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03.02.2005
 
 
         

Kubrick - Das ausgestellte Genie
Ein Besuch auf der Kubrick-Ausstellung des Deutschen Filmmuseums im Martin-Gropius-Bau in Berlin (20. Januar bis 11. April 2005)

 
       
 
 
 
 

Der Saal im Berliner Gropius-Bau ist gefüllt, die Atmosphäre fiebrig. Eine lange Rednerliste, es sprechen zunächst die üblichen Honoratioren, dann Kubricks mehrfacher Produktions-Designer Ken Adams, dann Jan Harlan, Schwager und langjähriger Produzent seiner Filme, schließlich Kubricks Witwe Christiane, die der Ausstellung posthum den Segen ihres Mannes gibt: "Stanley wäre stolz auf diese Ausstellung". Nicht nur, wie sie unter Gelächter mitteilt, weil Kubrick froh gewesen wäre, dass seine angehäuften Materialen endlich "geordnet" würden, sondern um den Menschen hinter den Legenden und hinter den Filmen wieder erkennbar werden zu lassen. Die Fotografen knipsten, dann schoben sich die Massen durch die Gänge.

Schon dieser feierliche Ritus ließ eine Vorahnung davon aufkommen, dass hier nicht einfach eine Ausstellung eröffnet wurde, sondern sich gleichsam eine Initiation vollzog: die feierliche Eingemeindung des Außenseiters Kubricks in die Reihe großer Filmkünstler, und die Einreihung seines Werks in das Pantheon des allgemeinen Kulturbewusstseins. Unmöglich, sich vorzustellen, dass Kubrick, der das "Licht der Öffentlichkeit" konsequent scheute, selbst auf so einer Veranstaltung erschienen wäre, schon weil es ihm ein Graus gewesen wäre, sich in jenen Mark-und-Spencer-Anzug zu zwängen, den er sich allein nur für die Hochzeit einer seiner Töchter angeschafft hat.

Nun bestimmt sein Nachlass einen wesentlichen Teil dieser "weltweit ersten Ausstellung" - der andere Teil besteht aus Originalrequisiten und Filmausschnitten. Auf den ersten Blick mag es wie ein Paradox wirken, ausgerechnet die Annäherung an Filme, die doch fern jeder persönlichen Äußerung und Botschaft zu sein scheinen, über die Person vornehmen zu wollen. Aber selbstredend sind auch diesmal Filme und ihr Regisseur aufs innigste miteinander verbunden. Kunst ist, was immer sie sonst sein mag, Kommunikation, Mitteilung; das Werk ist die Stimme aus dem Dunkel, und nichts ist natürlicher als der Wunsch, die Person hinter den Worten kennenzulernen. Anthony Burgess, Autor von "A Clockwork Orange", schrieb einmal, hätten wir die Wahl zwischen einem neuentdeckten Stück Shakespeares, und einem Waschzettel, auf den Shakespeares Namen stünde, der uns endlich seine historische Existenz beweisen würde, wir würden ohne Zögern den Waschzettel wählen. In dieser Feststellung steckt eine tiefere Wahrheit, als in dem neo-romantischen, und völlig nutzlosen Versuch der französischen Post-Strukturalisten, den lästigen Autor ganz aus dem Weg zu schaffen oder zum bloßen Beiwerk des Textes zu erklären.

So ist es ein sehr erfreuliches Vorhaben dieser Ausstellung, einen besseren Zugang zur Person Kubrick zu ermöglichen, die kaum bekannter ist, als die Person Shakespeares. Angesichts der Erwartung, dass Schöpfer großer Werke uns nur als Wahnsinnige gegenüber treten könnten, und ähnlicher Vexierbilder ist es eine große Freude, sich anhand der Set-Fotos zu den Dreharbeiten zu BARRY LYNDON, SHINING, und DR.STRANGELOVE der irdischen Existenz Kubricks vergewissern zu können. Man sieht einen sehr freundlichen und sehr konzentrierten Mann, dessen stets nachlässige Kleidung verrät, dass es ihm auf den äußeren Eindruck nicht ankommt. Doch am stärksten kommt die Persönlichkeit Kubricks in den Zeugnissen seiner Arbeit zum Ausdruck.

