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Wären Filmtitel wahr, dann hätte das Fantasy Filmfest
ein massives Problem gehabt: Der letzte Horrorfilm, THE LAST
HORROR MOVIE, wäre dann schon in der Mitte des Festivals
gelaufen. Freilich war dieser Titel nur Teil (und nicht unbedingt
der gelungenste) des selbstreflexiven Spiels, das Julian Richards'
neuester Streifen spielte. In Wahrheit will der Film das,
was wir in Horrorfilmen mit solchem insgeheimen Genuss sehen
- das Sterben von Menschen - befreien von der ästhetischen
Einkleidung, ihm eine Realität zurückgeben.
Der Film ist das Homemovie eines Serienkillers, der nebenbei
sein Geld als Filmer von Hochzeits-Videos verdient. Oder,
nein, genauer: Es ist das Schulungsvideo, dass dieser Psychopath
(aus seiner Sicht) zum Fromm der übrigen Menschheit gedreht
hat.
Das Programm des Fantasy Filmfests bemühte den Vergleich
zu MANN BEISST HUND (C'EST ARRIVÉE PRÈS DE CHEZ
VOUS), aber dieser Vergleich trägt bestenfalls oberflächlich,
denn mit der Medienkritik jenes Films hat THE LAST HORROR
MOVIE wenig am Hut. Viel engere Verwandschaft hat er zu MUXMÄUSCHENSTILL
-
er ist so etwas wie der (noch) heftigere, bösere Cousin
des deutschen Streifens. Was zugleich ein Beweis dafür
ist, wie sehr die technischen Gegebenheiten des Mediums den
Inhalt prägen: Dass beide Filme (gewiss ohne voneinander
zu wissen) eine ganz ähnliche Dynamik entwickeln zwischen
einem "Volkserzieher" und einem verdrucksten Langszeitarbeitslosen,
der von diesem angestellt ist, ihn mit der Kamera zu begleiten,
ist schlicht eine naheliegende Konsequenz aus dem Einsatz
eines Camcorders als Aufzeichnungsgeräts (das auch IN
der fiktionalen Welt der Filme als solches existiert). Anders
als MANN BEISST HUND geht es bei Julian Richards' Film nicht
nur um Gewalt - es geht um ein ganzes Weltbild. Der Psychopath
Max (die Namensgleichheit zum Protagonisten von MUXMÄUSCHENSTILL
ist garantiert Zufall - aber auch Beweis, dass der Weltgeist
gewisse Ideen eben doch gern doppelt verteilt) hat nicht nur
was übers Sterben zu erzählen, sondern auch übers
Leben. Und das ist fast noch trostloser und erschreckender
als seine Ausführungen zum Mord. Die Szenen bei Familie
und Freunden, bei den Hochzeiten, dienen nicht einfach als
beschaulicher Kontrast zum mörderischen Treiben - sie
sind ein Blick auf den Horror der sogenannten Normalität.
Das Ganze funktioniert und trägt nicht zuletzt deshalb,
weil Kevin Howarth in der Hauptrolle genau die richtige Mischung
aus Charmeur und Arschloch ist, er den gewinnenden Verführer
und den egomanischen Loser angsteinflößend echt
rüberbringt. Auf tiefere Weise verstörend, erschreckend
(weil in Teilen viel leichter bei sich selbst wiedererkennbar)
als seine Gewalttätigkeit ist Max' Gewissheit, mit der
er seine zynische Weltsicht, seine vermeintliche Überlegenheit
herausposaunt; mit der er sich zum Herrn über Leben und
Tod ernennt und damit einem größeren Guten zu dienen
meint.
Zumindest einmal ringt sich THE LAST HORROR MOVIE dagegen
zur Selbsterkenntnis durch, dass der Tod, nimmt man ihn ernst,
letztlich nicht semantisierbar ist: In der wohl heftigsten
Szene des Films versucht Max verzweifelt, aber von sich selbst
völlig überzeugt, einem sterbenden Opfer klarzumachen,
dass es Teil einer GROSSEN Sache ist, dass sein Sterben einen
Sinn hat - und Max ist furchtbar sauer, dass dem Opfer dafür
offenbar jegliches Verständnis abgeht.
