Hinsichtlich seiner aktuellen Entwicklung und seiner gesellschaftlichen
Relevanz, gleicht wohl keine Kunstform dem Kino so, wie die
Popmusik. Doch während selbst die wechselhafte und unstete
Popbranche im Jahr 2003 wieder einige markante (wenn auch
oft kurzlebige) Moden und Hypes hervorbrachte, ist es nahezu
unmöglich, im Kino des vergangenen Jahres eindeutige Trends
zu entdecken.
Der einzige gemeinsame Nenner des Jahrgangs 2003 ist wohl,
dass es keinen gemeinsamen Nenner gab, dass sich das Kino
inhaltlich und formal in einer unübersehbaren Vielfalt und
Uneinheitlichkeit darbot, dass milliardenschwere Blockbuster
selbstverständlich neben Low Budget-Dramen existierten, dass
sich die Filmkunst dabei immer weiter aufspaltet, spezialisiert
und einzelne Teilaspekte so weit ins Extrem treibt, dass manche
Werke an die Grenzen unserer üblichen Vorstellung des Mediums
Film stießen.
Die folgenden Filme habe immerhin eine Sache gemeinsam; trotz
der verwirrenden Vielfalt und des einmal mehr enormen Angebots
(zumindest in einer Stadt wie München), haben sie es geschafft,
einen positiven Eindruck bei mir zu hinterlassen.
Gab es im abgelaufenen Jahr auch keine klaren Trends, so
zeigten sich doch gewisse Tendenzen, die aber ebensogut reiner
Zufall sein konnten. So präsentierten sich etwa einige der
amüsantesten Filme im perfekten Retro-Chic, etwa die swingende
Hochstaplerfarce CATCH
ME IF YOU CAN, die modernisierte Screwball-Comedy INTOLERABLE
CRUELTY und die mild ironische Doris Day Reminiszenz DOWN
WITH LOVE. Gerade an diesen drei so unterhaltsamen Komödien
läßt sich aber noch eine weitere Strömung des Kinojahres 2003
ablesen: Der unbeschwerte Spaß ist vorbei, der Ernst des Lebens
hält wieder Einzug, selbst in den Komödien steckt ein ordentliches
Maß menschlicher Tragik (aber auch umgekehrt, so dass sich
in den Tragödien oft auch etwas Komisches fand) und vor allem
die Liebe wurde in Frage gestellt, verteufelt oder in ihren
sonderbarsten Formen ausgelebt.
In diesem Zwischenreich aus Vergnügen und Verzweiflung, fanden
sich dann Filme wie die bitterböse Seniorensatire ABOUT
SCHMIDT oder Paul Thomas Andersons PUNCH
DRUNK LOVE mit einem der bizarrsten Liebesbekenntnisse
der Filmgeschichte oder die erstaunlich zurückhaltenden Sado-Maso
Lovestory SECRETARY.
Die perfektesten Beispiele der gerade beschriebenen Richtung
bot aber das Filmpaar AUTO
FOCUS von Paul Schrader und CONFESSIONS
OF A DANGEROUS MIND von George Clooney. Auch in der Vergangenheit
angesiedelt, zeichnen diese Filme die weitgehend wahre, aberwitzige
und abgründige Lebensgeschichte eines sexbesessenen Fernsehschauspielers
bzw. eines mordenden Fernsehproduzenten. Beide Filme sind
technisch makellos, erzählen auf atemberaubende Weise eine
faszinierende Geschichte und packen den Zuschauer auf mehr
als einer emotionellen Ebene. Hervorragend dabei auch die
Schauspieler wie Greg Kinnear und Willem Dafoe bzw. Julia
Roberts in einer ihrer besten Rollen und Sam Rockwell, der
auch in Ridley Scotts mittelmäßigem TRICKS
einer der wenigen Aktivposten war.
"Geschlagen" wird Sam Rockwell aber von George Clooney, der
mit seinem fulminanten Regiedebüt, in dem er auch noch selber
mitspielte, sowie seinen Rollen in der Komödie INTOLERABLE
CRUELTY und Steven Soderberghs SOLARIS
einer der Filmkünstler des Jahres war. Das "Künstlerkollektiv"
des Jahres war dann auch der Kreis um die Film- und Geschäftspartner
Clooney und Soderbergh, der nicht nur den elegisch bildgewaltigen
SOLARIS,
sondern auch den kontroversen Low Budget-Film FULL
FRONTAL (wieder mit einer sehr überzeugenden Julia Roberts)
ins Rennen schickte.
