Als das kleinste unter den großen oder auch als das
größte unter den kleinen bezeichnete sich das 1946
gegründete Filmfestival von Locarno bis vor wenigen Jahren
gerne. Dann wurde es in die A-Klasse aufgenommen, offiziell
auf eine Stufe mit Berlin, Venedig und Cannes gestellt. Weil
Locarno mit diesen Großveranstaltungen aber doch nicht
konkurrieren kann und die Stars ausbleiben, macht man aus
der Not eine Tugend und erklärt stolz, dass hier nicht
Glamour und Stars, sondern die Filme im Mittelpunkt stehen.
Um jedes einzelne Werk müsse man freilich kämpfen,
erklären Festivaldirektorin Irene Bignardi und Festivalpräsident
Marco Solari immer wieder, das Bemühen dem Programm aber
ein eigenes unverwechselbares Profil zu geben ist unübersehbar.
Überragend war auch dieses Jahr wieder die Retrospektive,
die unter dem Titel "Newsfront" die vielfältigen
Darstellungen und Rollen von Journalisten im Film beleuchtete.
Über 90 Filme, der älteste von 1899, die neusten
von 2004 wurden in diesem Rahmen gezeigt.
Während etwa die Hälfte aller Filme der Retrospektive
aus den USA stammte, spielte Amerika im restlichen Festivalprogramm
nur eine untergeordnete Rolle. Auch im Piazzaprogramm, das
allabendlich bis zu 8000 Zuschauer anlockte, fanden sich in
diesem Jahr mit Nick Cassavates´ sentimentaler Schnulze
WIE EIN EINZIGER TAG und Paul Greengrass´ Agententhriller
THE BOURNE SUPREMACY, der erst im letzten Moment ins Programm
aufgenommen wurde, nur zwei US-Produktionen. "Human Rights"
- das große Anliegen der Direktorin sollen nicht nur
in einer eigenen, von ihr letztes Jahr geschaffenen Programmschiene,
sondern beim gesamten Festival im Mittelpunkt stehen.
Diesem Anspruch gerecht wird DER NEUNTE TAG, in dem Volker
Schlöndorff ein auf Tatsachen beruhendes Drama aus der
Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Für neun Tage
wird der luxemburgische Priester Henri Kremer (Ulrich Matthes)
1942 aus dem KZ Dachau entlassen. Wenn er in diesem Zeitraum
den Bischof seines Landes nicht zu einer positiven Stellungnahme
zum Nationalsozialismus bewegt, wird er ins KZ zurück
geschickt. Der Gewissenskonflikt des Priesters wird in der
Konfrontation mit dem Gestapooffizier Gebhardt (August Diehl)
zwar packend diskutiert, doch statt diesem Kammerspiel auch
durch die filmische Gestaltung Intensität und Kraft zu
verleihen, verlässt sich Schlöndorff ganz auf die
starken Dialoge und seine exzellenten Darsteller.
Für Menschlichkeit und Toleranz plädiert auch die
israelische Tragikomödie THE SYRIAN BRIDE. Im Stil von
Mira Nairs MONSOON WEDDING erzählt Eran Riklis von einer
in den besetzten Golanhöhen lebenden Drusin, die einen
syrischen Schauspieler heiraten soll. Da sie ihre Familie
nach der Hochzeit aufgrund der israelischen Einreisebestimmungen
nicht mehr besuchen darf, wird dieser Tag paradoxerweise der
traurigste ihres Lebens sein. Unterhaltsam zeigt Riklis die
Grenzen zwischen den Völkern, aber auch zwischen traditionell
denkenden Vätern und fortschrittlichen Söhnen, zwischen
einem Macho-Mann und seiner emanzipierten Frau, muss sich
aber angesichts des Ernstes der realen Situation im Nahen
Osten auch den Vorwurf der Verharmlosung gefallen lassen.
Eine jüdische Familie und ein Palästiner treffen
auch in Teresa De Pelegris und Dominic Hararis SERES QUERIDOS
/ ONLY HUMAN aufeinander, allerdings nicht im Nahen Osten,
sondern in Spanien: Beim Vorstellungsbesuch bei der jüdischen
Familie seiner Freundin fällt dem Palästinenser
Rafi ein Topf gefrorener Suppe aus dem Fenster und trifft
einen Passanten. - Witz bezieht diese Komödie aus der
Charakterisierung der Familienmitglieder von der nymphomanen
Schwester über den streng orthodoxen Bruder bis zum blinden
Opa ebenso wie aus den einfallsreichen Handlungswendungen.
- Billiger Klamauk ist dies einerseits, doch andererseits
wird hier auch ein Feuerwerk an Gags gezündet, das mit
dem Schlusssatz "Niemand ist perfekt" wohl bewusst
Erinnerungen an MANCHE MÖGENS HEIß wecken will.
Engagierter und interessanter als das Piazzaprogramm war,
obwohl auch hier die Meisterwerke fehlten, der Wettbewerb.
