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27.02.2003
 
 
       

On the Scene
Martin Scorsese und die Schwierigkeit einer kritischen Bewertung

 
 
DiCaprio und Scorsese
   
 
 
 
 

Es liegt in der Natur der Sache, dass Filmkritiker nie so ganz einer Meinung sind. Auch der neue Film von Martin Scorsese, GANGS OF NEW YORK, spaltet die Kritiker (und Filmfans) in zwei Lager, die sich aber nur vordergründig uneins sind. Während die einen in GANGS... tendenziell einen großartigen Film mit einigen Fehlern sehen, ist er für die anderen ein mittelmäßiges Werk mit ausdrücklichen Stärken. Eine endgültige Wahrheit über die Qualität dieses Films gibt es natürlich nicht, doch fast alle Kritiken haben zumindest eines gemeinsam; sie scheinen ein eindeutiges (wenn auch subjektives) Urteil vermeiden zu wollen.

Von einem "Prunkstück", einem "Bilderbogen" und einem "Opus Magnum" (was nicht zwangsläufig ein qualitatives Urteil ist) ist stattdessen die Rede, die beeindruckendsten Teilaspekte werden ausgiebig erläutert (z.B. die Detailtreue, die Kameraarbeit oder die Schauspielleistung von Daniel Day Lewis) und großen Raum nimmt in beinahe allen Kritiken die Entstehungsgeschichte des Films, die Nacherzählung der Handlung und, daraus ableitend, die Erläuterung der historischen Fakten, sowie der Verweis auf gesellschaftliche und tagespolitische Anspielungen und Kommentare, ein.
Bezeichnend auch das Vorgehen der Wochenzeitung Die Zeit, die der Filmkritik eine halbe Spalte widmet, einem Interview mit Martin Scorsese dagegen eine ganze Seite.

Die vorliegende Widersprüchlichkeit ist nicht neu (durch das Ausmaß des Films und dem Rummel darum nur augenfälliger als sonst), denn schon lange besteht das Paradox, dass Scorsese als einer der ganz großen Regisseure und filmisches Genie gilt, in den letzten zwanzig Jahren (mit Ausnahme von GOODFELLAS) aber keiner seiner Film eine durchgehend positive Kritik erhalten hat (was anderen Regisseuren wie den Coen-Brüdern oder Lars von Trier dagegen regelmäßig gelingt), gleichzeitig die negativen Kommentare dazu aber immer sehr zurückhaltend, beinahe widerwillig waren.

Woran liegt das? Wie kann man als Genie gelten, ohne entsprechend gute Kritiken zu bekommen?
Polarisieren Scorseses Filme zu sehr? Wirkt immer noch die Begeisterung für seine frühen Meisterwerke von MEAN STREETS über TAXI DRIVER zu RAGING BULL nach? Liegt es an der Sympathie für den bedingungslosen Cinemaniac, Filmarchäologen und Kinosüchtigen Martin Scorsese, der für seine uneingeschränkte Hingabe an das Kino von den Filmfans und
-kritikern geliebt, bewundert und beneidet wird?
Oder gibt es vielleicht einen ganz anderen Grund? Ein kleiner Exkurs ist hier notwendig.

Im Jahre 1989 gab der amerikanische Rockkritiker Dave Marsh zu denken, dass eine Schwäche der Musikkritik darin bestehe, dass sie ausschließlich Langspielplatten bespreche und dadurch musikalische Meilensteine, die nur als Singles zu Ruhm gelangten, übersehe. Um es nicht bei trockener Theorie zu belassen, stellte er (sich der Problematik seines Vorhabens durchaus bewußt) eine Liste der besten "1001 Rock and Soulsingles ever made" auf (nachzulesen unter www.rocklist.net/dmarsh_1001.htm).
Die Überlegung von Dave Marsh zeigte kaum Auswirkungen auf die allgemeine Musikkritik, die nach wie vor ausschließlich Alben bespricht. Aber läßt sich der grundsätzlich richtige Gedanke von Marsh nicht auch auf den Film übertragen?

Im ersten Moment erscheint das unsinnig. Ein einzelnes Lied einer Schallplatte zu bewerten geht sicher, aber einzelne Szenen eines Films? Unmöglich. Ein Film ist ein geschlossenes Werk, mit einer durchgehenden Handlung, einer Struktur, einem zusammenhängenden Erzählstrang, der sich nicht stückweise begutachten läßt.
Andererseits: Was bleibt von den großen Werken der Filmgeschichte im persönlichen bzw. allgemeinen kulturellen Gedächtnis letztendlich zurück? Wirklich der ganze Film und seine Handlung oder doch "nur" die Dusche aus PSYCHO, das Auge aus dem ANDALUSISCHEN HUND, die Schneekugel aus CITIZEN KANE, die Treppe aus PANZERKREUZER POTEMKIN?
Drängt sich der Blick auf einzelne Szene nicht geradezu auf, wenn man bedenkt, dass kein Kunstwerk so viel Fremdeinfluss, auch gegen den ausdrücklichen Willen des Regisseurs, ertragen muss, wie ein Film und dass der wichtige Endschnitt, oft nicht in der Hand des Filmemachers liegt? Die Gerüchte um die Entstehung von GANGS OF NEW YORK kann man hierfür ebenso als Beispiel anführen, wie das Werk von Orson Welles, der als einer der größten Regisseure aller Zeiten gilt, obwohl er nach eigenen Bekundungen, Zeit seines Lebens nur zwei Film nach seinen Vorstellungen und zu seiner Zufriedenheit zu Ende bringen konnte.