FULL
FRONTAL ist ein Film über Film im Film im Film und manchen
verwirrten die zahlreichen Wirklichkeitsebenen. Doch Soderberghs
Film ist bis zum Schluß konsequent und logisch und bietet
neben einer gekonnten Satire auch eine interessante Reflexion
darüber, was Begriffe wie Wirklichkeit oder Wahrheit im Kino
bedeuten.
Fast das selbe Thema, aber eine andere Form, wählte Spike
Jonze mit seinem dreimal um die Ecke gedachten ADAPTION.
Die Geschichte von Nicolas Cage als Drehbuchautor mit Schreibblockade,
sich selbst als nervenden Bruder und einem Drehbuch, das sich
irgendwie selbst verfilmt, ist ein geistreiches Vergnügen,
das nur manchmal an der intellektuellen Maßlosigkeit des neuen
Kult-Drehbuchautors Charlie Kaufman zu leiden hat.
An ganz anderen Rändern des Kinouniversums bewegte sich der
zweite Spike Jonze Film (hier aber nicht als Regisseur, sondern
als kreativer Kopf im Hintergrund), JACKASS
- THE MOVIE. Natürlich hat die Kinoversion der populären
MTV-Show wenig mit einem üblichen Spielfilm zu tun, doch berührte
er (absichtlich oder nicht) viele Themen des Kino: Was z.B.
macht eigentlich einen "richtigen" Film aus? Zeigt JACKASS
nicht in Reinform das, worüber wir seit jeher in den Komödien
vom Slapstick der Stummfilme bis zu den gross out-Comedies
der 1990er lachen? Ist JACKASS nicht die freundlich chaotische
Version dessen, was uns der Film FIGHT CLUB gezeigt hat? Fest
steht, dass JACKASS um ein Vielfaches subversiver ist, als
alle seine Nachfolger und rip-offs und dass er einer der ganz
wenigen Filme war, die es in 2003 schafften, für eine öffentliche
Kontroverse zu sorgen (bis hin zu einer Warnung durch das
Bayerische Familienministerium).
Ebenfalls für Kontroversen, jedoch nur unter Cineasten, sorgten
die neuen Filme von Lars von Trier und Quentin Tarantino.
Von Triers minimalistischer DOGVILLE
und Tarantinos überbordender KILL
BILL ähnelten sich zwar inhaltlich mit ihrer Geschichte
von den Leiden und der Erniedrigung einer Frau (auch das war
eines der wiederkehrenden Themen in 2003), doch der formale
Unterschied zwischen den Filmen konnte nicht größer ausfallen.
Die spartanische Versuchsanordnung in DOGVILLE und die handlungsarme
Bilderflut in KILL BILL führte oft zu diametral entgegengesetzten
Meinungen bei den Filmfans. Meine ganz persönliche Ansicht:
DOGVILLE ist schlicht und ergreifend ein Meistermerk, KILL
BILL ist sicher furios, verzettelt sich aber in den endlosen
Möglichkeiten, die Tarantino zur Verfügung standen.
Das Gleiche muss man leider auch Martin Scorseses lange ersehnten
GANGS
OF NEW YORK vorwerfen, der zwar einer seiner opulentesten
Filme ist, aber hinter der Intensität manch seiner unspektakuläreren
Werk zurückblieb. Die Erinnerung an die Kraft des frühen Scorseses
blitzte dagegen im brasilianischen CITY
OF GOD auf. Der zum Teil erhobene Vorwurf, CITY OF GOD
ästhetisiere die "Ghetto-Romantik", war dabei nicht nur dumm,
sondern auch reaktionär, da sich das kritische Kino zum Glück
endlich aus der verhängnisvollen Doktrin "triste Bilder für
triste Geschichten" löst.