Privaten Geschichten, vorwiegend über Jugendliche, die
lernen müssen ohne Eltern zu leben, standen Filme mit
politischen Themen gegenüber.
Am sozialkritischen britischen Kino eines Ken Loach orientiert
sich Kenny Glenaan, der in YASMIN an einer Alltagsgeschichte
präzise und unsentimental zeigt, wie sich die Situation
der pakistanischen Communities in England durch 9/11 geändert
hat. Obwohl die junge Yasmin sich völlig an die englische
Lebensweise assimiliert hat, wird sie nach dem Anschlag auf
das WTC von den Briten schikaniert, als "Freundin Osamas"
- ein Name, mit dem sie nichts anfangen kann - beschimpft
und vom Arbeitgeber in Urlaub geschickt. Als ihr Cousin Faysal,
mit dem sie zwecks Einbürgerung eine Scheinehe geschlossen
hat, verhaftet wird, wandelt sich langsam ihre Haltung gegenüber
den Briten und sie bekennt sich zu ihrer islamischen Herkunft.
Eingebettet in eine realistische und durch den genauen Blick
für Details dichte Milieuschilderung zeigt Gleenan am
Beispiel seiner von Archie Panjabi hervorragend gespielten
Protagonistin plastisch, dass durch 9/11 auch die Gräben
in den multikulturellen Gesellschaften Westeuropas größer
geworden sind.
Ohne Schnörkel und unnötige Effekte, aber konzentriert
und im Vertrauen auf seine Darsteller hat auch der Südafrikaner
Ian Gabriel FORGIVENESS inszeniert. Die nach Abschaffung der
Apartheid eingerichtete "Wahrheits- und Versöhnungskommission"
hat den Polizisten Tertius Coetzee zwar freigesprochen, doch
er selbst kann sich den Mord an einem jungen Afrikaner nicht
vergeben. Psychisch gebrochen sucht er die Familie des Opfers
auf. Zunächst wird der Ex-Cop empört zurückgewiesen,
doch dann bittet ihn die Tochter doch länger zu bleiben,
freilich aus ganz anderen Gründen: Sie möchte Coetzee
hinhalten, bis die von ihr informierten Freunde des toten
Bruders eingetroffen sind. So schwingt einerseits in den bewegenden
Begegnungen von Täter und Opfer, ohne dies explizit zu
diskutieren, immer die Frage nach Schuld, Sühne und Vergebung
mit, andererseits funktioniert FORGIVENESS durch die von den
sich nähernden Freunden ausgehende Bedrohung auch als
spannender Krimi.
Menschen auf der Flucht sind ein zentrales Motiv im iranischen
Kino. In Hassan Yektapanahs hervorragend fotografiertem STORY
UNDONE wird dieses Thema ergänzt durch eine Reflexion
übers Filmemachen. Im abgelegenen gebirgigen Grenzland
will ein Filmregisseur mit realen Flüchtlingen einen
Film drehen. Wollen diese zunächst nur maskiert aufgenommen
werden, da sie in der Filmkamera eine Bedrohung sehen, wendet
sich das Blatt als die Gruppe von einer Grenzkontrolle aufgegriffen
wird. Nun spielen die Flüchtlinge gerne das Spiel des
Regisseurs mit, denn die vorgeblichen Dreharbeiten kaschieren
die wahre Flucht. Wenn dabei der Regisseur im "Film im
Film" nach den Motiven der Flucht fragt, vermischen sich
zunehmend die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem
und Yektapanahs Form kann auch als geschickter Trick zur Umgehung
der Zensur angesehen werden.
Der Italiener Saverio Costanzo verleiht dagegen PRIVATE den
Eindruck des Dokumentarischen durch den Gestus der beweglichen
und den Menschen immer nahen digitalen Handkamera. Wenn hier
von der israelischen Armee das Obergeschoß eines palästinensichen
Einfamilienhauses besetzt wird und die verfeindeten Gruppen
auf engstem Raum zusammen leben müssen, spiegelt sich
in dieser intimen privaten Geschichte, die durch die räumliche
Beschränkung auf das Haus Dichte gewinnt, die politische
Situation im Nahen Osten. Costanzo erzählt aus der Perspektive
der palästinensischen Familie und zeigt eindringlich,
wie durch den äußeren Druck die Anspannung und
Nervosität innerhalb der Familie wächst und die
verschiedenen Mitglieder unterschiedliche Gegenmaßnahmen
ins Auge fassen. Gleichzeitig gewährt er durch die Tochter,
die im Kleiderschrank versteckt die Israelis beobachtet, aber
auch Einblick in das Leben der Besatzer. Auch diese sind keine
homogene Gruppe, denn den Befehlshabern stehen Untergebene
gegenüber, die schikaniert werden.
