Es liegt in der Natur der Sache, dass Filmkritiker nie so
ganz einer Meinung sind. Auch der neue Film von Martin Scorsese,
GANGS OF NEW YORK, spaltet die Kritiker (und Filmfans) in
zwei Lager, die sich aber nur vordergründig uneins sind.
Während die einen in GANGS... tendenziell einen großartigen
Film mit einigen Fehlern sehen, ist er für die anderen
ein mittelmäßiges Werk mit ausdrücklichen
Stärken. Eine endgültige Wahrheit über die
Qualität dieses Films gibt es natürlich nicht, doch
fast alle Kritiken haben zumindest eines gemeinsam; sie scheinen
ein eindeutiges (wenn auch subjektives) Urteil vermeiden zu
wollen.
Von einem "Prunkstück", einem "Bilderbogen"
und einem "Opus Magnum" (was nicht zwangsläufig
ein qualitatives Urteil ist) ist stattdessen die Rede, die
beeindruckendsten Teilaspekte werden ausgiebig erläutert
(z.B. die Detailtreue, die Kameraarbeit oder die Schauspielleistung
von Daniel Day Lewis) und großen Raum nimmt in beinahe
allen Kritiken die Entstehungsgeschichte des Films, die Nacherzählung
der Handlung und, daraus ableitend, die Erläuterung der
historischen Fakten, sowie der Verweis auf gesellschaftliche
und tagespolitische Anspielungen und Kommentare, ein.
Bezeichnend auch das Vorgehen der Wochenzeitung Die Zeit,
die der Filmkritik eine halbe Spalte widmet, einem Interview
mit Martin Scorsese dagegen eine ganze Seite.
Die vorliegende Widersprüchlichkeit ist nicht neu (durch
das Ausmaß des Films und dem Rummel darum nur augenfälliger
als sonst), denn schon lange besteht das Paradox, dass Scorsese
als einer der ganz großen Regisseure und filmisches
Genie gilt, in den letzten zwanzig Jahren (mit Ausnahme von
GOODFELLAS) aber keiner seiner Film eine durchgehend positive
Kritik erhalten hat (was anderen Regisseuren wie den Coen-Brüdern
oder Lars von Trier dagegen regelmäßig gelingt),
gleichzeitig die negativen Kommentare dazu aber immer sehr
zurückhaltend, beinahe widerwillig waren.
Woran liegt das? Wie kann man als Genie gelten, ohne entsprechend
gute Kritiken zu bekommen?
Polarisieren Scorseses Filme zu sehr? Wirkt immer noch die
Begeisterung für seine frühen Meisterwerke von MEAN
STREETS über TAXI DRIVER zu RAGING BULL nach? Liegt es
an der Sympathie für den bedingungslosen Cinemaniac,
Filmarchäologen und Kinosüchtigen Martin Scorsese,
der für seine uneingeschränkte Hingabe an das Kino
von den Filmfans und
-kritikern geliebt, bewundert und beneidet wird?
Oder gibt es vielleicht einen ganz anderen Grund? Ein kleiner
Exkurs ist hier notwendig.
Im Jahre 1989 gab der amerikanische Rockkritiker Dave Marsh
zu denken, dass eine Schwäche der Musikkritik darin bestehe,
dass sie ausschließlich Langspielplatten bespreche und
dadurch musikalische Meilensteine, die nur als Singles zu
Ruhm gelangten, übersehe. Um es nicht bei trockener Theorie
zu belassen, stellte er (sich der Problematik seines Vorhabens
durchaus bewußt) eine Liste der besten "1001 Rock
and Soulsingles ever made" auf (nachzulesen unter www.rocklist.net/dmarsh_1001.htm).
Die Überlegung von Dave Marsh zeigte kaum Auswirkungen
auf die allgemeine Musikkritik, die nach wie vor ausschließlich
Alben bespricht. Aber läßt sich der grundsätzlich
richtige Gedanke von Marsh nicht auch auf den Film übertragen?
Im ersten Moment erscheint das unsinnig. Ein einzelnes Lied
einer Schallplatte zu bewerten geht sicher, aber einzelne
Szenen eines Films? Unmöglich. Ein Film ist ein geschlossenes
Werk, mit einer durchgehenden Handlung, einer Struktur, einem
zusammenhängenden Erzählstrang, der sich nicht stückweise
begutachten läßt.
Andererseits: Was bleibt von den großen Werken der Filmgeschichte
im persönlichen bzw. allgemeinen kulturellen Gedächtnis
letztendlich zurück? Wirklich der ganze Film und seine
Handlung oder doch "nur" die Dusche aus PSYCHO,
das Auge aus dem ANDALUSISCHEN HUND, die Schneekugel aus CITIZEN
KANE, die Treppe aus PANZERKREUZER POTEMKIN?
Drängt sich der Blick auf einzelne Szene nicht geradezu
auf, wenn man bedenkt, dass kein Kunstwerk so viel Fremdeinfluss,
auch gegen den ausdrücklichen Willen des Regisseurs,
ertragen muss, wie ein Film und dass der wichtige Endschnitt,
oft nicht in der Hand des Filmemachers liegt? Die Gerüchte
um die Entstehung von GANGS OF NEW YORK kann man hierfür
ebenso als Beispiel anführen, wie das Werk von Orson
Welles, der als einer der größten Regisseure aller
Zeiten gilt, obwohl er nach eigenen Bekundungen, Zeit seines
Lebens nur zwei Film nach seinen Vorstellungen und zu seiner
Zufriedenheit zu Ende bringen konnte.
