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Am östlichen Ufer des Vieux Port, dem Alten Hafen von
Marseille, befindet sich das Théâtre de la Criée.
Früher versteigerten hier die Fischer schreiend ihren
Fang, was dem Theater seinen Namen "La Criée"
einbrachte. Heute wird am Vieux Port nur noch in kleinen Ständen
in der Nähe der Métrostation Fisch verkauft. Die
wenigen Fischer stehen wortkarg hinter ihrem noch lebendigen
Fang, der im seichten Brackwasser der Präsentationsbecken
allmählich erstickt. Ein für jedermann sichtbares,
lautloses Sterben, dem ein schneller Messerhieb, der den Kopf
abtrennt, ein jähes Ende setzen kann. Dann werden die
Fische ausgeweidet und die nicht verkaufbaren Körperreste
als Abfälle rücklings in das stinkende Hafenwasser
geworfen. Ein morbides Szenario, das sogar als Touristenattraktion
dient - zwischen den Fischbecken liegen ausgebreitet Tücher,
auf denen Afrikaner Schmuck und gefakte Yves-Saint-Laurent-Taschen
anbieten.
Der Weg von den Fischständen zum Théâtre
de la Criée ist nur kurz. Hier findet seit 15 Jahren
ein Internationales Dokumentarfilmfest statt, das mittlerweile
hinter Amsterdam und Leipzig an dritter Stelle unter den europäischen
Dokfesten rangiert. Seine Bedeutsamkeit erhielt es durch die
Gleichzeitigkeit von Festival und Markt, dem FID Marseille
und dem finanziell eigenständigen Sunny Side of the Docs,
zusammengefasst unter dem administrativen Dachverband "Vue
sur les Docs". Seit 1997 sind beide Veranstaltungen räumlich
getrennt, dieses Jahr erstmals auch zeitlich. Künstlerischer
Leiter des Festivals ist seit drei Jahren Jean-Pierre Rehm,
ein ehemaliger Schüler des französischen Intellektuellenkaders
Ecole Normale Supérieure und Organisator von Ausstellungen.
Die Herkunft des Leiters ist dem Festival anzumerken. Zuallererst
macht sich der Konzeptgedanke bemerkbar, der über dem
Festival steht: Rehm unterscheidet nicht zwischen Kurz- und
Langfilmen, für ihn gibt es nur kurze und lange Filme,
"Filme eben", wie er hervorhebt, die gleichrangig
für den Wettbewerb programmiert werden. 20 Filme wurden
im internationalen Wettbewerb gezeigt, zehn im französischen,
in der Länge von 20 Minuten bis zu zwei Stunden. Sodann
fällt der Charakter der Filme auf, die Rehm in seinem
Sichtungskomitee von drei Leuten aus 1500 Filmen ausgewählt
hat. Sie zeigten sich zum großen Teil als "künstlerische",
also experimentelle und avantgardistische Erscheinungsformen
des Dokumentarischen. Nur diesen kann und will Rehm das Prädikat
eines "Films" verleihen. Es sind Filme, in denen
sich die Darstellungsweise über das Dargestellte erhebt,
in denen also der dokumentarische Inhalt zugunsten einer filmischen
Formensuche durchaus auch abdanken kann. Letztes Jahr geriet
dies zu dem spannenden Unterfangen, narrative Formen im Dokumentarfilm
zu befragen.
Dieses Jahr zeigten sich die Filme oftmals in einer narrativen
Sperrigkeit, die ihre Rezeption bisweilen schwierig machte.
Zu sagen, worum es in dem Gewinner des französischen
Wettbewerbs 1/3 DES YEUX (EIN DRITTEL DER AUGEN) von Olivier
Zabat genau geht, in dem Augenoperationen, Boxszenen, das
Reparieren einer Klimaanlage und eine Doktorarbeit über
Wildkatzen koexistieren, sei der freien Assoziation überlassen.
Dennoch sollte man den Ansatz von Jean-Pierre Rehm, der nach
eigener Aussage von den internationalen Festivals nur Rotterdam
besucht (alle anderen zeigen Filme, die ihn nicht interessieren),
stark machen für die Chance, Sehgewohnheiten zu verändern.
Denn in den guten Filmen, die auch dieses Jahr vertreten waren,
erfährt der Zuschauer eine Zugangsweise zur dokumentarischen
Wirklichkeit, die sich der Abbildfunktion auf der Oberfläche
des Realen verweigert. Innere Welten werden mit dokumentarischen
Mitteln erzählt, so in SYLVIA KRISTEL - PARIS der Niederländerin
Manon de Boer, die Super-8-Fahrten durch Paris als assoziativen
Raum für den biographischen Werdegang der Schauspielerin
aufspannt. Auch hier zeugt der Film - so der Katalogtext -
von der "Schwierigkeit, ein Leben in einer kohärenten
Erzählung zusammenzufassen", dies aber so gelungen,
dass der Zuschauer direkt in den Raum des Imaginären
hineingesogen wird. Er erhielt zurecht den "Prix Georges
de Beauregard".