Ein Regisseur auf der Suche nach sich selbst

Hier geraten zunächst die Kopien der Original-Drehbücher in den Blick. Sie nehmen sich im Verhältnis zu den Filmen ausgesprochen dünn aus. Was gänzlich in ihnen fehlt, ist jeder Hinweis auf die visuelle Umsetzung. Weder finden sich Kameraanweisungen, noch Hinweise auf Perspektiven. Nicht, weil Kubrick sie schon im Kopf gehabt hätte und sie deswegen nicht mehr hätte aufschreiben müssen, sondern weil er sie vielmehr nicht im Kopf hatte. Kubrick war nicht in erster Linie Regisseur, in erster Linie war er ein Suchender.

Zu Kubricks Konzept von Wahrheit und Wahrhaftigkeit gehörte es, erst den Inhalt eines Films, einer Szene möglichst ausführlich und prägnant zum Tragen kommen zu lassen, dazu gehörte die Geschichte, aber auch das Spiel der Darsteller. Erst am Schneidetisch, so schrieb sein kenntnisreicher Vertrauter, der britische Filmkritiker Alexander Walker, bemühte sich Kubrick zu verstehen, was er gedreht hatte, und hier offenbart sich, welche Art von Künstler er war: Kein ästhetischer Schmock, der seine visuellen Versionen über jedweden Inhalt stellt, und daher mit manchen fragwürdigem Inhalt verband; kein Prediger, der seine Wahrheiten immer schon außerfilmisch für sich deklamieren konnte, sondern ein Suchender. Seine Filme sind Resultate eines Suchens nach sich selbst. Ein Drehbuch war höchstens eine grobe Skizzierung des Weges. Manchmal fehlte es an einem Drehbuch, wie im Fall der nicht verwirklichten Verfilmung von Louis Begleys "Wartime Lines", sogar gänzlich. Es gehört zur Logik des Suchens, dass nach dem beendeten Film - im Genre, im Thema, in der Wahl der Darsteller - der radikale Neuanfang stand. Die Angst Kubricks, sich zu wiederholen, war nicht einer Originalitätssucht geschuldet, sondern entsprang dem Drang der Suche nach sich selbst.

Der "Sucher" Kubrick wird noch sichtbarer an jenem Gegenstand, der mit Recht zum Stolz der Ausstellung zählt: Der ominöse, geheimnisumwitterte Karteischrank zu dem berühmtesten aller nicht gedrehten Filme: Dem Napoleon-Film, den Kubrick über Jahre verfolgt, und bis zur Drehreife entwickelt hat, und den er dennoch nicht hatte drehen können. Auch das Napoleon-Projekt war eine Suche, eine Suche nach dem Genie, und der Ursachen der Fehlbarkeit selbst eines Genies wie Napoleon. Über die Gründe des Scheitern dieses Projekts mag man spekulieren, da hat vordergründig der Zufall eines kurz vorher gefloppten Napoleonfilms Ausschlag gegeben, der die Produzenten die Gelder zurückziehen ließ.

Aber ein tieferer Grund mag auch daran liegen, dass der Spiegel "Napoleon" für Kubrick zu identifikatorisch war. Kubrick drehte nicht einfach Filme (wie andere Filme drehen, in regelmäßigen Abständen), sondern er "schuf" Filme, wobei der Schöpfungsprozess durch den harten, gefrorenen Boden der Tatsachen ging. Hier zeigt sich der Unterschied sogar zum späten Scorsese, oder zu Spielberg: Ihr Blick, ihre Herangehensweise ist von vornherein "filmisch". Das führt zu manchmal genialischen Ergebnissen, aber in allem Genialischen stellt sich doch wieder ein Gefühl der Redundanz ein. Wie sie filmen, ist manchmal neu und frappierend, aber was sie filmen, ist, was wir bereits schon von der Welt zu wissen meinen.

Kubricks Genie bestand darin, dass er die Welt auch vom Inhalt her aufbrach. Ein Großteil seiner über Jahre sich hinziehenden Arbeit an einem Film bestand nicht darin, schon nach (filmischen) Lösungen zu suchen (die er dann relativ schnell fand), sondern Probleme erst überhaupt zu schaffen und anzuhäufen, weil erst, wo es neue Probleme gibt, es auch neue Lösungen geben konnte.