Wie mitreißend und faszinierend dann auch politisches Kino
sein kann, zeigte das zweite große Schauspieler-Regiedebüt
DER
OBRIST UND DIE TÄNZERIN von John Malkovich. Die besondere
Intelligenz und Sensibilität, die man von der Schauspielerei
Malkovich' kennt, liegt auch in seiner mutigen Regiearbeit,
die sich in keinem Punkt auf bewährte Erfolgsrezepte verläßt
(vielleicht hat es deshalb zwei Jahre gedauert, bis der Film
ins Kino kam).
Der Einfluß des asiatischen Kinos war auch in 2003 ungebrochen
und jeder Actionfilm, der auf sich hielt, wartete mit entsprechenden
Martial Arts Einlagen auf. Trotzdem ist uns die klassische
asiatische Erzählweise immer noch kaum vertraut, so dass man
sich mit HERO
und Takeshi Kitanos DOLLS
wieder in berauschend schöne und faszinierend fremde Welten
entführen lassen konnte.
Wie bereits erwähnt, gingen in diesem Jahr die Tragödien
und die Komödien sehr häufige und sehr gelungene Verbindungen
ein. Besonders tragikomisch ist dabei offensichtlich der Alltag
junger Männer, die am Leben und vor allem an der Liebe verzweifeln
und sonderbare Namen tragen. Egal ob Wilbur in WILBUR
WANTS TO KILL HIMSELF im tristen Schottland, NÓI
ALBINÓI im kalten Island, IGBY
im reichen New York oder Kaja in WILDE
BIENEN in der ländlichen Tschechei; ihre Probleme sind
universell, ihre Umwelt erscheint unwirklich, ihr täglicher
Kampf führt zu nichts. Als Zuschauer kann man gar nicht anders,
als Sympathie zu empfinden, mit zu leiden, mit zu lachen.
Kajas Angebetete aus WILDE BIENEN heißt Bozka und obwohl
sie doch im selben Film sind, ist ihr Leben bedeutend trister
und weniger zum Schmunzeln, als das von Kaja. Und in der Tat
hatten die Frauen im Kino 2003 einiges mehr zu ertragen und
zu erdulden, als ihre männlichen Kollegen. Das war zwar dann
selten sehr amüsant, deshalb aber nicht weniger sehenswert,
noch dazu, da es Platz für viele hervorragende, weibliche
Schauspielleistungen bot. Etwa die von Sarah Polley in MEIN
LEBEN OHNE MICH oder die von Nina Hoss in WOLFSBURG
oder die von Oksana Akinshina in LILJA
4-EVER, der der mit Abstand schmerzhafteste und traurigste
Film über den Missbrauch einer Frau war. Auch wenn die Demütigung
von Uma Thurman in KILL BILL und von Nicole Kidman in DOGVILLE
ähnlich absolut ausfiel, so wurde ihnen in ihrer künstlichen
Welt doch Rache gewährt. Lilja dagegen lebt in einer tiefschwarzen
Wirklichkeit, aus der sie nur einen verzweifelten Ausweg sieht.
Den gleichen "Ausweg" wie Lilja, wählte auch Virginia Woolf,
die in THE
HOURS eindrucksvoll von Nicole Kidman dargestellt wurde.
Der elegant ineinander verwobene Film überzeugte durch ein
hervorragendes Drehbuch, eine feinsinnige Regie und einem
erstaunlichen Schauspielerensemble, allen voran aber auch
hier wieder starke Frauen(rollen) u.a. eben Nicole Kidman
(die neben DOGVILLE auch noch in DER
MENSCHLICHE MAKEL zu sehen war), Meryl Streep (auch in
ADAPTION) und Claire Danes, die mit diesem Film und ihren
Rollen in IGBY und Thomas Vinterbergs IT'S
ALL ABOUT LOVE zu den Nachwuchsschauspielerinnen des Jahres
zählte und etwa die omnipräsente Brittany Murphy "alt" aussehen
ließ.
Ähnlich stark (mit Frauen besetzt) wie THE HOURS war THINGS
YOU CAN TELL über den Alltag einiger Frauen in Los Angeles,
der trotz Stars wie Glenn Close, Holly Hunter und Cameron
Diaz leider kein größeres Aufsehen erregte. Trotzdem sehr
sehenswert. Das spannendste Zwei-Frauen-Stück schließlich
drehte Francois Ozon (wie übrigens bei fast allen der gerade
genannten "Frauenfilme" Männer die Regie führten) mit dem
erotisch aufgeladenen SWIMMING
POOL.
