Auf Filme aus den Ländern des Südens hat sich das Filmfestival
der Alpenstadt Innsbruck spezialisiert. Über 50 Werke dieser
Provenienz konnten dieses Jahr zwischen dem 9. und 13. Juni
begutachtet werden. Überraschend mag auf den ersten Blick
die Eröffnung mit der Schweizer Produktion AU SUD DES NUAGES
erscheinen, doch bei genauerer Betrachtung erweist sich diese
Wahl als sehr geschickt. Jean-Francois Amiguets wunderbar
unaufgeregtes Railroad-Movie stimmte nämlich einerseits auf
das heurige Motto "Reisekino - Kinoreisen" ein und schaffte
andererseits den Brückenschlag zwischen der westlichen Welt
und dem fernen China: Vier alte Walliser Jäger brechen mit
der Transsibirischen Eisenbahn in den Fernen Osten auf. Heimweh
bewegt einen nach dem anderen zur vorzeitigen Umkehr und nur
der wortkarge Adrien erreicht sein Ziel. In sich versunken
findet dieser eigensinnige Bergbauer aber weder den Zugang
zur fremden Kultur noch zu den Menschen. Nur das schon Bekannte,
das, was ihn an seine Heimat erinnert, nimmt er wahr und findet
so in der Fremde nicht zu den Anderen, aber wenigstens zu
sich selbst und stellt sich seiner Vergangenheit.
Die Reise der Walliser Bauern war innerhalb des Festivalprogramms
freilich die einzige Reise, die touristischen Motiven entsprang.
In MIEL PARA OSHUN (HONIG FÜR OSHUN) des kubanischen
Altmeisters Humberto Solas kehrt der Literaturprofessor Roberto,
der vor 32 Jahren mit seinem Vater aus Kuba in die USA floh,
in seine Heimat zurück, um seine Mutter zu suchen. Gemeinsam
mit seiner Cousine Pilar begibt er sich auf eine Reise durch
die Karibikinsel. Solas nützt diese Geschichte aber nicht
als Vordergrund für eine Erkundung der sozialen Verhältnisse
im Lande Castros, sondern beschränkt sich auf touristische
Ansichten. Und auch auf der Unterhaltungsebene funktioniert
MIEL PARA OSHUN nicht, denn Solas erzählt zwar mit viel Gefühl,
aber ohne jede Kraft, bieder und in schleppendem Tempo.
Eine Reise mit dem Fahrrad quer durch Brasilien unternimmt
wiederum eine sechsköpfige Familie in Vicente Amorims O
CAMINHO DAS NUVENS (DER WEG IN DIE WOLKEN). Dem persönlichen
Motiv beim Kubaner Solas steht hier mit der Suche nach einem
besseren Job ein soziales gegenüber. Spannend könnte das sein,
doch Amorim findet keine dramaturgische Linie, lässt sich
nie Zeit für genaue Beobachtungen. Mal wird mit Singen Geld
verdient, mal wird zu Gott gebetet, mal gibt's einen kleinen
Job, mal trifft die Familie hilfsbereite Leute, mal abweisende
und auch interne Konflikte wie der zwischen dem autoritären
Vater und dem heranwachsenden Sohn dürfen nicht fehlen. Weil
beliebig Szene auf Szene folgt, verliert sich Amorims Film
in Belanglosigeit, und auch kein Gefühl für die äußere Reise
oder die Weite des Landes wird vermittelt, denn die Bilder
von den Fahrradfahrten dienen nur als Bindeglieder zwischen
den einzelnen Stationen. Dennoch vergab die Jury an O CAMINHO
DAS NUVENS eine spezielle Erwähnung für "die sensible Familiendarstellung
in ihren unterschiedlichen Schichten".
Während der Vater in diesem brasilianischen Werk zwar immer
weiter will, aber seine Familie nie zurück lassen würde, ist
in den afrikanischen Filmen ABOUNA und MILLE MOIS
die Abwesenheit des Vaters der die Handlung bestimmende Umstand.
Gemeinsam sind dem im Tschad spielenden ABOUNA und dem marokkanischen
MILLE MOIS aber nicht nur dieser Ausgangspunkt und die Fokussierung
auf die zurückgebliebenen Kinder, sondern auch eine bestechende
Farbfotografie, das Erzählen in langen ruhigen Einstellungen
und der Verzicht auf Dramatisierung. Mahamet-Saleh Haroun
zeigt in ABOUNA nicht nur einfühlsam, welche Rolle der Vater
im Leben von Kindern spielt, sondern auch, wie der 15jährige
Tahir nach dem Verschwinden des Familienoberhaupts lernt Verantwortung
für seinen 8jährigen Bruder zu übernehmen. - Ein kleiner und
einfacher, aber universell gültiger Film, an dem nur das etwas
zu hektische und ereignisreiche Ende stört, ist Haroun mit
seinem zweiten Spielfilm gelungen.
Erst sieben Jahre alt ist die Hauptfigur von MILLE MOIS.
Im Ramadan 1981 ist Bensaidi Faouzis Debüt zeitlich angesiedelt,
der Schauplatz ist ein nicht näher bestimmtes marokkanisches
Bergdorf. Mutter und Großvater erzählen Mehdi, dass der Vater
in Frankreich sei, doch in Wahrheit wurde er bei einem Streik
inhaftiert. Nichts Spektakuläres passiert, in sehr ruhigem
Rhythmus werden Szenen des Dorflebens aneinander gereiht,
werden zentrale Personen wie der Lehrer, ein verliebter Fernsehtechniker
oder ein wegen seines Lebenswandels zwangsversetzter Richter
vorgestellt. Immer wieder wird dabei sichtbar, wie die strengen
religiösen Vorschriften den Knaben einschüchtern und prägen.