Allein, um sich das Sujet als Problem zu denken, benötigte Kubrick seine jahrelange Vorbereitung. Dass Kubrick auch auf der filmischen und technischen Seite derart erfindungsreich und innovativ war, von der Zentrifuge in "2001" bis hin zur Steady-Cam in SHINING (die wir, teils in Modellen, auf der Ausstellung bewundern können), bis hin zu ästhetischen Neuerungen (dem 2-Akt-Film bei FULL METALL JACKETT, des Gefrierens von Zeit in BARRY LYNDON) lag eben vor allem daran, dass Kubrick nicht nur die Welt aufbrach, sondern sich diese wiederum neu erfand, und als Neuerfinder sich wie ein Schöpfer verhalten musste, woher sich auch seine Akribie und seine Detailversessenheit erklärt. Wie hätte sich aber Kubrick die Welt eines Genies bauen können, die soviel ähnliche Züge mit seiner eigenen Welt besaß, und die daher im Grund schon existierte? Wenn die Suche auch nach Napoleons Scheitern eine Suche nach sich selbst war, wie hätte sich Kubrick dann darin finden können, und - was hätte er gefunden?

Vielleicht mag ein mythologischer Grund des Scheitern des Napoleons-Films darin bestehen, dass Kubrick ahnte, dass dieser "beste Film alle Zeiten" ein napoleonisches Vorhaben war, das für ihn auch in dem Desaster eines Russland-Feldzuges hätte enden können.

Die Fotos, die Drehbücher, der Karteikasten, in dem sich wie in einem Aggregatzustand seine Arbeitstätigkeit, sein manisches Suchen, materialisiert hat, all diese Gegenstände laden dazu ein, sich tiefer in Werk und auch in die eigene Erinnerung der einst gesehenen Filmbilder zu versenken. Hätte es die Ausstellung dabei belassen, solches Anschauungsmaterial vor Augen zu stellen und hätten sie sich damit begnügt, uns weitere sachdienliche filmanalytische Hilfen zu geben, wie etwa dem gelungenem halbstündigen Zusammenschnitts von Filmszenen, in dem uns an ausgewählten Beispielen eine Vorlesung über die Kubricks Behandlung der Musik gegeben wird, es wäre eine große Ausstellung zu einem großen Filmkünstler geworden.

Leider aber bescheiden sich die Ausstellungsmacher nicht in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu ihrem Gegenstand, sondern entwickeln den fatalen Ehrgeiz, sich sozusagen gleich zu gleich zu setzen, wodurch die Ausstellung einen Beigeschmack bekommt, aus dem man erst mit der Zeit die Geschmacksrichtung herausschmeckt. Diese geheime intentionale Ausrichtung zeigte sich dort, wo über die bloße Anordnung des Nachlasses hinausgegangen wird, und die Ausstellungsmacher zu inszenieren beginnen. Das Konzept der Ausstellung, zu je einem Film einen Raum zu schaffen und dort die entsprechenden Gegenstände, Drehbücher, Filmausschnitte der jeweiligen Filme zu zeigen, ist zunächst so schlicht wie schlüssig. Auch spricht nichts dagegen, die Originalrequisiten in den Räumen unterzubringen - außer vielleicht, dass Original-Requisiten an sich schon desillusionierend wirken. Die Axt aus SHINING, die Kostüme aus BARRY LYNDON, die Puppe des Sternenkinds aus "2001", der Nachbau der Sitzmöbel der Milchbar aus CLOCKWORK ORANGE, all diese Gegenstände fallen, entkleidet, von Farbe, Licht, Musik und ihrer innerfilmischer Bedeutung wieder auf sich selbst zurück. Die Ansammlung dieser Requisiten wirkt so, als würde man die Geraderobe eines Zauberers plündern, ohne in den sinnfälligen Genuss seiner Tricks kommen zu können.

Aber auch eine solche Desillusion macht ja wiederum lehrhaft Sinn, sie offenbart die Lücke, die zwischen der Gegenständlichkeit der Welt und der Verzauberung durch die Imagination klafft, und lässt damit die Abwesenheit des Zauberers schmerzlich sichtbar werden.