Wagt man also das Experiment und betrachtet GANGS OF NEW
YORK im Hinblick auf seine einzelnen Szenen, erkennt man tatsächlich,
worin die wahre Genialität Scorseses besteht. GANGS...
hat, wie alle seine anderen Filme auch, diese Szenen, die
sich einem unweigerlich ins Gehirn brennen. Dabei geht es
nicht nur um visuelle Schönheit oder technische Raffinesse;
das können viele Regisseure (bzw. Kameramänner).
Diese Szenen bei Scorsese sind mehr, sie sind eindringliche,
quälende, verstörende, wunderschöne, abstoßend
häßliche oder kurz gesagt, magische Momente.
Das müssen keineswegs die großen, fulminanten
Szenen sein, sondern auch in kleinen Einstellungen, etwa wenn
Bill the Butcher in GANGS... vor einem Feuerwerk steht oder
wenn Amsterdam äußerst knapp eine Herausforderung
ausspricht, die Bill ebenso knapp annimmt, steckt ein Berg
von Filmgeschichte(n) und Bezügen, steckt mehr Aussage
als in zwanzig Minuten Dialog, steckt alles was Film ausmacht,
was Film sein kann, sein soll, sein muss.
Diese einzelnen Szenen (die oft auch in den Kritiken minuziös
geschildert werden) sind es, die vor allem die Brillanz Scorseses
ausmachen, die in wenigen Minuten mehr echtes Kino vermitteln,
als manch anderer in einem ganzen Film und die auch dann bestehen,
wenn der gesamte Film Schwächen hat.
Es ist schwer zu erklären, was diese Momente wirklich
ausmacht, was sie so besonders sein läßt. Doch
aus irgendeinem Grund vergißt man diese Bilder nie wieder,
etwa Harvey Keitel mit der Hand über einer Kirchenkerze
in MEAN STREETS oder De Niro im Hexenhäuschen in CAPE
FEAR oder Sharon Stone am Spieltisch in CASINO oder Jerry
Lewis mit Klebeband gefesselt in KING OF COMEDY oder das vorbeiziehende
Boot aus ZEIT DER UNSCHULD oder der bedrohliche Polizist aus
BRINGING OUT THE DEAD oder oder oder... Nicht zu vergessen,
den Inbegriff dieser cineastischen Wunderwerke und eine der
Filmikonen schlechthin, die nach fast 400 Jahre, den wohl
meist zitierten und parodierten Satz "To be or not to
be" durch ein "Are you talking to me?" ablöste.
Scorseses Talent für das Szenische verwundert um so
weniger, wenn man seine Arbeitsweise betrachtet oder ihn einfach
erzählen läßt (z.B. im Buch "Scorsese
on Scorsese" oder in den Dokumentarfilmen MEINE ITALIENISCHE
REISE und A PERSONAL JOURNEY WITH MARTIN SCORSESE THROUGH
AMERICAN MOVIES).
Sein Interesse gilt natürlich ganzen Filmen, doch seine
Leidenschaft gehört einzelnen Szenen, egal ob sie aus
Werken des italienischen Neorealismus oder aus einem B-Western
stammen. Mit einer unglaublichen Emphase beschreibt und erklärt
er solche Szenen und nimmt sie sich als konkrete Vorlagen
für seine Filme (auch seinen Kameramännern empfiehlt
Scorsese zur Vorbereitung auf die Dreharbeiten das Studium
dieser Szenen). Akribisch plant er jede Einstellung seiner
Filme, fertigt umfangreichste, sehr präzise Storyboards
an und kämpft bis zum Äußersten, um jede Szene
so umzusetzen, wie er es für richtig hält.
Das alles soll nun nicht heißen, dass Scorsese kein
narratives Talent besitzt. Seine Filme erzählen durchaus
komplette, interessante Geschichten und hangeln sich nicht
nur von einer virtuosen Plansequenz zur anderen (wie man etwa
bei Brian De Palma manchmal den Eindruck hat). Für eine
schlüssige Handlung sorgen zudem die großartigen
Drehbuchautoren, mit denen er seit jeher zusammenarbeitet.
Scorsese Problem ist nicht, dass er ein schlechter, sondern
dass er ein maßloser Erzähler ist. Es genügt
ihm nicht, eine Gruppe, eine Gang, eine Bevölkerungsschicht
zu zeigen. Er durchleuchtet sie, ihre Rituale, ihre Gesetze,
ihre Lebensweise, bis ins kleinste Detail hinein. Das ist
faszinierend, kostet aber auch enorm viel Zeit, die ihm dann
an anderer Stelle fehlt, weshalb er sich immer wieder in die
(filmisch nicht besonders elegante) Lösung eines Off-Kommentars
retten muss und am Schneidetisch aus über vier Stunden
hingebungsvoll inszeniertem Material, weniger als drei Stunden
fertigen Film machen muss; eine Aufgabe, die kaum ohne Unstimmigkeiten
zu lösen ist.
Auch GANGS OF NEW YORK leidet an diesem Konflikt zwischen
ausufernder Beschreibungs- und Fabulierlust und stringenter
Handlung, doch ist dieser Widerspruch zu lösen?
Welche Szene sollte man herauszunehmen, um die Handlung zu
straffen, ohne den Film eines faszinierenden Teils zu berauben?
Ist das Pathos einiger Szenen zu vermeiden, ohne damit die
Stimmung des Films zu verändern? Wären ohne Scorseses
bedingungslose Detailbesessenheit die selben pittoresken Szenen
entstanden?
Es bleibt somit nur die Einsicht, dass GANGS OF NEW YORK
ein guter Film mit Fehlern ist, der aber einige magische,
brillante Momente bereithält. In einer an magischen (Film)Momenten
armen Welt, Grund genug, sich den Film anzusehen.
Michael Haberlander
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