wenn das Gleichgewicht dieser Pole sich in eine Schräglage verwandelt. Identität wird zur "Identität", das Kino zum Medium ihrer Dekonstruktion. Die behandelten Themen und Filme des Sammelbandes sind zu zahlreich, um sie alle zu nennen, "wo/man" ist aber in jedem Fall ein wichtiger Beitrag zur Schließung der Leerstelle Kino und Identität im Rahmen der deutschsprachigen Filmliteratur.

Die Postmoderne hat offensichtlich nicht nur die feministische Filmwissenschaft zu einer kritischen Reflexion ihrer Klassiker - z.B. Laura Mulveys Theorie der drei männlich kodierten Blickachsen - inspiriert, sondern rehabilitiert offensichtlich auch lange ignorierte und unterschätzte Regiewerke. David Cronenberg war den Filmwissenschaftlern über Jahrzehnte hinweg kaum eine Fußnote wert, doch die Popularität der Gender Studies verhilft ihm nun offenbar allmählich zu der verdienten Aufmerksamkeit. So beschäftigen sich gleich zwei Beiträge in "wo/man" mit dem Film M. BUTTERFLY, der Frankfurter Film- und Medienkritiker Manfred Riepe widmet dem Kanadier gar eine ganze Monographie aus psychoanalytischer Perspektive.

Für ihn ist Cronenbergs Œuvre ein kalkulierter Grenzgang zwischen Genre- und Autorenfilm, eine Synthese aus Greenaway und Lynch, aus europäischer und amerikanischer Filmkunst. Cronenberg-Filme stehen im Zeichen des Konflikts der rationalistisch determinierten Ordnung der Wissenschaft, Medizin, Industrie und der triebhaft determinierten Ordnung des menschlichen Körpers.

Als Ergebnis und Konsequenz dieses Konflikts bietet uns der Regisseur jedoch nicht den in Hollywood favorisierten Sieg der Ratio, sondern eine befremdende Synthese der beiden Ordnungen, die sich im Begriff des "New Flesh" (vgl. VIDEODROME) manifestiert. Die klassische Ästhetik des Wahren, des Guten und des Schönen transformiert sich hier in hybrider Mischung mit dem Möglichen, Bösen und Hässlichen zu ganz neuen Darstellungsformen. Auslöser des Chaos sind - so stellt Riepe fest - meistens Frauen, die jeweiligen Katastrophen ereignen sich in Folge der sexuellen Begegnung der Geschlechter. Dies ist natürlich ein idealer Ansatzpunkt für eine psychoanalytische Lektüre, zumal sich Cronenberg explizit als Kenner von Freud ausweist und man in vielen seiner Filme auf die ödipale Familienkonstellation stößt.

Riepe legt Cronenberg nicht auf die Couch, sondern bringt ihn mit Lacan in den Dialog, wobei seine allgemein verständliche Sprache sowohl dem psychoanalytisch wie dem am Kino interessierten Leser einen fundierten Zugang zum filmischen Universum des David Cronenberg eröffnet. Das Buch "Bildgeschwüre" beleuchtet somit das neue Körperbewusstsein des zeitgenössischen Kinos aus ganz anderer Perspektive als die Bände "Göttliche Kerle" und "wo/man", sie alle sind jedoch Dokumente einer sehr begrüßenswerten Belebung des Filmbuchmarkts.

Michael Staiger

Sabine Horst / Constanze Kleis (Hrsg.):
Göttliche Kerle. Männer - Sex - Kino
Berlin (Bertz Verlag). EUR 19,90
352 Seiten, 715 Fotos. ISBN 3-929470-22-5

Christine Rüffert / Imbert Schenk u.a. (Hrsg.): wo/man. Kino und Identität
Berlin (Bertz Verlag). EUR 14,90
188 Seiten, 190 Fotos. ISBN 3-929470-13-6
weitere Informationen unter www.bertz-verlag.de

Manfred Riepe:Bildgeschwüre. Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs
Bielefeld (transcript Verlag). EUR 24,80
223 Seiten, 41 Fotos, ISBN 3-89942-104-3
weitere Informationen unter www.transcript-verlag.de

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