Betrachtet man die erfreulich vielen, erfreulich guten Dokumentarfilme,
die es in den letzten Wochen in unsere Kinos geschafft haben,
stellen sich einmal mehr viele Fragen:
Was verbindet diese so unterschiedlichen Filme, was ist ihr
gemeinsamer Nenner? Wieviel Inszenierung ist in einem Dokumentarfilm
erlaubt, unvermeidbar oder sogar notwendig? Wo liegt die Grenze
zum Spielfilm, hat diese Abgrenzung etwas mit dem unterschiedlichen
Umgang mit der Wahrheit zu tun und was ist schon die filmische
Wahrheit? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man
es wohl frei nach dem in diesen Tagen so populären, griechischen
Philosophen Rehakles halten: Die Wahrheit liegt auf der Leinwand.
Einen grundlegenden Einfluß auf die Gestaltung von
Dokumentarfilmen übt seit jeher die technische Entwicklung
aus. Zu Beginn des Dokumentarfilms (nach unserem heutigen
Verständnis) in den 1920er und 1930er Jahren, war die
Filmausrüstung schwer, kaum mobil und anfällig.
Eine (Nach)Inszenierung der zu filmenden Realität war
damals praktisch unumgänglich. Erst in den 1960er Jahren
wurden Kameras und Tonbandgeräte so klein und transportabel,
dass Dokumentarfilmer die Rolle des halbwegs unauffälligen
Beobachters und Begleiters einnehmen konnten. Der daraus entstehende
Anspruch der Filmemacher spiegelt sich wieder in den Namen
der daraus entstehenden Stilrichtungen wie Direct Cinema und
Cinéma Vérité.
Zu Beobachten ohne zu Beeinflussen blieb aber weiterhin ein
unüberwindbares Paradoxon, an dem auch die bisher letzte
große Veränderung, die Verbreitung von Video- und
Digitaltechnik, wenig ändern konnte. Menschen verhalten
sich einfach anders, wenn eine Kamera auf sie gerichtet wird,
auch wenn sie noch so klein und unauffällig ist (die
versteckte Kamera zur Umgehung dieses "Problems"
ist trotz manchem Sittenverfall im Medienbereich zum Glück
immer noch verpönt).
Erkauft wird die neue Bewegungsfreiheit der Videotechnik oft
aber durch einen Verlust an visueller Qualität, was zu
der Frage führt, wie "schön" kann, soll
oder darf ein Dokumentarfilm eigentlich sein?
Andreas Veiel etwa ist mit DIE SPIELWÜTIGEN, der vier
Schauspielschüler über die sieben Jahre ihrer Ausbildung
begleitet, ein faszinierender Film gelungen, gedreht mit (Digital)Videokamera,
ohne visuelle Spielereien, keine Effekte, schlichte Bilder,
die sich ganz auf die Spannung des Gezeigten verlassen. Der
Film ist zweifelsfrei sehenswert und interessant, aber wenn
man an Veiels vorherige Doku, BLACK BOX BRD, mit seinen starken
Bildern, den langen Kamerafahrten und der gekonnten Stilvielfalt
denkt, bedauert man doch, dass diese zusätzliche Qualität
in DIE SPIELWÜTIGEN fehlt.
Ähnlich geht es einem bei Martin Scorseses FEEL LIKE
GOING HOME, dem dritten Teil seines Blues-Projekts. Der Film
lebt in erster Linie (natürlich) von der Musik und den
raren, historischen (Film)Aufnahmen. Um so schmerzhafter ist
es, neben diesen alten, aber stimmungsvollen Bildern, die
neuen, flachen Digitalaufnahmen zu sehen. Traurig wird es,
wenn Scorsese seinem gewohnten Sinn für visuelle Schönheit
freien Lauf läßt und versucht, eine beeindruckende
Kamerafahrten umzusetzen, diese aufgrund der beschränkten
Bildtechnik aber nur wie eine billige Kopie seiner selbst
wirkt. Man kann darüber spekulieren, was aus dieser immer
noch guten Dokumentation mit einer richtigen Filmkamera hätte
werden können.
Für einen Scorsese-Film ist FEEL LIKE GOING HOME jedoch
ziemlich enttäuschend, da hier ausgerechnet das Rhythmusgefühl,
das seine Spielfilme sonst auszeichnet, fehlt. Auch schafft
er es nicht, das Thema Blues so zu durchdringen und zu präsentieren,
wie es ihm mit Themen wie etwa der Mafia oder der Stadt New
York in seinen Spielfilmen regelmäßig gelingt.
Welche unglaublichen gestalterischen Möglichkeit der
Dokumentarfilm haben kann, ohne nur im Geringsten an Glaubwürdigkeit
zu verlieren, im Gegenteil dadurch sogar noch wahrhaftiger
wird, zeigt sich am herausragenden HÖLLENTOUR von Pepe
Danquart, der mit einer der besten Kameraarbeiten dieses deutschen
Kinojahrs aufwarten kann.