In ihren Debüts aufs Private beschränkt haben sich
dagegen die Portugiesin Catarina Ruivo und der Belgier Joachim
Lafosse. Während Ruivo in ANDRÉ VALENTE durch
ihre elliptische und karge Erzählweise einen eindringlichen
und bewegenden Einblick in die Psyche eines vaterlosen Achtjährigen,
seine Ängste und seine Sehnsucht nach Geborgenheit und
Orientierung vermittelt, schildert Lafosse in FOLIE PRIVÉE
im Dogma-Stil wie ein Siebenjähriger zwischen den sich
streitenden Elternteilen förmlich zerrissen wird.
Mangelnde familiäre Geborgenheit und Mutterliebe hat
in Ayse Polats EN GARDE bei der 16jährigen Alice zu Verschlossenheit
und Kontaktarmut geführt. Als Betrunkene wurde ihre Mutter
mit 16 von einem Unbekannten in der Disco geschwängert,
nie hat sie das Kind akzeptieren können, es zuerst zur
Oma und Tante und nun nach deren Tod in ein Heim abgeschoben.
Verstärkt wird Alices Isolation durch eine psychosomatisch
verursachte Störung des Gehörs, die sie Geräusche
aus der Umwelt lauter als normal hören lässt. Zu
ihrer einzigen Bezugsperson wird die Kurdin Berivan, die sich
geradezu aufdringlich um Alices Freundschaft bemüht.
Wie Alice allerdings von anderen Heiminsassinnen ausgenützt
wird, so nützt sie Berivan aus und muss im Lauf des Films
lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich dem Leben
zu stellen. Maria Kwiatkowsky spielt zwar die junge Alice
sehr überzeugend und auch die Vermittlung des Hörfehlers
sorgt - ähnlich wie in DS WEISSE RAUSCHEN - für
eindringliche Momente, doch nach starkem Beginn vermag Polat
weder die Hauptfigur zu vertiefen noch die Geschichte entscheidend
weiter zu treiben. So schleppt sich EN GARDE, an dem auch
die Überdeutlichkeit, mit der die der Fechtsprache entnommene
Wendung als Metapher für das Leben verwendet wird, im
zweiten Teil mühsam dahin und wird mit einem Unfall notdürftig
zu einem Ende gebracht.
Ein ganzes Leben in 75 Minuten erzählt der Japaner Jun
Ichikawa mit TONY TAKITANI. Wie die Sandburg, die in der ersten
Einstellung gebaut wird, gleitet das Leben in dieser Verfilmung
eines Romans von Haruki Murakami an Tony vorüber. Das
emotions- und beziehungslose, das einsame und monotone ruhige
Dahinfließen der Jahre vermitteln dabei kongenial ein
Off-Erzähler, der den in gedämpfte Grau- und Blautöne
getauchten Bildern unterlegt ist, und eine Kamera, die Distanz
wahrt und wie vor einer Theaterbühne parallel zum Geschehen
dahin gleitet, aber sich nie nähert. Wie die Hauptfigur
nicht in das Leben involviert ist, so wird auch der Zuschauer
nie einbezogen und bleibt distanzierter, aber angesichts der
ästhetischen Geschlossenheit faszinierter Betrachter.
Für den künstlerischen Höhepunkt außerhalb
der Retrospektive sorgte aber Thomas Riedelsheimer mit seinem
neuen Dokumentarfilm TOUCH THE SOUND. Von Frankfurt nach New
York, nach Japan und dazwischen auch in ihre schottische Heimat
hat Riedelsheimer die Perkussionistin Evelyn Glennie begleitet
und spürt nach dem Porträt des Landart-Künstlers
Andy Goldsworthy (RIVERS AND TIDES) nun der Welt der Töne
nach. Allgegenwärtig sind in diesem Film Klänge.
Musik mischt sich mit Straßenlärm, mit dem Geräusch
von im Wind flatternden Fahnen, mit Meeresbrandung und Momenten
der Stille. Der Rhythmus, in dem hier die furiose Tonspur
mit bestechenden Landschaftsaufnahmen und behutsam eingebetteten
Aussagen Glennies gemischt wird, lassen dabei den Zuschauer
tief in diese Welt der Klänge eintauchen und in ihr versinken,
so dass er mit - zumindest vorübergehend - geschärften
Sinnesorganen das Kino verlässt.
Auch bei Patrice Leconte, der für die größte
Enttäuschung des Festivals sorgte, war Musik der Ausgangspunkt
für seinen neuen Film. Begeistert von Etienne Perruchons
Komposition DOGORA beschloss der französische Regisseur
dazu Bilder zu suchen. In Kambodscha hat er sie gefunden,
doch die filmischen Impressionen müssen sich der Musik
völlig unterordnen. Wie Godfrey Reggio in KOYAANISQATSI
degradiert Leconte die Menschen zur Staffage. Lecontes Blick
ist weder der des Ethnographen noch der des Sozialkritikers,
sondern einzig der des teilnahmslosen Ästheten. Je nach
Situation in monochromes Blau, Grün, Rot oder Gelb getauchte
Postkartenansichten werden im Rhythmus der Musik aneinander
gereiht - eine kitschige, menschenverachtende Sauce ist so
entstanden.
Walter Gasperi
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