Wagt man also das Experiment und betrachtet GANGS OF NEW YORK im Hinblick auf seine einzelnen Szenen, erkennt man tatsächlich, worin die wahre Genialität Scorseses besteht. GANGS... hat, wie alle seine anderen Filme auch, diese Szenen, die sich einem unweigerlich ins Gehirn brennen. Dabei geht es nicht nur um visuelle Schönheit oder technische Raffinesse; das können viele Regisseure (bzw. Kameramänner). Diese Szenen bei Scorsese sind mehr, sie sind eindringliche, quälende, verstörende, wunderschöne, abstoßend häßliche oder kurz gesagt, magische Momente.

Das müssen keineswegs die großen, fulminanten Szenen sein, sondern auch in kleinen Einstellungen, etwa wenn Bill the Butcher in GANGS... vor einem Feuerwerk steht oder wenn Amsterdam äußerst knapp eine Herausforderung ausspricht, die Bill ebenso knapp annimmt, steckt ein Berg von Filmgeschichte(n) und Bezügen, steckt mehr Aussage als in zwanzig Minuten Dialog, steckt alles was Film ausmacht, was Film sein kann, sein soll, sein muss.
Diese einzelnen Szenen (die oft auch in den Kritiken minuziös geschildert werden) sind es, die vor allem die Brillanz Scorseses ausmachen, die in wenigen Minuten mehr echtes Kino vermitteln, als manch anderer in einem ganzen Film und die auch dann bestehen, wenn der gesamte Film Schwächen hat.

Es ist schwer zu erklären, was diese Momente wirklich ausmacht, was sie so besonders sein läßt. Doch aus irgendeinem Grund vergißt man diese Bilder nie wieder, etwa Harvey Keitel mit der Hand über einer Kirchenkerze in MEAN STREETS oder De Niro im Hexenhäuschen in CAPE FEAR oder Sharon Stone am Spieltisch in CASINO oder Jerry Lewis mit Klebeband gefesselt in KING OF COMEDY oder das vorbeiziehende Boot aus ZEIT DER UNSCHULD oder der bedrohliche Polizist aus BRINGING OUT THE DEAD oder oder oder... Nicht zu vergessen, den Inbegriff dieser cineastischen Wunderwerke und eine der Filmikonen schlechthin, die nach fast 400 Jahre, den wohl meist zitierten und parodierten Satz "To be or not to be" durch ein "Are you talking to me?" ablöste.

Scorseses Talent für das Szenische verwundert um so weniger, wenn man seine Arbeitsweise betrachtet oder ihn einfach erzählen läßt (z.B. im Buch "Scorsese on Scorsese" oder in den Dokumentarfilmen MEINE ITALIENISCHE REISE und A PERSONAL JOURNEY WITH MARTIN SCORSESE THROUGH AMERICAN MOVIES).
Sein Interesse gilt natürlich ganzen Filmen, doch seine Leidenschaft gehört einzelnen Szenen, egal ob sie aus Werken des italienischen Neorealismus oder aus einem B-Western stammen. Mit einer unglaublichen Emphase beschreibt und erklärt er solche Szenen und nimmt sie sich als konkrete Vorlagen für seine Filme (auch seinen Kameramännern empfiehlt Scorsese zur Vorbereitung auf die Dreharbeiten das Studium dieser Szenen). Akribisch plant er jede Einstellung seiner Filme, fertigt umfangreichste, sehr präzise Storyboards an und kämpft bis zum Äußersten, um jede Szene so umzusetzen, wie er es für richtig hält.

Das alles soll nun nicht heißen, dass Scorsese kein narratives Talent besitzt. Seine Filme erzählen durchaus komplette, interessante Geschichten und hangeln sich nicht nur von einer virtuosen Plansequenz zur anderen (wie man etwa bei Brian De Palma manchmal den Eindruck hat). Für eine schlüssige Handlung sorgen zudem die großartigen Drehbuchautoren, mit denen er seit jeher zusammenarbeitet.

Scorsese Problem ist nicht, dass er ein schlechter, sondern dass er ein maßloser Erzähler ist. Es genügt ihm nicht, eine Gruppe, eine Gang, eine Bevölkerungsschicht zu zeigen. Er durchleuchtet sie, ihre Rituale, ihre Gesetze, ihre Lebensweise, bis ins kleinste Detail hinein. Das ist faszinierend, kostet aber auch enorm viel Zeit, die ihm dann an anderer Stelle fehlt, weshalb er sich immer wieder in die (filmisch nicht besonders elegante) Lösung eines Off-Kommentars retten muss und am Schneidetisch aus über vier Stunden hingebungsvoll inszeniertem Material, weniger als drei Stunden fertigen Film machen muss; eine Aufgabe, die kaum ohne Unstimmigkeiten zu lösen ist.

Auch GANGS OF NEW YORK leidet an diesem Konflikt zwischen ausufernder Beschreibungs- und Fabulierlust und stringenter Handlung, doch ist dieser Widerspruch zu lösen?
Welche Szene sollte man herauszunehmen, um die Handlung zu straffen, ohne den Film eines faszinierenden Teils zu berauben? Ist das Pathos einiger Szenen zu vermeiden, ohne damit die Stimmung des Films zu verändern? Wären ohne Scorseses bedingungslose Detailbesessenheit die selben pittoresken Szenen entstanden?

Es bleibt somit nur die Einsicht, dass GANGS OF NEW YORK ein guter Film mit Fehlern ist, der aber einige magische, brillante Momente bereithält. In einer an magischen (Film)Momenten armen Welt, Grund genug, sich den Film anzusehen.

Michael Haberlander

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