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22.07.2004
 
 
       

Die große Illusion der Wahrheit
Eine kleine Betrachtung zum aktuellen Dokumentarfilmangebot

 
 
THE FIVE OBSTRUCTIONS
Inszenierte Wirklichkeit
   
 
 
 
 

Betrachtet man die erfreulich vielen, erfreulich guten Dokumentarfilme, die es in den letzten Wochen in unsere Kinos geschafft haben, stellen sich einmal mehr viele Fragen:
Was verbindet diese so unterschiedlichen Filme, was ist ihr gemeinsamer Nenner? Wieviel Inszenierung ist in einem Dokumentarfilm erlaubt, unvermeidbar oder sogar notwendig? Wo liegt die Grenze zum Spielfilm, hat diese Abgrenzung etwas mit dem unterschiedlichen Umgang mit der Wahrheit zu tun und was ist schon die filmische Wahrheit? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man es wohl frei nach dem in diesen Tagen so populären, griechischen Philosophen Rehakles halten: Die Wahrheit liegt auf der Leinwand.

Einen grundlegenden Einfluß auf die Gestaltung von Dokumentarfilmen übt seit jeher die technische Entwicklung aus. Zu Beginn des Dokumentarfilms (nach unserem heutigen Verständnis) in den 1920er und 1930er Jahren, war die Filmausrüstung schwer, kaum mobil und anfällig. Eine (Nach)Inszenierung der zu filmenden Realität war damals praktisch unumgänglich. Erst in den 1960er Jahren wurden Kameras und Tonbandgeräte so klein und transportabel, dass Dokumentarfilmer die Rolle des halbwegs unauffälligen Beobachters und Begleiters einnehmen konnten. Der daraus entstehende Anspruch der Filmemacher spiegelt sich wieder in den Namen der daraus entstehenden Stilrichtungen wie Direct Cinema und Cinéma Vérité.

Zu Beobachten ohne zu Beeinflussen blieb aber weiterhin ein unüberwindbares Paradoxon, an dem auch die bisher letzte große Veränderung, die Verbreitung von Video- und Digitaltechnik, wenig ändern konnte. Menschen verhalten sich einfach anders, wenn eine Kamera auf sie gerichtet wird, auch wenn sie noch so klein und unauffällig ist (die versteckte Kamera zur Umgehung dieses "Problems" ist trotz manchem Sittenverfall im Medienbereich zum Glück immer noch verpönt).
Erkauft wird die neue Bewegungsfreiheit der Videotechnik oft aber durch einen Verlust an visueller Qualität, was zu der Frage führt, wie "schön" kann, soll oder darf ein Dokumentarfilm eigentlich sein?

Andreas Veiel etwa ist mit DIE SPIELWÜTIGEN, der vier Schauspielschüler über die sieben Jahre ihrer Ausbildung begleitet, ein faszinierender Film gelungen, gedreht mit (Digital)Videokamera, ohne visuelle Spielereien, keine Effekte, schlichte Bilder, die sich ganz auf die Spannung des Gezeigten verlassen. Der Film ist zweifelsfrei sehenswert und interessant, aber wenn man an Veiels vorherige Doku, BLACK BOX BRD, mit seinen starken Bildern, den langen Kamerafahrten und der gekonnten Stilvielfalt denkt, bedauert man doch, dass diese zusätzliche Qualität in DIE SPIELWÜTIGEN fehlt.

Ähnlich geht es einem bei Martin Scorseses FEEL LIKE GOING HOME, dem dritten Teil seines Blues-Projekts. Der Film lebt in erster Linie (natürlich) von der Musik und den raren, historischen (Film)Aufnahmen. Um so schmerzhafter ist es, neben diesen alten, aber stimmungsvollen Bildern, die neuen, flachen Digitalaufnahmen zu sehen. Traurig wird es, wenn Scorsese seinem gewohnten Sinn für visuelle Schönheit freien Lauf läßt und versucht, eine beeindruckende Kamerafahrten umzusetzen, diese aufgrund der beschränkten Bildtechnik aber nur wie eine billige Kopie seiner selbst wirkt. Man kann darüber spekulieren, was aus dieser immer noch guten Dokumentation mit einer richtigen Filmkamera hätte werden können.
Für einen Scorsese-Film ist FEEL LIKE GOING HOME jedoch ziemlich enttäuschend, da hier ausgerechnet das Rhythmusgefühl, das seine Spielfilme sonst auszeichnet, fehlt. Auch schafft er es nicht, das Thema Blues so zu durchdringen und zu präsentieren, wie es ihm mit Themen wie etwa der Mafia oder der Stadt New York in seinen Spielfilmen regelmäßig gelingt.