Der deutsche Film zeigte sich gewohnt durchwachsen, wobei
der Erfolg von GOOD
BYE, LENIN! sehr erfreulich und absolut berechtigt ist
und man sich weitere Worte hierzu wohl sparen kann. Zusätzliche
Aufmerksamkeit verdient dagegen NARREN
von Tom Schreiber, der bedauerlicherweise nur ein sehr kleines
Publikum erreichte. Ein kafkaesker Alptraum über Köln zur
Karnevalzeit und ein schräges Kinoerlebnis nicht nur für bekennende
Faschingshasser. Mit löblicher Konstanz lieferte Christian
Petzold mit dem bereits erwähnten WOLFSBURG auch im vergangenen
Jahr einen subtil spannenden Film ab. Mit seinen unterkühlt
klaren Bildern hat sich Petzold eine der markantesten Bildersprachen
des jungen deutschen Kinos erschlossen.
Ähnlich zurückhaltend wie bei Petzold, ist der Regiestil
von Andreas Dresen, nur dass bei Dresen nicht kühle Sachlichkeit,
sondern augenzwinkernde Schlichtheit dominiert. So auch in
seinem hervorragenden Dokumentarfilm HERR
WICHMANN VON DER CDU, der bewies, wie nahe die Spielfilme
Dresens an der Realität sind. Womit wir auch schon bei den
wenigen Dokumentarfilmen sind, die sich gegen die Übermacht
der Spielfilme durchsetzen konnte. Scheinbar herrscht immer
noch die irrige Annahme, dass ein Dokumentarfilm nur dann
von Interesse ist, wenn man einen Bezug zu seinem Thema hat.
Merkmal einer guten Doku ist es jedoch, Dinge nahe zu bringen,
die einem bisher vollkommen fremd waren. So musste man kein
Punkfan, Dekonstruktivist oder Filmverrückter sein, um sich
bei GOLDEN
LEMONS, DERRIDA
und CINEMANIA
hervorragend zu unterhalten und vielleicht sogar noch die
ein oder andere neue Erkenntnis mitzunehmen.
Vom cineastischen Standpunkt aus gesehen schwach präsentierte
sich in 2003 das Genre-Kino. Auch die Wiederbelebung von Sujets
wie dem Piratenfilm half nicht darüber hinweg, dass sich etwa
Action- oder Horrorfilme immer stärker den kommerziellen Anforderungen
anpassen und die Freiheit ihrer Genrenische immer seltener
Ausnutzen. Positive Ausnahme bot hier vor allem 28
DAYS LATER von Danny Boyle, ein geradliniger, geradezu
klassischer Horrorfilm, der eine aufrechtes Grüppchen auf
eine Legion von Untote und eine Truppe weitgehend hirntoter
Soldaten treffen läßt.
Das Kommerzkino erreichte im letzten Jahr neue Einspielrekorde,
was nicht nur mit einer perfektionierten Vermarktung zu tun
hat, sondern auch an einer immer differenzierteren Anpassung
der Filme an den Geschmack und die Erwartung des Massenpublikums
liegt Am ehrlichsten (und somit noch am erträglichsten) in
diesem Sinne war 3
ENGEL FÜR CHARLIE - VOLLE POWER, der sich gar nicht mehr
die Mühe machte, dem Zuschauer ein durchdachtes "Filmkunstwerk"
vorzugaukeln, sondern - befreit von überflüssiger Handlung
- schöne Frauen, spektakuläre Action und flotte Sprüche zu
einem Kino der reinen Form und Unterhaltung kombinierte.
Unsere Vorstellung davon, wie ein Film sein muss, sein kann,
sein darf, wurde 2003 also mehrfach und aus sehr unterschiedlichen
Richtungen in Frage gestellt. Man sollte darin das positive
Lebenszeichen einer immer noch gerne unterschätzten Kunstform
sehen. Auch von der viel beschworenen Krise des Kinos kann
angesichts der hier aufgezählten Filme keine Rede sein (die
größten Missstände gibt es momentan noch in der Auswertung
und dem Verleih vieler Filme). Man kann also vorsichtig optimistisch
in das Kinojahr 2004 blicken.
Michael Haberlander
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