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"Bitte, nehmen Sie doch eines" bettelt das Mädchen,
doch rüde weisen die Passanten es zurück, und die
paar Männer, die etwas freundlicher sind, wollen nur
das Eine. Bald wird die grässliche Kälte überhand
nehmen, das Mädchen wird sterben in einem Meer aus rosa
Schnee - und wieder auferstehen in einem Bildersturm aus Farben,
schnellen Schnitten, Popmusik und ironischem Witz: Hans Christian
Andersen trifft MATRIX in RESURRECTION OF THE LITTLE MATCH
GIRL, einem der besten Filme auf dem diesjährigen Fantasy-Filmfest:
Überraschende, ungesehene Bilder, ein überdrehter
Traum aus Farben und Einfällen. Der Koreaner Jang Sun-Woo
tauscht Streichhölzer mit bunten Feuerzeugen und versetzt
Andersens "Mädchen mit den Schwefelhölzern"
in eine Science-Fiction-Cyberwelt. Schein und Sein sind ununterscheidbar,
lösen einander hemmungslos ab, sodass der Zuschauer beim
ersten Sehen fast überfordert ist, aber zugleich bezaubert
wie selten. In seiner Mischung aus Poesie und Dynamik, neuester
Technik und klassischer Tradition ist der Film typisch für
das asiatische Kino der Gegenwart, dem dieses Festival seit
jeher ein besonders inniges Forum bietet.
Heute geht es los, zuerst für eine Woche in München,
dann wandert das Programm bis Ende August durch sieben deutsche
Städte. Im letzten Jahrzehnt hat sich das Fantasy-Filmfest
endgültig aus der Genre-Nische befreit, und zu einem
hochkarätigen Sommerfestival gemausert, dessen Programm
zumindest gleichwertig, in mancher Hinsicht weitaus besser
ist, als das vieler ortsgebundener Festivals. Immer wieder
bietet sich hier die Chance, Filme zu sehen, denen man später
- wenn überhaupt - allenfalls noch im Videoshop wiederbegegnet.
Schuld daran hat daran auch die Situation der deutschen Filmkultur
mit ihren zu wenigen Leinwänden, ihrem fehlenden Interesse
für Abseitiges und Unkonventionelles - in England, Spanien
und Frankreich finden nämlich viel mehr der hier gezeigten
Filme auch einen normalen Kino-Verleih. Um so schöner,
dass die Gründer Schorsch Müller und Rainer Stephan
und ihre Firma Rosebud hier in die Bresche springen. In diesem
Jahr, dem 17. des Festivals, wurde das Programm noch einmal
erheblich aufgestockt: Mit 73 Spiel- und neun Kurzfilmen zeigt
man 20 Prozent mehr Filme als in den Vorjahren, mit Nürnberg
ist ein siebter Spielort hinzugekommen. Fast wird diese Überfülle
zum Problem: Da das Programm weiterhin auf knapp acht Tage
zusammengepresst ist, gibt es kaum noch Wiederholungen, trotzdem
bis zu sieben Filme am Tag und dabei bittere Überschneidungen.
Denn auch für den Hardcore-Fan, der
sich eigens Urlaub nimmt, ist dieses Pensum nicht mehr zu
bewältigen.
Dies ändert nichts an der Qualität des Programms.
Besondere Perlen
garantiert dabei einmal mehr der "Focus Asia", der
diesmal 15 Filme
umfasst. Nicht versäumen sollte man neben RESURRECTION
OF THE LITTLE MATCH GIRL auf alle Fälle SYMPATHY FOR
MR. VENGEANCE, ebenfalls aus Korea, von Park Chan-Wook, der
hierzulande mit JOINT SECURITY AREA bekannt wurde. Der großartig-beklemmende
Film erzählt eine bittere Rachegeschichte um ein sympathisches
junges Paar, das sich aus Menschliebe in ein Verbrechen verstricken
lässt. Gute Motive und etwas Pech haben schlimme Konsequenzen
- auch für die beiden Wohlmeinenden. Erzählt in
lakonischen Bildern ist SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE eine stille
und intensive, filmisch sehr eindringliche Erfahrung - und
fast nebenbei ein präzises Portrait der innerlich gärenden
koreanischen Gegenwartsgesellschaft. Dass die Filme aus Korea,
dem derzeitigen Filmland Nummer Eins in Asien noch politischer
geworden sind, belegt auch TUBE von Baek Woon-Hak. Formal
handelt es sich bei diesem Genrefilm um eine wesentlich härtere,
überdrehtere Variante des Hollywood-Blockbusters SPEED:
Ein Terrorist entführt einen vollbesetzten U-Bahn-Zug,
in dem unter anderem der Bürgermeister von Seoul sitzt,
und rast mit ihm und einer Tonne TNT durch die Katakomben
der Hauptstadt. Bei aller Action und allem Mut zur Übertreibung,
dazu, die Handlungsschraube noch immer eine Wendung weiter
zu drehen, ist der Film zugleich gespickt mit politischen
Anspielungen, massiver Kritik der autoritären koreanischen
Strukturen und politischer Korruption. Eine chinesisch-koreanische
Co-Produktion ist Kim Sung-Su's MUSA, ein elegischer Martial-Arts-Kostümfilm,
der seine Zuschauer ins China des 14. Jahrhunderts führt.
