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18.12.2003
 
 
         

Kopfsprung ins Unterbewußte
Das Eieruhrprinzip im Schreibseminar mit Doris Dörrie

 
       
 
 
 
 

Das unerbittliche Ticken einer Eieruhr, die sich nach 5 Minuten lautstark bemerkbar machen wird. Dann gibt es keine Gnade mehr und jeder hat seinen Stift sofort fallen zu lassen.

Nicht innehalten, nicht korrigieren, "Mut zur Dummheit" und los geht´s .... Fertig ist Doris Dörries Schreibrezept für Jedermann, innerhalb kürzester Zeit Zugang zu seinem inneren Bilderfundus zu erlangen. Mit der Zauberformel "ich erinnere mich an...." öffnen sich die Pforten der Phantasie, und es wird mit möglichst kindlich-naivem Blick über den ersten Schultag, ein geliebtes Kleidungsstück oder ein verhasstes Essen munter drauflos geschrieben. Betrachtet man etwas von früher aus heutiger Sicht, neigt man zu ironischer Wertung oder Abstraktion. Das lässt Geschichten und ihre Protagonisten oft leblos erscheinen. Gelingt es, die Ursprünglichkeit eines Moments mit allen Sinnen wieder heraufzubeschwören, hat die Übung ihren Zweck erfüllt.

Sogar das Schriftbild verändert sich, nachdem man sich innerhalb der 5 oder 10 Minuten so nach und nach frei geschrieben hat: meist von krakelig-klein zu genießerisch-groß. Zu lesen, was da so aus einem hervorgebrochen ist, ist in der Tat ein Genuss. Wie durch ein Wunder zaubert die Erinnerung plötzlich aus einer zunächst entsetzlich banal erscheinenden Alltagssituation ein eigenwilliges Erlebnis mit charmantem Anekdoten-Charakter. Kratzige Wollstrumpfhosen oder gelbzähnige Musiklehrer-Drachen aus der Kindheit treiben die Gedanken entfesselt wie unstete Windböen in neue Richtungen und erwecken den blassen Nachbarsjungen ebenso wie das Verbrennen des Lieblingsschmusetiers beim Sonnwendfeuer wieder zum Leben. Alles scheint so unmittelbar wie nie und plastischer könnten die Schilderungen trotz des Zeitdrucks der Eieruhr - oder gerade deswegen - kaum sein. Nichts ist so unspektakulär, daß es nicht wert wäre, erzählt zu werden. Den inneren Kritiker ausschalten, heißt die Devise. Sich nicht langsam an Erlebtes heranpirschen, um stets aufs Neue dem inneren Schweinehund zu erliegen, der alles gern verdrängt und auf morgen vertagt. Man kann sich den eigenen Intellekt wie eine Wasseroberfläche vorstellen, die man durchbrechen muß. Es gilt, den Kopfsprung ins Unterbewußte zu wagen!

Die Wiederentdeckung der längst verloren geglaubten inneren Welten dient nicht nur als Grundlage des Schreibens in Bildern, sondern kann auch als Anregung zur Themenfindung dienen. Als Autor hat man zunächst oft nur eine sehr vage Vorstellung davon, was man eigentlich erzählen möchte. Langsam formt sich ein loses Geflecht aus Konflikten, Schauplätzen und Figuren. Doch wie finde ich meine Hauptfigur, ihr Ziel, ihre Biographie? Auch hier kann die Eieruhr die Rettung sein. Man überlegt sich genau, was man bereits über seine Hauptfigur weiß, wie ihr Umfeld definiert ist usw. Dann fühlt man sich so intensiv wie möglich in ihre aktuelle Situation innerhalb der Geschichte ein und entwirft nach gleichem "ich erinnere mich an..." - Prinzip ein Bildermeer für sie. Daraus können sich erstaunlich präzise Kindheitserfahrungen, Traumata, Neurosen oder ganz spezielle, prägende Erlebnisse ergeben. Das mag alles ein wenig nach Hokus Pokus klingen, ist aber eine ganz schlichte, praktische Übung, die allein als Hilfestellung gegen rationale Blockaden fungiert. Wenn man sich darauf wirklich einlässt und es schafft, loszulassen, funktioniert es wirklich. Wer zu viel denkt, hält seine persönlichen Lebenserfahrungen meist für zu banal, als daß er sie zu Papier bringen würde. Im Gegenteil ist individuell Erlebtes das hauptsächliche Erzählkapital eines jeden Autors. Die eigene Weltsicht zählt, und nur wer wagt, sie preiszugeben, wird herausfinden, ob sie sich auch für andere als interessant genug erweist. Baden gehen oder Perlentaucher sein. Dieses Risiko muß jeder Kreative eingehen. Und der erste Schritt heißt, sich zu trauen.

Felicitas Darschin

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