|
"Die Brüder Grimm haben mich fürs normale Leben verdorben."
- Zwerge, Hexen, Wölfe und Zauberer bevölkerten seine Kindheit.
Im November wird er 65, doch wer die Filme von Terry Gilliam
- u.a. RITTER DER KOKUSNUSS, BRAZIL, MÜNCHHAUSEN - kennt,
der weiß, wie viel Kindlichkeit - Übermut, Unschuld, Lust,
nicht Naivität - er sich bis heute bewahrt hat. "Mir geht
es prächtig" strahlte Gilliam im papagaienbunten Hawaihemd
während des Gesprächs beim Filmfestival von San Sebastian
- gerade hatte er dort seinen zweiten neuen Spielfilm innerhalb
von zwei Wochen vorgestellt, eine rekordverdächtige Quote
für einen Hollywood-Regisseur. Keine Frage: Terry Gilliam
ist zurück.
TIDELAND, der am Ende den FIPRESCI-Kritikerpreis erhielt,
erzählt von einer Neunjährigen, die nach dem Tod ihrer Eltern
allein in einem großen Haus lebt, und sich in eine Traumwelt
flüchtet - Alice im Wunderland im Middlewest. Kurz davor hatte
BROTHERS GRIMM in Venedig Premiere, Gilliams Phantasie über
die deutschen Märchenerzähler. Gilliam geht hier mit den Grimms
und ihren Märchen um wie ein Pop-DJ, er "sampelt", mixt einzelne
Elemente zu etwas Eigenem und Neuem zusammen. Das Interesse
für seine Stoffe führt er auf seine Kindheit zurück - obwohl
viele das ehemalige "Monty Python"-Mitglied für einen Briten
halten, wurde er in Minneapolis geboren, und erlebte das,
was er selbst "eine sehr amerikanische Kindheit" nennt: "Wir
lebten auf dem Land, hinter dem Haus war ein Wald, gegenüber
ein Sumpf, ein paar Blöcke weiter lag in Kornfeld voller merkwürdiger
Dinge, ein See lag in der anderen Richtung. Wir hatten kein
Fernsehen. Der einzige Weg zur Welt da draußen waren Radio
und Bücher."
Gilliam las Grimms und Andersens Märchen, später Geschichten
wie die des Lügenbarons Münchhausen, über den er 1988 einen
Film drehte, und Cervantes' "Don Quixote", mit dem sich die
bisher größte Katastrophe seiner Karriere verbindet: Alles
war fertig zum Dreh des aufwendigsten europäischen Films aller
Zeiten. Da wurde zuerst der 70-jährige Hauptdarsteller Jean
Rochefort von den Ärzten aus dem Verkehr gezogen, dann brach
ein noch nie dagewesener Hagelsturm über die kastilische Wüste
herein, die folgenden Sturzbäche spülten einen Großteil der
Ausrüstung des Filmteams hinweg, überdeckten die sorgfältig
ausgewählten Schauplätze mit einer fetten Lehmschicht, und
Gilliam musste die Dreharbeiten zu seinem seit Jahren geplanten
Lieblings-Projekt einstellen - der Dokumentarfilm LOST IN
LA MANCHA erzählt von dieser perfektesten - weil scheiternden
- "Don Quixote"-Verfilmung aller Zeiten.
Konsequent bis zum Scheitern
Seitdem wird Gilliam, früher wegen seiner unorthodoxen,
zumeist unterfinanzierten, aber immer genialischen Drehs als
"Captain Chaos" berüchtigt, auch gern mit seinem Helden verglichen,
an dem schon der andere, ebenfalls bis zum Scheitern konsequente
Filmarbeiter Orson Welles scheiterte. "Ich war auch erleichtert",
lacht Gilliam in der Sonne, "ich trage mein bestes Werk noch
in mir. Was konnte Orson Welles nach 'Citizen Kane' noch tun?"
Bei Gilliam ist jeder Film ein quixoteskes Projekt, dessen
Gelingen zunächst einmal nur zum Staunen Anlass gibt, wie
das überhaupt möglich war - voller Leidenschaft und Intensität.
Das gilt auch für BROTHERS GRIMM: Ein wildes und ziemlich
undiszipliniertes Spiel mit modernen Mythen, wie es eigentlich
für den etwas früheren Gilliam typischer war. Hatte er in
BRAZIL, TWELVE MONKEYS und eben FEAR & LOATHING... mit dem
Versuch einer Interpretation der modernen Wirklichkeit mit
Unmengen von Ideen, nie versiegenden Bild-Einfällen und handwerklicher
Virtuosität zwar beeindruckt aber nicht absolut überzeugt,
kehrt er nun auf scheinbar sichereres Terrain zurück: Zum
Geist der anarchischen Monty-Python-Komödien und ihrer Veralberung
abendländischen Kulturguts. Die Märchen der Gebrüder Grimm
bieten nicht nur auf den ersten Blick ein dankbares Kinosujet.