Die Härte Peckinpahs verschmilzt mit der Schönheit
von HERO oder CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON, deren Hauptdarstellerin,
die hübsche Zhang Ziyi, auch hier in einer Hauptrolle
zu sehen ist. Erzählt wird von einer Gruppe Kämpfer,
einem "wild bunch", der verloren zwischen den Fronten
umherirrt. Als sie eine entführte Prinzessin befreien,
beginnt eine gnadenlose Hetzjagd. Vergleichsweise enttäuschend
ist dagegen GOZU, der neue Film von Takashi Miike (AUDITION).
Einmal mehr hat sich der japanische Provokateur der Yakuza,
der japanischen Mafia zugewandt, und begleitet den Höllensturz
eines Gangsters. Doch im Vergleich mit Miikes letzten Filmen
ICHI THE KILLER und GRAVEYARD OF HONOR hat der Regisseur nichts
Neues zu erzählen, erscheinen Provokation und Tabubruch,
mit denen sich Miike international einen Namen machte, zur
Pose geronnen - und überdies in schlampiger Bildsprache
inszeniert. Das Gegenteil ist bei CHIYOKO MILLENIUM ACTRESS
der Fall, dem neuen Anime von Satoshi Kon, dessen PERFECT
VLUE auch im Westen lief. Bezaubernd in seiner Poesie, atemberaubend
in seinen Bildern verfolgt der Film das Leben einer Schauspielerin,
die vor 30 Jahren spurlos verschwand, und bietet auf diese
Weise eine traumwandlerische Chronik des Nachkriegsjapan.
Eröffnet wird das Festival mit klassischem Hollywood:
John Cusack
spielt die Hauptrolle in James Magolds IDENTITY, der bald
ins Kino
kommt, einem intelligenten Thriller im Hitchcock-Stil. Wie
in PSYCHO
landen hier ein paar normale Menschen zufällig in einem
Hotel, in dem
ein Serienkiller sein Wesen treibt. Arbeit am Mythos in ganz
anderer
Weise praktiziert dagegen Wayne Kramers faszinierendes Debüt
THE
COOLER. Schauplatz ist Las Vegas, aber weder die Gangstermythen
von Scorsese und Beatty, noch das überdrehte Sex &
Drugs-Mekka eines Hunter S. Thompson ("Fear & Loathing
in Las Vegas") prägen den Blick, sondern kühle
Depression - die Wahrheit hinter dem Glamour. Im Zentrum steht
der wunderbare Auftritt William H. Macys: Er spielt den Pechvogel
Bernie, der seinen Spielschulden abträgt, indem er als
"Cooler" arbeitet, als fleischgewordene Depression,
die von den Casinos dazu eingesetzt wird, Spieler mit Glücksstränen
aus dem Konzept zu bringen. Doch eines Tages ist Bernie verliebt,
und seine Wirkung als "Cooler" lässt rapide
nach... Ebenfalls noch bei uns zu sehen sein dürfte Vincenco
Natalis CYPHER, in dem Lucy Liu, der
schönste Engel von Charlie, ein mysteriöses Cybergirl
spielt, dem
Jeremy Northam hilflos ausgesetzt ist - kein Wunder, sein
Gedächtnis
hat sich nämlich durch Gehirnwäsche in ein Chaos
aus Halluzinationen
verwandelt.
Man kann nur wiederauferstehen, wenn man sterben lernt -
wie das
"Little Match Girl" zur eiseskalten Außenwelt
bietet das Fantasy
Filmfest den Gegenpol zu einem Sommer, in dem teure Sequels
und andere überproduzierte Blockbuster mehr denn je um
die Gunst der Zuschauer betteln: Ein Feuerwerk, Kino als "True
Romance".
Rüdiger Suchsland
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