Das, was THE LAST HORROR MOVIE zur Komplizenschaft der Zuschauer
zu sagen hat, ist im Vergleich fast konventionell, wenngleich
doch immer wieder so überzeugend und herb gebracht, dass
es einen schlucken lässt. Leider aber ist der Film auch
clever genug zu wissen, dass seine Zuschauer eine unschlagbare
Antwort haben auf seine immer wiederkehrende Frage: Why do
you keep watching? Ganz einfach: Weil wir wissen, dass das
alles nur inszeniert, gespielt, nur ein Film ist. Der Film
will diese Antwort aber nicht akzeptieren, er will auch diese
letzte Verteidigung durchbrechen. Ein von vornherein aussichtsloses
Unterfangen, bei dem er schließlich die Meta-Fiktions-Schraube
eine mühsame Drehung zu weit anzieht.
Kann aber auch sein, dass dieser finale Dreh deswegen nicht
richtig gewirkt hat, weil das Kino eigentlich der falsche
Ort ist, dieses Werk zu gucken. Das zentrale conceit des Films
ist, dass er so tut, als sei er auf einer Verleih-Videocassette
über einen billigen US-Horrorstreifen aufgenommen worden.
Diesem Spielchen kann man sich, sieht man THE LAST HORROR
MOVIE auf Leinwand, natürlich bestens entziehen. Drum
ist das wohl der erste Film, der mir gefällt, bei dem
ich raten würde: Watch it on video.
***
Man hat ja schon länger geahnt, dass die Belgier irgendwie
seltsam drauf sind. Also nicht nur wegen der Sache mit den
Kindern. (Von der offenbar THE ALZHEIMER CASE handelte, den
ich aber nicht gesehen habe.) Sondern überhaupt. Weswegen
man MADAME EDOUARD & INSPECTOR LÉON auch durchaus
als Dokumentarfilm gucken konnte - da war so ziemlich jedes
Klischee, das es über das frankophone Ländchen gibt,
drin verwurstet. Vom eigenwilligen Essen über das eigenwillige
Bier (das - keine Erfindung des Films - "La mort subite"
heißt) bis hin zu Renée Magrittes Melonenhut-Mann,
der immer mal wieder durchs Bild marschierte. Leider lief
sich all das skurill-verschrobene Treiben mit all den bizarren
Typen (ein stämmiger Transvestit im Putzfrauen-Kittel,
eine Sekretärin mit einem Tick für extrem exzentrische
Ohrringe, etc.) mit der Zeit ziemlich tot. Vor allem, weil
Regisseurin Nadine Monfils, die sich ausdrücklich auf
LE FABULEUX DESTIN D'AMÉLIE POULAIN beruft, im Gegensatz
zu Jeunet wenig mit den Möglichkeiten des Mediums Film
und seiner Apparatur am Hut hat und ihr Panoptikum der Eigenwilligkeiten
einfach nur vor die Kamera postiert. Zudem nimmt sich das
Ganze am Ende dann doch ziemlich ernst als Reflexion über
die Kunst, das Leben und solch Dinge mehr, und an solcher
Gewichtigkeit verhob sich der poetisierende Klamauk dann doch.
War hier noch alles eher harmlos und possierlich, bestätigte
zwar auch THE ORDEAL (CALVAIRE) das Vorurteil, dass die Belgier
anders ticken - aber auf eine Weise, die man in keinem Tim&Struppi-Heftchen
(auch Hergé kommt selbstverständlich in MADAME
EDOUARD vor) findet. Was ein FIESER Film! Der beweist, dass
sich zwei Trends des französischen Kinos nahtlos aufs
Nachbarland übertragen lassen: Nirgends sonst haben Jungregisseure
und deren Kameraleute solch ein Händchen für unheimlich
schöne, elegante Bilder. Und nirgends sonst gehen sie
mit der Darstellung von Grausamkeiten derart hart an die Grenze
echter Menschenverachtung. CALVAIRE kann einem den Atem nehmen
mit seinem wunderbaren Licht, mit den Aufnahmen, die die Atmosphäre
der herbstlich-winterlichen Landschaft tief in der Provinz
einfangen, dass man sie meint greifen, riechen zu können.