Welche unglaublichen gestalterischen Möglichkeit der Dokumentarfilm haben kann, ohne nur im Geringsten an Glaubwürdigkeit zu verlieren, im Gegenteil dadurch sogar noch wahrhaftiger wird, zeigt sich am herausragenden HÖLLENTOUR von Pepe Danquart, der mit einer der besten Kameraarbeiten dieses deutschen Kinojahrs aufwarten kann.
Selbst einem Mega-Ereignis wie der Tour de France, von dem man bereits eine unendliche Menge an Bildmaterial aus den Medien kennt, gewinnt Danquart eine neue, faszinierende Seite ab. Hier erkennt man den bewußten Blick des Regisseurs, der ihn von der Vielzahl der "Abfilmer" unterscheidet, der jeden guten Dokumentaristen auszeichnet und die Grundlage der Kunstform Dokumentarfilm ist.

Aber es geht nicht nur um die Qualität der Bilder, sondern immer auch darum, wie man diese einsetzt, welchen Effekt man damit erzielen will. Das beste aktuelle Beispiel für den richtigen Umgang mit digitalen Bildern liefert THE OTHER FINAL. Johan Kramers Film über ein Fußballspiel der "Kellerkinder" der FIFA-Weltrangliste hätte sich angesichts der überaus interessanten Geschichte und den unterhaltsamen Personen auf ein kommentarloses Abbilden zurückziehen können und wäre dabei immer noch gelungen gewesen. Aber durch die intelligent vielfältige Inszenierung (incl. massivem Musikeinsatz) verstärkt sich die versöhnlich positive Stimmung der gezeigten Ereignisse zusätzlich.

Der Dokumentarfilmer beeinflusst eben nicht nur durch seine Anwesenheit das Geschehen, sondern bestimmt zudem durch die Wahl des Blickpunktes und die Inszenierung, wie die von ihm dokumentierte "Wahrheit" von den Zuschauern später gesehen wird. Das Bild vom Dokumentarfilmer als vollkommen neutralem Beobachter ist eine Illusion. Ob man aber gleich ins andere Extrem verfallen muss, fragt man sich spätestens seit Michael Moores BOWLING FOR COLUMBINE, und auch bei FAHRENHEIT 9/11 gibt es nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Kontroversen.

Moore verkehrt so ziemlich alle ehernen Grundsätze des Dokumentarfilms in sein Gegenteil, beeinflusst massiv die Handlung, inszeniert seine Filme so, dass sie in erster Linie seiner gewünschten Botschaft und erst dann der Wahrheitsfindung dienen und wo andere Regisseure bedauern, dass sich Menschen vor einer Kamera anders als üblich verhalten, nutzt Moore diesen Effekt, um gerade durch seine penetrante Kamera zu entlarven, enthüllen und offenzulegen.

Spätestens bei Michael Moore ist man in der Grauzone zwischen Spiel- und Dokumentarfilm angelangt. Versucht man, im direkten Vergleich die thematisch verwandten Filme ELEPHANT von Gus van Sant und BOWLING... von Moore der einen oder anderen Kunstform zuzuordnen, wird man merken, wie unmöglich und unsinnig das ist. Hier ein kühl und sachlich (fast dokumentarisch) inszenierter Spielfilm, dort unterhaltsam konstruiertes Infotainment.

Ob Michael Moore damit einen Paradigmenwechsel im Dokumentarfilm eingeläutet hat, wird sich noch zeigen, auch wenn manche Morgan Spurlocks SUPER SIZE ME bereits als ersten Beleg dafür sehen.
Spurlock geht noch einen Schritt weiter als Moore und begibt sich in den Selbstversuch, sich einen Monat lang nur bei McDonald's zu ernähren. Das Ergebnis ist ähnlich wie bei Moore: unterhaltsam, zielgerichtet kritisch (bzw. polemisch) und an einer sachlichen Diskussion mäßig interessiert. Setzt sich dieser Trend noch weiter fort, wird man bald auch Dokumentarfilme mit den Hinweis: "Basierend auf wahren Begebenheiten" versehen müssen.

Als größtes Problem von SUPER SIZE ME erweist sich aber die Personalunion von Regisseur und Hauptperson. Was in einem Spielfilm oft funktionieren mag, ist hier kontraproduktiv, denn wo zwischen Beobachter und Beobachtetem keine Distanz besteht, gibt es auch keinen Platz mehr für ungewollte Erkenntnisse. Spurlock ist in der Situation eines Menschen, der gegen sich selbst Schach spielt. Zufällige Überrumpelung durch die unkalkulierbare Realität ist in einer solchen Situation leider unmöglich.

Dass gerade Momente der unfreiwilligen Enthüllung, in denen kurz das Gefühl der unverstellten Realität aufblitzt, einen guten Dokumentarfilm ausmachen, zeigt eindrucksvoll THE FIVE OBSTRUCTIONS von Lars von Trier und Jorgen Leth.
Auch hier schauen sich von Trier und Leth bei einem schrägen Experiment selber zu (von Trier diktiert ausgefallene Regeln, nach denen Leth Remakes seines eigenen Films drehen muss), doch sind hier zwei sehr geschickte filmische Manipulatoren im Spiel, die mit- und gegeneinander einen Film über sich und den anderen und die Kunst des Filmemachens drehen. Die dokumentarischen Teile, die Leths Remakes umrahmen und kommentieren, sind eine äußerst sehenswerte Reflexion über die Entstehung von Spiel- und Dokumentarfilmen.

Michael Haberlander

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