Das Fatale besteht nun darin, dass die Ausstellungsmacher diese Lücke selbst meinen schließen zu können, ja zu müssen. Keine Ausstellung, so heißt es im Katalog, könne es vermeiden, ihren Gegenstand zu kommentieren. Nach dem Motto, was sich nicht vermeiden lässt, tun wir erst recht, heißt es weiter: "Doch fordert ein Regisseur wie Kubrick, der im eigenen Kino der Erzählung und dem sprachlichen Kommentar zum eigenen Werk derart misstrauisch gegenüberstand, dazu auf, die in der Deutung gewählten Mittel eigens zu reflektieren. Weil sich des Regisseurs ästhetischer Einsatz gänzlich auf die evokative Macht der eigenen Bilder verlässt, setzt die Ausstellung auch auf deren Verdichtung in szenischen Installationen".

Dies ist in der Tat ein Kommentar, der Misstrauen verdient hat. Wieso hätte Kubrick, der Fortentwickler des klassischen Geschichtenerzählens, der Erzählung misstrauen sollen? In mindestens zwei seiner Filme lässt er einem Off-Erzähler breitesten Raum. Wieso hätte Kubrick vom Wissenschaftler verlangt, selbst statt eines informativen Kommentars auf die "evokative Macht" von Bildern zu setzen?

Natürlich ist das alles nicht "so" gemeint, denn natürlich lassen sich die Kuratoren bei aller scheinbaren Distanz zum Wort nicht davon abhalten, im Katalog höchst wort- und kommentarreich ellenlange Bedeutungs-Exegese zu betreiben. Aber dieser Kommentar dient nur der Selbsteinladung, es Kubrick praktisch gleich zu tun. "Verdichtung" ist ja nun mal kein erkenntnishafter, sondern ein künstlerischer Vorgang, und Ziel ist es, Kubricks Filme in "räumlichen Allegorien" zu verdichten.

Konkret sieht das so aus, dass beispielweise der Raum zu BARRY LYNDON mit einem Requisiten-Fundus, den man in jedem Stadttheater findet - Reisetruhe und Samtvorhängen -, ausgestattet wird, wodurch ein Verdichtungseffekt entsteht, der sich zu BARRY LYNDON verhält, wie Bad Segeberg zu den Karl-Filmen verhält (aus der Erlebniswelt eines 7jährigen gesehen). Manifest wird die Abkehr von wissenschaftlicher Analyse und hin zur freien Entfaltung künstlerischer Energien in einer Art besonders kreativen Einfalls: In BARRY LYNDON hat Kubrick bekanntlich die Landschaften nach dem Vorbild der Landschafts- und Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts nachgestaltet, ein Stilmittel, dass unter anderem für den Eindruck der Distanz verantwortlich ist, in der uns die Menschen des Films entrückt scheinen. Anstatt nun also das zu tun, was aus wissenschaftlicher Sicht spannend und aufschlussreich wäre, nämlich die Kopien der Gemälde von Malern, die Kubrick sich zum Vorbild bei seinen Bildkompositionen erhoben hat, neben Szenenfotos zu hängen, werden nun vergrößerte Szenenbilder aus BARRY LYNDON einfach in Goldrahmen gesteckt, wodurch diese, wie die Kuratoren sich erhoffen, "wie Ölgemälde" wirken. Selbst wenn sie so wirken würden, so würden sie doch nur so wirken, wie sie in BARRY LYNDON bereits schon auf jeden Zuschauer wirken, und wie sie auch jeder Zuschauer an sich beschreiben kann, und zwar gänzlich ohne die zusätzliche und lächerliche Kommentierung durch die Einrahmung in Gold.

Zu allem Überfluß verfälschen die Goldrahmen die Wirkung der Filmkompositionen, da diese die Bilder hin zu "Gemälden" vereindeutigen, wohingegen der suggestive Zauber der Szenenbilder in Kubricks Film gerade in deren Doppelwertigkeit liegt, zugleich "wie ein Gemälde", wie aber in filmillusionistischer Hinsicht "echt", abgefilmte Natur zu sein. Das Ganze ist so bar jeden Sinns, bar jeder Reflektion, und überdies von einer derart geschmacklichen Fragwürdigkeit, dass man sich am liebsten mit dem Kinderlied "Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt...." ablenken würde.

