Anläßlich von Martin Scorseses GANGS OF NEW YORK
habe ich an dieser Stelle darüber nachgedacht, dass sich
seine Genialität in erster Linie in einzelnen Szenen,
die sich regelrecht in unser Gedächtnis einbrennen, zeigt.
Jeder seiner Spielfilme enthält diese bemerkenswerten
und nachhaltigen Passagen, die zum ewigen Fundus der Kinogeschichte
zählen.
Nun ist Scorseses neuester Film THE AVIATOR in unseren Kinos,
ein 165 Minuten langes Bio-Pic über den Filmemacher,
Frauenheld, Flugzeugpionier, Millionär und krankhaften
Exzentriker Howard Hughes, voll gepackt mit Stars, Ausstattungsorgien,
rasanten Flugszenen und allem, was man für "großes
Kino" braucht.
Was der Film jedoch nicht hat, sind gerade die oben beschriebenen,
für Scorsese sonst so typischen Szenen, die einen bleibenden
Eindruck hinterlassen würden.
Man verstehe mich nicht falsch. THE AVIATOR ist ein guter
Film. Aber er ist sicher kein Meisterwerk, wie mehrfach schon
behauptet wurde, und schon gar nicht ist er ein Martin Scorsese
Meisterwerk, ja selbst als Scorsese Film ist er kaum zu erkennen.
THE AVIATOR ist aufwendiges Unterhaltungskino, mit deutlich
mehr Anspruch und dafür mit viel weniger Pathos als eine
durchschnittliche Jerry Bruckheimer-Produktion.
Im Grunde sollte man sich freuen, so gut gemachtes Mainstreamkino,
das über fast drei Stunden keine Langeweile aufkommen
läßt, sehen zu können. Aber dann ließt
man den Namen Martin Scorsese im Abspann und beginnt doch
zu überlegen, was dessen bisheriges Oeuvre war und kommt
so zu der Frage, warum er diesen Film auf diese Art gemacht
hat.
Manche behaupten, Scorsese arbeite hier mit aller Macht darauf
hin, endlich einen Oscar für den besten Film zu bekommen.
Das klingt zwar logisch, aber wenn man tatsächlich annimmt,
dass er unter Zurückstellung des eigenen künstlerischen
Anspruchs einen publikumswirksamen Film dreht, um einen Preis
zu gewinnen, dessen zweifelhafte qualitative Aussagekraft
dem Filmhistoriker Scorsese mehr als bewußt sein müsste,
so darf man an dieser Theorie schon zweifeln.
Wahrscheinlicher erscheint es da, dass Scorsese einfach einer
kommerziellen Notwendigkeit nachgegeben hat. Denn gute Kritiken
für wertvolle Filme führen keineswegs zu positiven
Einspielergebnissen (meist ist leider das Gegenteil der Fall).
Ohne aber zumindest hin und wieder einen finanziellen Erfolg
zu landen, findet sich bald kein Produzent mehr bereit, weiterhin
solche Filme zu finanzieren, womit einem als Regisseur nur
noch billiges Independent-Kino oder weitgehende Verweigerung
(wie z.B. bei Terrence Malick) bleiben würden.
Doch so ganz außerhalb des "Systems" zu bestehen
ist auch nicht einfach, weshalb früher oder später
fast alle anspruchsvollen Regisseur kommerzielle Filme drehen,
die mit ihrem sonstigen Werk kaum in Einklang zu bringen sind.
Beispiele aus den letzten Jahren hierfür sind u.a.: Gus
van Sants FINDING FORRESTER, Ang Lees HULK, Richard Linklaters
SCHOOL OF ROCK, INTOLERABLE CRUELTY von den Coen-Brüdern,
Oliver Stones ALEXANDER und Steven Soderberghs OCEAN'S 11
bzw. 12. Dass diese Ausflüge von der Kunst zum Kommerz
kein Zuckerschlecken sind, beweist dabei z.B. der Rauswurf
von Paul Schrader bei EXORCIST: THE BEGINNING.
Dass Regisseure solche Filme machen, ist keineswegs verwerflich,
schließlich wird damit gesichert, dass sie auch in Zukunft
wieder unangepasstes Kino machen können. Und ganz nebenbei
kommt der Zuschauer ja auch in den Genuß eines gehobenen
Mainstreamfilms.
Verhängnisvoll jedoch wird es, wenn die Kritik solche
Filme in den Kontext des bisherigen Werks eines Regisseurs
stellt.
Wer versucht, THE AVIATOR die klassischen Scorsese Themen
und Techniken überzustülpen, leistet dem Film einen
Bärendienst, da man ihm so mehr zuspricht, als er in
Wirklichkeit sein will und kann, was zwangsläufig zu
Enttäuschungen führt.
Denn stellt man THE AVIATOR neben Scorseses bisherige Filme,
kann er in keinem Punkt bestehen.
Die von Leonardo DiCaprio gespielte Figur des Howard Hughes
erhält nie die tragische Glaubwürdigkeit, die Scorseses
verzweifelte "Helden" von MEAN STREETS bis BRINGING
OUT THE DEAD auszeichnete. Auch die gewohnt gemischte Besetzung
fügt sich hier nicht zu einem stimmigen Ensemble zusammen,
sondern bietet zwischen kleinen Bravourstücken und schlichtem
Scheitern alles. Die Kameraführung ist so uninspiriert
wie selten zuvor, dafür sollen unmäßig eingesetzte
Spezialeffekts (vor allem in den Flugszenen) für Dynamik
sorgen und bringen doch nur Hektik. Die Leinwand quillt über
vor Opulenz und zeigt doch keine bleibende Bilder.
Am stärksten ist Scorsese noch in den kleinen, kompakten
Szenen, in denen wenige Menschen auf engem Raum agieren. Ein
Taxi, ein Boxring, ein Spieltisch; das war und ist das Format,
in dem er sein wahres Talent zeigen kann.
Aber in THE AVIATOR versucht er sich (zu) oft am "big
picture" mit weiten Landschaften, riesigen Menschenmengen,
enormen Dekors und (am schwächsten) lauten Actionszenen.
All das bleibt erstaunlich spannungsarm und zeigt - wie beim
Rekordflugzeug im Film - nur eine glatt polierte Oberfläche,
ohne jede Unebenheit, ohne jeden Haken.
Man kann es nicht oft genug sagen: THE AVIATOR ist ein guter
Film, klar über dem kommerziellen Durchschnitt. Aber
wer sich ein intensives und präzises Kunstwerk, wie man
es von Martin Scorsese bisher kannte, erwartet, der wird enttäuscht
werden.
Wenn man ohne diese Erwartungshaltung in THE AVIATOR geht,
kann man sich intelligent unterhalten lassen und darüber
hinaus dient jeder Kinobesuch einer guten Sache.
Denn je größer der Erfolg dieses Films ist, um
so größer wird die finanzielle und künstlerische
Freiheit Scorseses bei seinem nächsten, hoffentlich wieder
gewohnt widerspenstigen, Projekt sein.
Michael Haberlander
PS: Wer bei THE AVIATOR Geschmack an der schillernden Welt
der historischen Flugrekorde gefunden hat, dem sei an dieser
Stelle der ausgezeichnete DER STOFF AUS DEM DIE HELDEN SIND
von Philip Kaufman empfohlen.
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