Und er kann einem den Atem verschlagen mit seiner ungebremsten
Perversität.
Ein Film aus dem altehrwürdigen Genre des "backwoods
horrors", der aber so konsequent zu Werke geht, wie es
sich selbst DELIVERANCE nie getraut hätte. Ein Film über
eine Landschaft, in der den Männern die Frauen fehlen;
ein Film über die Suche nach Ersatz. Aber die Typen,
die sich von Kälbchen einen blasen lassen, sind hier
noch die gesündesten.
Das alles ist um so schlimmer, als CALVAIRE mit so einem kauzigen,
finster-absurden Humor beginnt, als er permanent einen beängstigend
lakonischen Blick behält, als er sich weigert, viel Antworten
und Auflösungen zu bieten, als er über weiteste
Strecken nicht mal Filmmusik als emotionale Ausflucht zulässt.
Dafür gibt es die großartige Nummer, in der im
örtlichen Wirtshaus einer der degenerierten Typen ans
Klavier schreitet, darauf sehr rhythmisch, aber arg dissonant
herumdrischt, woraufhin all die anderen degenerierten Typen
aufstehen und miteinander stolpernd zu tanzen beginnen. Genau
so haben wir uns belgische Dorfdisco-Abende immer vorgestellt.
***
Letzte (Horror-)Filme haben auf Festivals einen grundsätzlichen
Wettbewerbs-Nachteil: Der fleißige Besucher (und womöglich
auch noch Berichterstatter) leidet auf Filmfesten traditionell
unter Schlafmangel, und die letzte Vorführung des Tages läuft
deshalb gerne Gefahr, früher oder später nahtlos in die vorgezogenen
Nachtruhe hinüberzudriften.
Nun sollte das Fantasy Filmfest in dieser Hinsicht weniger
anfällig sein als, sagen wir, die Hinterbirnbacher Tage des
meditativen Gebärdensprachenfilms - verspricht doch die "Midnight
Madness"- Reihe immer besonders derbe Kost, schockierende
Spektakel. Und im Prinzip hält ein Film wie MUCHA SANGRE ja
auch stellenweise, was der Titel verspricht. Will auch gar
nicht behaupten, dass mich dieser spanische Leinwand-Kindergeburtstag
nicht immer wieder amüsiert hätte: Aliens im Baskenland (mit
dem in Ehren ergrauten Paul Naschy als Oberalien!), getürmte
Serienkiller, fliegende Scheiße - was will man mehr?
Tja, Rhythmus zum Beispiel. Das Problem mit fast all solchen
wüst gemeinten, munter handgezimmerten Filmen, die absichtlich
mit der Niveaulatte Limbo spielen (How low can you go?) ist,
dass es verdammt viel Handwerk braucht, um über anderthalb
Stunden "einfach nur" auf rüdeste Weise unterhaltsam zu sein.
Außer Peter Jacksons programmatisch betitelten BAD TASTE und
BRAIN DEAD wüßte ich spontan keine Filme, die das je wirklich
überzeugend geschafft hätten. Solche Streifen können gewöhnlich
nie das Tempo hoch genug, die Ideen- und Gagdichte auf dem
nötigen Level halten. Und verfügen meist auch von filmsprachlicher
Syntax und Grammatik nicht über das nötige Repertoire, hinreichende
Finesse. Da ist meist eine Sammlung an "Wäre es nicht cool,
wenn..."-Ideen vorhanden, und die wird dann - ähnlich MADAME
EDOUARD & INSPECTEUR LÉON - einfach brav vor einer Kamera
ausagiert. In der Kunst ist aber nunmal der "Inhalt" (fast)
nichts und die Ästhetik (fast) alles: Es gibt Regisseure,
die können das Schmieren eines Marmaladenbrots aufregender
inszenieren als andere das motorisierte Zersägen von 17 Zombies.