Dies ist nun keine einmalige Entgleisung, sondern System. Es dominiert nicht allein die Absicht, die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft zu verwischen, sondern der Wunsch, sich über diese Verwischung das Werk Kubricks möglichst ohne Umwege, ohne inhaltliche und moralische Rückbestände einzuverleiben. Indem man sich zur Ästhetik Kubricks nicht mehr aufklärerisch, kommentierend, analytisch, sondern in der Hauptsache nur noch ästhetisch verhält, trivialisiert man nicht nur umgekehrt dessen eigene Ästhetik - denn alle Nachahmerei muss ja hinter Kubrick selbst notgedrungen zurückbleiben -, sondern man raubt der ästhetischen Form auch Inhalt und Wirkung, von deren Sprengkraft doch die reiche Rezeptionsgeschichte Zeugnis ablegt.

Es ist bezeichnend für den Versuch, sich die Ästhetik Kubricks einzuverleiben, dass in der Ausstellung von den Erschütterungen, die die Filme Kubricks regelmäßig ausgelöst haben, so gut wie gar nichts mehr zu sehen ist. Natürlich vergisst man nicht, den Skandal um CLOCKWORK ORANGE zu erwähnen, und im Raum zu LOLITA findet man zwei Briefe christlicher Fundamentalisten, die ihre moralischen Bedenken anmelden. Aber dies sind natürlich Reaktionen aus Lagern, die schon damalige Intellektuelle und Filmschaffende eher müde lächeln ließen.

Was aber unterschlagen wird, ist die Tatsache, wie groß die moralische und ästhetische Provokation der Filme auch für die Intelligenzija war. Hat es das Werk Kubricks nicht verdient, auch mit den kritischen Stimmen aus dem aufgeklärten Publikum "ausgestellt" zu werden, weil diese doch zeigen, dass die Filme Kubricks eine ernsthafte Auseinandersetzung wert sind? Warum keine Pauline Kael erwähnen, die im "New Yorker" gegen BARRY LYNDON Kubrick Kälte gegenüber seinen Figuren vorwarf, und die Blutleere und Langeweile des Films beklagte? Warum nicht den feingeistigen Kritiker und Drehbuchautor Reinhold Baumgart erwähnen, der CLOCKWORK ORANGE ernstlich mit Postfaschismus in Verbindung brachte? Oder das Urteil eines Ulrich Gregor, Begründer des "Jungen Forums" der Berlinale, der denselben Film in seiner "Geschichte des Films ab 1960" als ein, "prätentiöses, soziologisches Traktat, angereichert mit unnötigen Grausamkeiten und Monstrositäten" beurteilte? Hätten es diese und andere zeitgenössische Kritiker nicht verdient, auch vor den Ohren und Augen heutiger Kubrick-Fans herbeizitiert zu werden, schon um zu zeigen, in welchem Ausmaß die Ästhetik dieser Filme auch manche intelligenten Zeitgenossen herausforderte, die im Umgang mit Kunst und Ästhetik doch sicherlich geübt waren?

Anstatt die Ikonographisierung der Ästhetik Kubricks zu betreiben, wäre vielleicht mit Hilfe dieser Stimmen noch mal bewusst geworden, in welchem Ausmaß die Filme Kubricks nicht nur damals, sondern auch heute noch eine Zumutung für ein alltägliches Verständnis der Welt sind, und sich daher jeder profanen Einverleibung widersetzen. Denn was Kubrick tatsächlich zum Genie macht, ist eben nicht eine leere Virtuosität, sondern die Außergewöhnlichkeit seiner Sichtweise, und die Konsequenz, diese Sichtweise in eine rein ästhetische Form umzusetzen. Der Form aber hängt ein bestimmter Blick auf das Leben an, der dafür Sorge trägt, dass wir mit unserer alltäglichen Sichtweise über Kreuz geraten.