Selbst einem Mega-Ereignis wie der Tour de France, von dem
man bereits eine unendliche Menge an Bildmaterial aus den
Medien kennt, gewinnt Danquart eine neue, faszinierende Seite
ab. Hier erkennt man den bewußten Blick des Regisseurs,
der ihn von der Vielzahl der "Abfilmer" unterscheidet,
der jeden guten Dokumentaristen auszeichnet und die Grundlage
der Kunstform Dokumentarfilm ist.
Aber es geht nicht nur um die Qualität der Bilder, sondern
immer auch darum, wie man diese einsetzt, welchen Effekt man
damit erzielen will. Das beste aktuelle Beispiel für
den richtigen Umgang mit digitalen Bildern liefert THE OTHER
FINAL. Johan Kramers Film über ein Fußballspiel
der "Kellerkinder" der FIFA-Weltrangliste hätte
sich angesichts der überaus interessanten Geschichte
und den unterhaltsamen Personen auf ein kommentarloses Abbilden
zurückziehen können und wäre dabei immer noch
gelungen gewesen. Aber durch die intelligent vielfältige
Inszenierung (incl. massivem Musikeinsatz) verstärkt
sich die versöhnlich positive Stimmung der gezeigten
Ereignisse zusätzlich.
Der Dokumentarfilmer beeinflusst eben nicht nur durch seine
Anwesenheit das Geschehen, sondern bestimmt zudem durch die
Wahl des Blickpunktes und die Inszenierung, wie die von ihm
dokumentierte "Wahrheit" von den Zuschauern später
gesehen wird. Das Bild vom Dokumentarfilmer als vollkommen
neutralem Beobachter ist eine Illusion. Ob man aber gleich
ins andere Extrem verfallen muss, fragt man sich spätestens
seit Michael Moores BOWLING FOR COLUMBINE, und auch bei FAHRENHEIT
9/11 gibt es nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Kontroversen.
Moore verkehrt so ziemlich alle ehernen Grundsätze des
Dokumentarfilms in sein Gegenteil, beeinflusst massiv die
Handlung, inszeniert seine Filme so, dass sie in erster Linie
seiner gewünschten Botschaft und erst dann der Wahrheitsfindung
dienen und wo andere Regisseure bedauern, dass sich Menschen
vor einer Kamera anders als üblich verhalten, nutzt Moore
diesen Effekt, um gerade durch seine penetrante Kamera zu
entlarven, enthüllen und offenzulegen.
Spätestens bei Michael Moore ist man in der Grauzone
zwischen Spiel- und Dokumentarfilm angelangt. Versucht man,
im direkten Vergleich die thematisch verwandten Filme ELEPHANT
von Gus van Sant und BOWLING... von Moore der einen oder anderen
Kunstform zuzuordnen, wird man merken, wie unmöglich
und unsinnig das ist. Hier ein kühl und sachlich (fast
dokumentarisch) inszenierter Spielfilm, dort unterhaltsam
konstruiertes Infotainment.
Ob Michael Moore damit einen Paradigmenwechsel im Dokumentarfilm
eingeläutet hat, wird sich noch zeigen, auch wenn manche
Morgan Spurlocks SUPER SIZE ME bereits als ersten Beleg dafür
sehen.
Spurlock geht noch einen Schritt weiter als Moore und begibt
sich in den Selbstversuch, sich einen Monat lang nur bei McDonald's
zu ernähren. Das Ergebnis ist ähnlich wie bei Moore:
unterhaltsam, zielgerichtet kritisch (bzw. polemisch) und
an einer sachlichen Diskussion mäßig interessiert.
Setzt sich dieser Trend noch weiter fort, wird man bald auch
Dokumentarfilme mit den Hinweis: "Basierend auf wahren
Begebenheiten" versehen müssen.
Als größtes Problem von SUPER SIZE ME erweist
sich aber die Personalunion von Regisseur und Hauptperson.
Was in einem Spielfilm oft funktionieren mag, ist hier kontraproduktiv,
denn wo zwischen Beobachter und Beobachtetem keine Distanz
besteht, gibt es auch keinen Platz mehr für ungewollte
Erkenntnisse. Spurlock ist in der Situation eines Menschen,
der gegen sich selbst Schach spielt. Zufällige Überrumpelung
durch die unkalkulierbare Realität ist in einer solchen
Situation leider unmöglich.
Dass gerade Momente der unfreiwilligen Enthüllung, in
denen kurz das Gefühl der unverstellten Realität
aufblitzt, einen guten Dokumentarfilm ausmachen, zeigt eindrucksvoll
THE FIVE OBSTRUCTIONS von Lars von Trier und Jorgen Leth.
Auch hier schauen sich von Trier und Leth bei einem schrägen
Experiment selber zu (von Trier diktiert ausgefallene Regeln,
nach denen Leth Remakes seines eigenen Films drehen muss),
doch sind hier zwei sehr geschickte filmische Manipulatoren
im Spiel, die mit- und gegeneinander einen Film über
sich und den anderen und die Kunst des Filmemachens drehen.
Die dokumentarischen Teile, die Leths Remakes umrahmen und
kommentieren, sind eine äußerst sehenswerte Reflexion
über die Entstehung von Spiel- und Dokumentarfilmen.
Michael Haberlander
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