Der versehentliche Genuss eines Apfels löst bei ihm Angst
vor der Hölle aus, den Unfalltod eines jungen Mädchens, das
sich nicht um die Vorschriften des Korans kümmerte, sieht
er als Strafe Gottes an.
So ruhig die afrikanischen Filme vielfach sind, so intensiv
und vibrierend kann das lateinamerikanische Kino sein: Eine
Frau und dann ein Mann - auf der Straße stehend, gefilmt in
grobkörnigem Schwarzweiß. Von der ersten Einstellung an nimmt
DIAS DE SANTIAGO des 28jährigen Peruaners Josué Mendez
den Zuschauer gefangen: Drei Jahre lang hat Santiago als Soldat
für sein Land gedient, jetzt kehrt er als 23jähriger ins Zivilleben
zurück - besser gesagt: er möchte zurückkehren. Der Staat
kümmert sich aber um seine Veteranen nicht, Förderungen für
eine Weiterbildung oder Umschulung gibt es für Santiago nicht.
Sein Vater fordert ihn auf aus der elterlichen Wohnung auszuziehen,
bald kommt es auch zum Streit mit seiner Freundin und einige
Ex-Kollegen von der Armee wollen ihn überreden sich an einem
Banküberfall zu beteiligen. Doch Santiago lehnt ab: er möchte
anständig bleiben, eine Familie gründen. Der Militärdienst
und Einsätze an der Grenze zu Ecuador sowie im Kampf gegen
Terrorismus und Drogenhandel haben ihn geprägt, der Drill
hat ihn deformiert. - Immer weniger kommt er mit der Situation
klar.
Sichtlich an US-Filmen über Vietnam-Heimkehrer hat sich Mendez
orientiert. Santiago kann nachts so wenig schlafen wie Martin
Scorseses Travis Bickle in TAXI DRIVER, beginnt wie dieser
Taxi zu fahren und träumt von einer sauberen Stadt, in der
die Jugendlichen den richtigen Lebensweg finden. Aggressionen
stauen sich in Santiago auf. Zuerst richten sich diese nach
außen und dann in einer quälenden, schwer zu ertragenden Schlusssequenz
nach innen. Kongenial bringt Josué Mendez Santiagos Desorientierung
und Konfusion durch die formale Gestaltung zum Ausdruck. Schwarzweiß,
vielfach verfremdet durch extreme Überbelichtung, wechselt
mit Farbe, Handkamera und innerer Monolog ziehen den Zuschauer
direkt in die Gefühls- und Gedankenwelt der von Pietro Sibille
mit unglaublicher Intensität gespielten Hauptfigur und lassen
ihn bis zur letzten Sekunde nicht mehr los. Ein Psychogramm
von atemberaubender Dichte ist so entstanden, aber gleichzeitig
indirekt eine vehemente Abrechnung mit dem Militär. Denn nach
dieser Ausbildung gibt es kaum mehr ein Zurück und so fühlt
sich Santiago "out of all" und das Zivilleben ist für ihn
bald schlimmer als das in der Armee. Ein Solitär stellte DÍAS
DE SANTIAGO im Wettbewerb des Innsbrucker Festivals dar
und wurde folglich auch völlig zu Recht mit dem mit 5000 Euro
dotierten Filmpreis des Landes Tirol ausgezeichnet.
Belanglos wirkte dagegen Ömer Kavurs ENCOUNTER ("BEGEGNUNG").
Nicht mehr als handwerklich solid gefertigte Konfektionsware
ohne jede persönliche Handschrift bietet dieser Thriller über
einen Architekten, der durch eine Bekanntschaft mit einem
zwielichtigen Spielhallenbesitzer seinen verstorbenen (?)
Sohn und damit auch eine neue Familie findet. Kein Bild weist
hier über das Gezeigte hinaus, nach dem ersten Sehen gibt
es nichts mehr zu entdecken.
Unverständlich bleibt auch, wieso die abstruse Bollywood-Produktion
RAGHU ROMEO in das Festivalprogramm aufgenommen wurde.
Witzig ist zwar noch der Beginn, wenn sich der Kellner Raghu
in einen Filmstar verliebt und in Folge immer weniger zwischen
Realität und TV-Soap unterscheiden kann. Eine ironische Reflexion
über Kino als Opium für das Volk hätte dies werden können,
doch, was als Kritik am Illusionskino beginnt, bedient sich
bald selbst dieser Muster und mixt in haarsträubenden Wendungen
Action und verkrampften Humor. - Standen hier wirklich keine
überzeugenderen Arbeiten aus Asien, das heuer sehr schwach
in Innsbruck vertreten war, zur Verfügung?
Eine Wohltat war im Vergleich mit dieser seichten Unterhaltungsware
der mitreissende südafrikanische Dokumentarfilm AMANDLA!.
In einer geschickten Mischung aus Interviews und Wochenschaumaterial
dokumentiert der Amerikaner Lee Hirsch nicht nur die Geschichte
der Apartheid von 1948 bis 1994, sondern vermittelt auch eindrücklich,
welche Rolle Protestsongs beim Widerstand gegen das rassistische
Regime spielten. Wenn die Interviewpartner vom Gespräch in
Songs wechseln, mit denen sie die jeweilige politische Situation
kommentierten, und wenn diese Songs mit Archivmaterial kombiniert
werden, wird die Kraft dieser Musik spürbar, wird intensiv
das Aufbegehren und der Widerstands- und Überlebenswillen
dieses geschundenen Volkes erfahrbar gemacht.
Walter Gaspari
Detailinformationen zum Festival unter: www.iffi.at
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