Die Gender Studies sind nun endgültig im Kino angekommen.
Während noch vor einigen Jahren die feministische Filmtheorie
die Inszenierung der Frau im Kino als männliches Schau-
und Lustobjekt verurteilte, kontern die Filmwissenschaftlerinnen
von heute mit der These, dass auch der Mann auf der Leinwand
schon immer ein Objekt der Begierde gewesen sei.
Bereits 1926 - so berichten Horst und Kleis im Vorwort ihres
Sammelbandes "Göttliche Kerle" - führte
der Tod des Frauenschwarms Rudolph Valentino zu einem öffentlichen
Aufruhr von 50.000 weiblichen Fans. Heute sind es zum Beispiel
Tom Cruise, Ewan McGregor, Johnny Depp, George Clooney oder
natürlich Brad Pitt, die in ihrer Leinwandpräsenz
zu "göttlichen Kerlen" hochstilisiert werden.
Kriterien der Bewertung sind jedoch nicht mehr ausschließlich
ihr Mut, ihr Kampfgeist oder ihre moralische Integrität,
sondern nunmehr auch ihr Waschbrettbauch, ihr Knackarsch und
ihre Brustmuskulatur.
Mit der "Erotisierung der Filmhelden", so Horst
und Kleis, "geht gleich zweifach eine 'Feminisierung'
des Mannes einher. Er muss nicht mehr nur seine Leinwandabenteuer,
sondern auch den Body-Check bestehen." Der Sammelband
"Göttliche Kerle" begibt sich aus weiblicher
Perspektive auf die Spuren dieser Traumtypen oder gar "Sexgötter"
des zeitgenössischen Kinos und sortiert die Versatzstücke
des Mythos von der männlichen Einmaligkeit. Denn mit
dem Einzug der Postmoderne ins Kino wurden vielfältige
neue Diskurse eröffnet, die sich um die Fragen von Identität(en)
zentrieren.
Körper-Inszenierungen werden in nie zuvor gekannter
Intensität zelebriert, man denke nur an die Körper-Obsession
des Protagonisten in AMERICAN PSYCHO, die rituellen Kämpfe
in FIGHT CLUB oder die Umwandlung des männlichen Körpers
zum seriellen Kunstwerk in BETTLEKTÜRE. Doch die Untersuchungen
des Sammelbandes stoßen noch tiefer vor und behandeln
im Kapitel "Body Parts" vom Penis über die
Lippen, den Po und die Beine sämtliche Körperteile,
die den Mann zum Objekt der Begierde werden lassen können.
Der schriftlichen Argumentation werden dankenswerterweise
- wie bei Bertz üblich - etliche visuelle Anschauungsmöglichkeiten
in Form von Einzelbildern und Bildsequenzen an die Seite gestellt.
Dies gilt auch für eine weitere Neuerscheinung des selben
Verlags, die unter dem Titel "wo/man" die Beiträge
des 7. Internationalen Bremer Symposion zum Film bündelt.
Der Schwerpunkt ist hier etwas anders gelagert, denn es geht
hier nicht ausschließlich um den (weiblichen) Blick
auf den Mann bzw. den männlichen Körper, sondern
allgemeiner um die Frage nach dem Beitrag des Kinos zur Konstruktion
von Identität.
Im Fokus steht dabei die Frage nach den Geschlechterverhältnissen
und den Veränderungen und Brüchen der Geschlechterrollen
im Publikumsfilm der 90er Jahre und seinen filmischen Vorläufern.
Elisabeth Bronfen untersucht beispielsweise den Zusammenhang
von männlichen Halluzinationen und weiblicher Vernunft
in EYES WIDE SHUT und FIGHT CLUB. Die Protagonistinnen der
beiden Filme stützen und stören gleichzeitig die
Einbildungen ihres männlichen Gegenübers und sind
am Ende der einzige Weg aus ihren Wahnvorstellungen.
