Das unerbittliche Ticken einer Eieruhr, die sich nach 5
Minuten lautstark bemerkbar machen wird. Dann gibt es keine
Gnade mehr und jeder hat seinen Stift sofort fallen zu lassen.
Nicht innehalten, nicht korrigieren, "Mut zur Dummheit"
und los geht´s .... Fertig ist Doris Dörries Schreibrezept
für Jedermann, innerhalb kürzester Zeit Zugang zu
seinem inneren Bilderfundus zu erlangen. Mit der Zauberformel
"ich erinnere mich an...." öffnen sich die
Pforten der Phantasie, und es wird mit möglichst kindlich-naivem
Blick über den ersten Schultag, ein geliebtes Kleidungsstück
oder ein verhasstes Essen munter drauflos geschrieben. Betrachtet
man etwas von früher aus heutiger Sicht, neigt man zu
ironischer Wertung oder Abstraktion. Das lässt Geschichten
und ihre Protagonisten oft leblos erscheinen. Gelingt es,
die Ursprünglichkeit eines Moments mit allen Sinnen wieder
heraufzubeschwören, hat die Übung ihren Zweck erfüllt.
Sogar das Schriftbild verändert sich, nachdem man sich
innerhalb der 5 oder 10 Minuten so nach und nach frei geschrieben
hat: meist von krakelig-klein zu genießerisch-groß.
Zu lesen, was da so aus einem hervorgebrochen ist, ist in
der Tat ein Genuss. Wie durch ein Wunder zaubert die Erinnerung
plötzlich aus einer zunächst entsetzlich banal erscheinenden
Alltagssituation ein eigenwilliges Erlebnis mit charmantem
Anekdoten-Charakter. Kratzige Wollstrumpfhosen oder gelbzähnige
Musiklehrer-Drachen aus der Kindheit treiben die Gedanken
entfesselt wie unstete Windböen in neue Richtungen und
erwecken den blassen Nachbarsjungen ebenso wie das Verbrennen
des Lieblingsschmusetiers beim Sonnwendfeuer wieder zum Leben.
Alles scheint so unmittelbar wie nie und plastischer könnten
die Schilderungen trotz des Zeitdrucks der Eieruhr - oder
gerade deswegen - kaum sein. Nichts ist so unspektakulär,
daß es nicht wert wäre, erzählt zu werden.
Den inneren Kritiker ausschalten, heißt die Devise.
Sich nicht langsam an Erlebtes heranpirschen, um stets aufs
Neue dem inneren Schweinehund zu erliegen, der alles gern
verdrängt und auf morgen vertagt. Man kann sich den eigenen
Intellekt wie eine Wasseroberfläche vorstellen, die man
durchbrechen muß. Es gilt, den Kopfsprung ins Unterbewußte
zu wagen!
Die Wiederentdeckung der längst verloren geglaubten
inneren Welten dient nicht nur als Grundlage des Schreibens
in Bildern, sondern kann auch als Anregung zur Themenfindung
dienen. Als Autor hat man zunächst oft nur eine sehr
vage Vorstellung davon, was man eigentlich erzählen möchte.
Langsam formt sich ein loses Geflecht aus Konflikten, Schauplätzen
und Figuren. Doch wie finde ich meine Hauptfigur, ihr Ziel,
ihre Biographie? Auch hier kann die Eieruhr die Rettung sein.
Man überlegt sich genau, was man bereits über seine
Hauptfigur weiß, wie ihr Umfeld definiert ist usw. Dann
fühlt man sich so intensiv wie möglich in ihre aktuelle
Situation innerhalb der Geschichte ein und entwirft nach gleichem
"ich erinnere mich an..." - Prinzip ein Bildermeer
für sie. Daraus können sich erstaunlich präzise
Kindheitserfahrungen, Traumata, Neurosen oder ganz spezielle,
prägende Erlebnisse ergeben. Das mag alles ein wenig
nach Hokus Pokus klingen, ist aber eine ganz schlichte, praktische
Übung, die allein als Hilfestellung gegen rationale Blockaden
fungiert. Wenn man sich darauf wirklich einlässt und
es schafft, loszulassen, funktioniert es wirklich. Wer zu
viel denkt, hält seine persönlichen Lebenserfahrungen
meist für zu banal, als daß er sie zu Papier bringen
würde. Im Gegenteil ist individuell Erlebtes das hauptsächliche
Erzählkapital eines jeden Autors. Die eigene Weltsicht
zählt, und nur wer wagt, sie preiszugeben, wird herausfinden,
ob sie sich auch für andere als interessant genug erweist.
Baden gehen oder Perlentaucher sein. Dieses Risiko muß
jeder Kreative eingehen. Und der erste Schritt heißt,
sich zu trauen.
Felicitas Darschin
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