Ein Glanzstück des Festivals, das Rehm aus der Werkstätte
des Filmfonds Rotterdam mitbrachte und eine Spezielle Erwähnung
für den Hauptpreis erhielt, war ARSENY TARKOVSKY - MALUTKA-ZHIZN'
(ARSENY TARKOVSKY: ETERNAL PRESENCE). Der Russe Viatcheslav
Amirkhanian portraitiert Andrei Tarkovskys Vater, einen renommierten
Dichter, zeitlebens aber von der sowjetischen Zensur verboten.
Amirkhanian war ein enger Freund der Familie und filmte Arseny
fünf Jahre lang bis zu seinem Tod 1989. Entstanden sind
"Home-Movies" auf 35 mm, farbige Aufnahmen von Szenen
in der Küche, in der sich die Familie Tarkovsky zu Geburtstagsfeiern
traf, darunter auch Marina Tarkovsky, die erste Frau des Dichters
und Mutter von Andrei. Sepiabilder portraitieren Arseny, wenn
er am Fenster sitzt oder mit seinen Dichterfreunden spricht.
Der Film atmet in russischer Langsamkeit, seine Grundstimmung
ist schwer-melancholisch und sehr lyrisch. Erst etwa eine
Viertelstunde nach Filmbeginn, der die Beerdigung von Arseny
erzählt, setzt das gesprochene Wort ein. Bis dahin scheint
der Film in der Dauer seiner Bilder zu schweben, in einer
traumhaft-entrückten Atmosphäre. Später spricht
Arseny von seiner Lyrik, in Gesprächen, die der Regisseur
mit ihm geführt hat, rezitiert in unnachahmlich russisch-schwerem
Tonfall seine Gedichte. Fünfzehn Jahre brauchte der Regisseur
für die Fertigstellung des Films, herausgekommen ist
ein meisterliches Lebenswerk.
Dieser kleine Einblick in das diesjährige Programm des
Festivals macht deutlich, wie weit sich das FID Marseille
nicht nur von kommerziell verwertbarem Kino à la SUPER
SIZE ME, der zeitgleich in Frankreich als Blockbuster anlief,
entfernt hat, sondern auch wie sehr es sich von seiner Gründungsidee
wegentwickelt hat. Am Anfang ging es darum, Filme zu zeigen,
die "Zeugnis über die Gesellschaften der Welt"
ablegen, so Michel Trégan, seit bald zehn Jahren Präsident
des Festivals und Vorstand der "Vue sur les docs".
Aus der Programmgestaltung hält er sich heute jedoch
raus. Mindestens 10.000 immer jüngere Besucher und eine
positive Bilanz nicht zuletzt dank der etwa zwei Dutzend privaten
Sponsoren verleihen Jean-Pierre Rehm eine carte blanche für
die Festivalgestaltung. Dazu gehört auch die Initiierung
der fünf Nebenreihen, den "Ecrans parallèles".
Dieses Jahr waren sie übertitelt mit "die Geste
des Sports", "Kinofabrik" oder "Lost in
the Past" und zeigten u.a. Filmraritäten wie CHRONIQUE
D'UN ETE von Jean Rouch und Edgar Morin von 1961, LE SPORT
ET LES HOMMES von 1961, zu dem Roland Barthes den Kommentar
schrieb, oder REMINISCENCES OF A JOURNEY TO LITHUANIA von
Jonas Mekas, eine filmische Autobiographie mit Aufnahmen aus
den Jahren 1950-1971.
Für nächstes Jahr wird jedoch der Film-Markt Sunny
Side of the Docs und das FID Marseille zeitlich wieder zusammengelegt.
Trégan hält es zwar für eher unwahrscheinlich,
dass sich Produzenten auf das Festival verirren, für
die Filmemacher jedoch ist der Markt von enormer Wichtigkeit,
und, so will man ergänzen, auch für die internationale
Bedeutsamkeit des Festivals. Denn trotz oder wegen des anspruchvollen
Programms droht ihm, sich bei allzu viel Konzept dem Publikum
und den internationalen Besuchern zu verschließen. Marseille
bliebe in diesem Fall nur noch die Bedeutsamkeit als Markt.
Den künstlerischen Dokumentarfilmen erginge es dann wie
den Fischen in ihrem Brackwasser: Sie würden lautlos
in den Archiven sterben, oder als unverkaufbarer Überschuss
der Filmproduktionen ausgesondert. Und dann bliebe nur noch
filmisches Fastfood wie SUPER SIZE ME, angepriesen als schmackhafter
Fisch.
Dunja Bialas
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