Deshalb werden diese Filme immer einen inneren Skandal in unserem Gefühls- und Moralhaushalt auslösen: Die Landschaften in BARRY LYNDON nach Gemälden zu komponieren, gehorcht nicht einer schönen, hübschen Ausstattungsidee, wie es die "Installation" der Ausstellungsmacher suggeriert, sondern birgt als ihren Inhalt die desillusionierende und schwer zu tragende Einsicht in die Entfernung und damit der Uneinholbarkeit der Vergangenheit, und damit in die Unüberwindbarkeit des Todes (womit Kubrick die übliche Illusion eines Historienfilms geradezu ins Gegenteil verkehrt). LOLITA ist trotz, oder vielleicht gerade wegen der Entbehrung eines Sex-Skandals eine Einübung in die Einsicht in den unauslöslichen Zusammenhang von Lust und Zerstörung. Selbst DR.STRANGELOVE, der sich in seiner satirischen Darstellung der Atomkriegs-Gefahr mit seinem Publikum wie kaum ein anderer Film einig wissen konnte (und sofort ein Kassenschlager war), fordert uns nicht nur selbst ein doch ziemlich groteskes Lachen ab, sondern nötigt uns in dem suggestiven Zusammenspiel von sanfter, verführerischer Melodie und der Explosion der Atombombe auch die Einsicht in die Schönheit des zerstörenden Atomplizes ab. SHINING und EYES WIDE SHUT schließlich sind, sofern man dies überhaupt auf einen solchen allgemeinen Punkt bringen will, Reisen in die Macht des Unbewussten und der eigenen Irrationalität.

Schließlich CLOCKWORK ORANGE: Ich glaube, dass die eine Seite der Morallehre dieses Films mittlerweile allgemeine Akzeptanz gefunden hat, nämlich die, dass es besser ist, das Böse zu akzeptieren, statt Menschen zu schaffen, die dieser Wahlmöglichkeit beraubt sind; eine Lehre, die immerhin die Einsicht in das Vorhandensein und die Notwendigkeit des Bösen in der Welt einfordert. Die andere, düstere Seite der Morallehre dieses Films ist meiner Ansicht nach die aber noch völlig verdrängte Lehre über die Ursache des Bösen. Das Böse kommt in CLOCKWORK ORANGE nicht etwa aus der Gesellschaft (die ja im Zweifelsfall immer die "Hölle der anderen" ist), sondern speist sich aus derselben Quelle, wie das Gute. Die Gewalt entspringt der Liebe zur Gewalt, so wie die Liebe zu "Ludwig Van" der Liebe zur Musik entspringt. Das Böse wie das Gute entspringen der Lust zum Leben, das Böse hat keine andere Ursache ("Sie fragen ja auch nicht nach der Ursache des Guten", wie Burgess seinen Helden Alex in seinem Roman hämisch die vergeblichen Bemühungen des Sozialarbeiters kommentieren lässt). Obwohl der Film (wie der Roman) die Verbindung von Gewalt und Schönheit gewissermaßen am Zuschauer selbst vorexerziert, indem er den Zuschauer mittels seiner ästhetischen Mitteln dazu überredet, seine moralische Abscheu vor den Vergewaltigungen des Helden zumindest ein bisschen vergessen zu lassen, ist es eben die verdrängte Lehre des Films, die sich bis heute der Kanonisierung der "schönen Form" dieses Films sperrt.

Man mag an diesem kurzen Abriß sehen, worin der immerwährende "Skandal" der Filme Kubricks liegen wird. Es sind nicht einfach "Kontroversen", die Wellen der Aufgeregtheit auslösen, die mit der Zeit wieder verebben, es ist nicht einfach eine allgemeine "Umstrittenheit", die sich im Laufe der Jahre in Wohlgefallen auflösen lassen könnte, es sind die sozusagen ontologischen Qualitäten der Filme selbst, die ihnen in ihrer ästhetischen Form anhaften, die keine Botschaften, aber Sichtweisen auf das Leben sind, die uns in unserem alltäglichen Verhaftetsein in notwendigen Illusionen immer wieder von Neuem erschüttern werden. Dass Lust und Tod einen unauflösbaren Zusammenhang bilden; dass von den Bildern der Zerstörung Schönheit ausgehen kann; und dass umgekehrt aus der Liebe zu Schönheit auch Gewalt entsteht; dass die Vergangenheit uneinholbar und der Tod unüberwindbar sind, und dass wir letztlich von Mächten bestimmt werden, die außerhalb der kontrollierenden Funktionen der Vernunft liegen, sind Erkenntnisse, die man wohl noch mit mancher wohlkredenzter Formulierung herunterzuspülen vermag, die aber der Mensch in seiner Alltäglichkeit kaum wirklich leben kann, und die er deshalb notwendigerweise verdrängen muss. Um so mehr bedürfen wir Filme, wie denen von Kubrick, um diese Erfahrung in unser Leben zurückholen zu können. Das ist der Wert von Kunstwerken im Allgemeinen und der Filme Kubricks im Besonderen.