Und so lustig beispielsweise in MUCHA SANGRE die Szene ist,
in der die drei "Helden" von Kopf bis Fuß mit literweise Blut
besudelt sind, die eine von ihnen dann jedem ein Tempotaschentuch
zum Saubermachen austeilt und nach einem kurzen Umschnitt
alle wieder propperer, blitzblanker dastehen als der Weiße
Riese: Zwischen solchen Bringern ist zuviel zäher Leerlauf.
Und so glitt ich auch da nach ungefähr einer Stunde sanft
in den Schlaf, tat ab und an ein prüfendes Äuglein auf, um
dann z.B. einen abgetrennten Alien-Penis über die Leinwand
wüten zu sehen, dachte mir: Auch gut. Und hatte nicht wirklich
das Gefühl, dass da was war, was mich wach hätte halten sollen.
Der Kinoschlaf (über den, am Rande bemerkt, ein eigener
Essay einmal Not täte) bedroht aber interessanterweise zu
Festivalzeiten bevorzugt nicht nur den letzten, sondern
auch den ersten Film des Tages - und das keineswegs
nur bei den 9 Uhr-Vorstellungen der Berlinale. Irgendwie will
sich da das Hirn anscheinend noch nicht an den Gedanken gewöhnen,
dass es einen weiteren Tag seine angestammte Mütze voll Schlaf
nicht bekommen soll und dafür extern mit (Leinwand-)Träumen
versorgt wird. Das ist tendenziell noch nerviger als das Wegnicken
bei den Spätvorstellungen, wo man ja wenigstens eh von vornherein
damit rechnet und auch, nach getanem Kino-Tagwerk, eine gewisse
Berechtigung dazu verspürt.
Aber dieser Dämmerzustand kann in seltenen Fällen auch produktive
Wirkung zeigen, als da auf dem Fantasy Filmfest gewesen wäre
Sogo Ishiis DEAD END RUN. Und der ist nun überhaupt ein tripartiges
Cine-Poem, welches das Bewusstsein ohnehin in andere Sphären
beamt. Ich habe selten im Kino erlebt, dass ein Film so nah
an einem Äquivalent dran war zu dem, was für sprachliche Medien
die Lyrik darstellt. Der "Gegenstand", das "Erzählte" (drei
Episoden über fliehende Menschen) sind nur vages Rohmaterial
für die ästhetische Beobachtung, welche keine Zwänge des gewöhnlichen
Zeitflusses oder der "vernünftigen" narrativen Relevanz akzeptiert
- Bild und Ton verselbständigen sich quasi, auf eine Weise,
die noch viel radikaler ist als das "anything goes", das sich
der Film auf inhaltlicher Ebene gönnt, wo z.B. plötzlich das
Musical ausbricht, die Toten zu tanzen und singen anfangen;
oder jegliche Identitäten porös werden, zerfließen, sich auflösen.
Der Film frisst sich vielmehr, mit einem wilden Freestyle-Mix
der Filmformate, -qualitäten, -farben etc., mitunter in Bewegungen,
Rhythmen, Texturen fest, kann beispielsweise Minuten damit
verbringen, zwei mit gezückter Waffe gegenüberstehende Männer
zu zeigen - wobei eben "zeigen" eigentlich das falsche Wort
ist; wie einem Gedicht geht es ihm darum, an dieser Vorgabe,
dieser Konstellation, alles mögliche zu entdecken; wie eine
Jazz-Improvisation nimmt er dieses visuelle Thema als Sprungbrett
für schwindelerregende Ausflüge.
Und dass mich bei diesem Film dann trotz standhafter Versuchen
der Gegenwehr stellenweise ein übermüdungsbedingter Halbschlaf
angefallen hat, der sekundenweise auch noch eigene Traumbilder
in das delirierende Leinwandgeschehen interpoliert hat - das
hat das Erlebnis nur noch gesteigert.
Thomas Willmann
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