Mit einer faszinierenden Trilogie von Lætitia Masson,
einer wichtigen Vertreterin des Jeune Cinéma Français,
beschäftigt sich der Aufsatz von Sabine Nessel. Die Filme
EN AVOIR (OU PAS), A VENDRE und LOVE ME kreisen um den "Dreiklang
des Lebens: Geld, Arbeit, Liebe" (Masson) und erzählen
davon, was passiert, wenn das Gleichgewicht dieser Pole sich
in eine Schräglage verwandelt. Identität wird zur
"Identität", das Kino zum Medium ihrer
Dekonstruktion. Die behandelten Themen und Filme des Sammelbandes
sind zu zahlreich, um sie alle zu nennen, "wo/man"
ist aber in jedem Fall ein wichtiger Beitrag zur Schließung
der Leerstelle Kino und Identität im Rahmen der deutschsprachigen
Filmliteratur.
Die Postmoderne hat offensichtlich nicht nur die feministische
Filmwissenschaft zu einer kritischen Reflexion ihrer Klassiker
- z.B. Laura Mulveys Theorie der drei männlich kodierten
Blickachsen - inspiriert, sondern rehabilitiert offensichtlich
auch lange ignorierte und unterschätzte Regiewerke. David
Cronenberg war den Filmwissenschaftlern über Jahrzehnte
hinweg kaum eine Fußnote wert, doch die Popularität
der Gender Studies verhilft ihm nun offenbar allmählich
zu der verdienten Aufmerksamkeit. So beschäftigen sich
gleich zwei Beiträge in "wo/man" mit dem Film
M. BUTTERFLY, der Frankfurter Film- und Medienkritiker Manfred
Riepe widmet dem Kanadier gar eine ganze Monographie aus psychoanalytischer
Perspektive.
Für ihn ist Cronenbergs uvre ein kalkulierter
Grenzgang zwischen Genre- und Autorenfilm, eine Synthese aus
Greenaway und Lynch, aus europäischer und amerikanischer
Filmkunst. Cronenberg-Filme stehen im Zeichen des Konflikts
der rationalistisch determinierten Ordnung der Wissenschaft,
Medizin, Industrie und der triebhaft determinierten Ordnung
des menschlichen Körpers.
Als Ergebnis und Konsequenz dieses Konflikts bietet uns der
Regisseur jedoch nicht den in Hollywood favorisierten Sieg
der Ratio, sondern eine befremdende Synthese der beiden Ordnungen,
die sich im Begriff des "New Flesh" (vgl. VIDEODROME)
manifestiert. Die klassische Ästhetik des Wahren, des
Guten und des Schönen transformiert sich hier in hybrider
Mischung mit dem Möglichen, Bösen und Hässlichen
zu ganz neuen Darstellungsformen. Auslöser des Chaos
sind - so stellt Riepe fest - meistens Frauen, die jeweiligen
Katastrophen ereignen sich in Folge der sexuellen Begegnung
der Geschlechter. Dies ist natürlich ein idealer Ansatzpunkt
für eine psychoanalytische Lektüre, zumal sich Cronenberg
explizit als Kenner von Freud ausweist und man in vielen seiner
Filme auf die ödipale Familienkonstellation stößt.
Riepe legt Cronenberg nicht auf die Couch, sondern bringt
ihn mit Lacan in den Dialog, wobei seine allgemein verständliche
Sprache sowohl dem psychoanalytisch wie dem am Kino interessierten
Leser einen fundierten Zugang zum filmischen Universum des
David Cronenberg eröffnet. Das Buch "Bildgeschwüre"
beleuchtet somit das neue Körperbewusstsein des zeitgenössischen
Kinos aus ganz anderer Perspektive als die Bände "Göttliche
Kerle" und "wo/man", sie alle sind jedoch Dokumente
einer sehr begrüßenswerten Belebung des Filmbuchmarkts.
Michael Staiger
Sabine Horst / Constanze Kleis
(Hrsg.):
Göttliche Kerle. Männer - Sex - Kino
Berlin (Bertz Verlag). EUR 19,90
352 Seiten, 715 Fotos. ISBN 3-929470-22-5
Christine Rüffert / Imbert
Schenk u.a. (Hrsg.): wo/man. Kino und Identität
Berlin (Bertz Verlag). EUR 14,90
188 Seiten, 190 Fotos. ISBN 3-929470-13-6
weitere Informationen unter www.bertz-verlag.de
Manfred Riepe:Bildgeschwüre.
Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs
Bielefeld (transcript Verlag). EUR 24,80
223 Seiten, 41 Fotos, ISBN 3-89942-104-3
weitere Informationen unter www.transcript-verlag.de
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