Daher ist der wenn auch dilettantische Versuch der Inthronisierung einer Ästhetik schon eine Aushöhlung der Ästhetik selbst, und der eigentliche geheime Skandal der Ausstellung. So wunderbar es ist, nun hinter all den Legenden und Filmen auch den Charakter und der Persönlichkeit Stanley Kubricks kennenzulernen, seine Freundlichkeit, seine Disziplin, aber auch seine Unerbittlichkeit, mit der er seinen Produktionsdesigner Ken Adams (und ihn wohl nicht als einzigen) fast in den Wahnsinn trieb, so fatal kommt einem der Versuch vor, auch seine Filme für unser Bewusstsein zu "verhäuslichen" und damit aber jenen Werts zu berauben, der sie doch auszeichnet, nämlich uns eine andere Sicht auf das Leben zu ermöglichen. Dann doch lieber wieder das Lügenbild von Kubrick als Wahnsinnigen, als einen Kubrick, der alle Sichtweisen erfüllt, die der Filmanalytiker schon in seinen Begriffen und im Katalog ausgebreiteten Allgemeinplätzen wie probat zur Verfügung stehen. Die kurze Rede einer Vortragsrednerin bei der Eröffnung, die in der Traube der Menschen gesichtslos zu mir schallte, Kubrick hätte einen "Spagat" zwischen den populären Film und den Kunstfilm versucht, womit sie zeigt, dass sie ihr eigens kategoriales Denken auf Kubrick ohne Not projiziert, sprach jedenfalls Bände.

Dennoch, trotz dieser Tendenzen der Ausstellung, setzen sich die Filme Kubricks gegen solche Versuche zur Nivellierung und Eingemeindung fast ohne Mühe zur Wehr. Schon wer die kurzen Sequenzen der Ausstellung wahrnimmt, spürt, welche Kraft diesen Filmen innewohnt; sie lassen sich nicht einverleiben, jedenfalls nicht ohne die Lust, sich ihrer Sichtweise auf das Leben hinzugeben. Daher braucht man vor dem Besuch der Ausstellung nicht zu warnen - im Gegenteil: Wem die Filmbilder Kubricks vertraut sind, wird sie die Ausstellung ohne Mühe wieder lebendig werden lassen. Noch wissen sich die Filme Kubricks solcher Einverleibung zu erwehren. Zu sehen, dass die Filme diese Probe auf Exempels bestanden haben, ist ja auch eine Erkenntniss, mit der man beruhigt nach Hause gehen kann. Das ausgestellte Genie wehrte sich seiner Ausstellung.

Frank Müllers

P.S. Der Katalog zur Ausstellung ist leider nur bedingt empfehlenswert. Zwar finden sich zum Hintergrund von Kubrick einige interessante Texte; so z.B. ein Interview mit Ken Adam, ein weiteres mit Chris Baker, dem Zeichner der Entwürfe zu "A.I.", dazu einige durchaus informative Texte und Analysen, wie den Aufsatz zu den Filmformaten und Kameras von Kubrick. Ansonsten finden sich Beiträge die für die Selbstreferentialität der Wissenschaft vielleicht hübsch sind (Moderne/Postmoderne etc.), und die üblichen psychoanalytischen, soziologischen Deutungen enthalten, aber erstaunlich wenig zum Verständnis von Kubricks künstlerischem Schaffen beitragen. Beiträge dieser Art lassen sich anderswo besser nachlesen. Empfohlen sei dafür das von Alexander Walker, Sibil Taylor und Ulrich Ruchti herausgegebenen Buch: Stanley Kubrick - Leben und Werk (Henschel-Verlag). Ansonsten sollten Berliner Leser die Filmreihe zur Ausstellung nutzen, die Termine sind auf der Webseite zur Ausstellung www.stanley-kubrick.de abrufbar.

 

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