Eine unüberschaubare Menge - über 200 verzeichnen die Lexika
-, die mehr oder weniger durchschnittliche, sklavisch-originalgeteue
Nacherzählungen einzelner Märchen in der Filmgeschichte hinterließen
aber ohne tiefere Spuren. Die Ausnahme bilden der aufsehenerregende
Disney Animationsfilm SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE,
der bereits aus dem Jahr 1937 stammt, und die weitaus freiere
"Aschenputtel"-Version CINDERELLA vom gleichen Studio. Eine
freiere, erwachsenere Version der Grimms im Geist der Vorlage
in Realfilmform gelang bisher allein Neil Jordan in THE COMPANY
OF WOLVES.
Insofern ist das, was sich Gilliam in BRÜDER GRIMM vorgenommen
hat, ein mutiges und begrüßenswertes Unterfangen: Er erzählt
die Geschichten der Märchen als Geschichte des Brüderpaares,
ihrer Erlebnisse, Alp- und Wunschträume, als Spiegel ihres
Unterbewußtseins - eine Art filmische Psychoanalyse, die zugleich
paradoxerweise doch ganz frei bleibt von aller Psychologisierung.
Das Unterbewußtsein als Geisterbahn, die der Zuschauer in
rasender Fahrt besucht. Verfahren und Ergebnis sind dabei
ähnlich wie in Gilliams FEAR & LOATHING..., in dem die Übergänge
zwischen den Erlebnissen der beiden Hauptfiguren und ihren
Halluzinationen im Drogenrausch ebenfalls fließend waren.
Auf der Suche nach filmischen Vorbilder muss außer auf Jordan
auch noch auf Ken Russels GOTHIC verwiesen werden, der die
britischen Dichter Byron, Percy und Mary Shelley auf einer
Schweizer Villa versammelte, und sie dort ihren selbstgeschaffenen
poetischen Geschöpfen begegnen ließ. Doch wo Jordan und Russel
intellektuellen, aber trotzdem ernsten Horror inszenierten,
bevorzugt Gilliam Phantasmagorie und Farce. Mit den Autoren
des "Deutschen Wörterbuch" hat seine Darstellung gar nichts
zu tun, mit den Verfassern der "Hausmärchen" nur wenig. Gilliam
mischt Figuren und Szenen aus diversen Märchen mit einigen
ihrer Leitmotive zu etwas sehr Eigenem zusammen, einer Story
voller Gedankensprünge und narrativer Brüche, lustvoller Einfälle
und kruder Abschweifungen. In seinen besten Momenten ist der
Film stark und voller Poesie, oft aber mäandert er ebenso
enervierend wie unentschieden in seinem barocken Übermaß an
Ideen umher. Für ein gutes Bild, einen lauten Knalleffekt
würde Gilliam, das ist klar, nicht nur seine Großmutter, sondern
auch die gesamte erzählerische Substanz seines Films jederzeit
verkaufen.
Blutwurst und Geisterjäger
Beschrieben wird ein fiktives Leben eines fiktiven Brüderpaares
Grimm im vom napoelonischen Frankreich besetzten Deutschland
kurz nach 1800. Die Brüder sind junge Männer und verdienen
ihren Lebensunterhalt als Unterhaltungskünstler, die durch
die Gegend reisen, den Leuten mit angeblichen Zauberkünsten
als "Geisterjäger" das Geld aus der Tasche ziehen, und nebenbei
junge Mädchen verführen. Jakob ist ein Träumer voller Glauben
an die Existenz einer phantastischen Parallelwelt, Wilhelm
hingegen ein berechnender, immer aufs Ökonomische orientierter
Pragmatiker. Zu ihrem Gegenspieler wird der französische General
Delatombe. Die Opposition zwischen den Brüdern und ihm darf
man auch als satirische - und überaus parteiische - Konfrontation
zwischen Romantik und Aufklärung verstehen, und auch zwischen
Deutschland und Frankreich. Gelungen sind dabei sowohl die
- kulturhistorische treffenden - Witze über das, aus Sicht
des Franzosen, zurückgebliebene Deutschland, über "Blutwurst
und Sauerkraut", über Irrationalismus, Wald- und Naturschwärmerei,
als auch Gilliams Karikierung des "herzlosen" Rationalismus,
die Veralberung französischer Bürokratie. Als in der Kleinstadt
Marbaden neun junge Mädchen verschwinden, unter anderem eines
mit rotem Käppchen und ein anderes namens Gretel, zwingt Delatombe
die Brüder, die manchen selbst verdächtig geworden sind, dazu,
die Täter ausfindig zu machen, und die Mädchen zurückzubringen
- eine arg erzwungen wirkende Rahmenhandlung, die Giliam freilich
die Möglichkeit gibt, den zweiten Teil des Films mit allerlei
Geblödel, Slapstickeinlagen und kuriosen Figuren - etwa einem
von Peter Stormare verkörperten italienischen Folterexperten,
aber auch wandelnden Bäumen und den Grimm-obligatorischen
bösen Wölfen und Hexen, und allerlei anderen Motiven aus Rapunzel,
Froschkönig und Dornröschen - vollzustopfen.
BRÜDER GRIMM scheitert allerdings gerade dann, wenn er versucht,
einen zeitlosen, kindlich unschuldigen Blick wiederzufinden,
zu dem auch die - immer zauberhaften - Schrecken der Kindheit
und ihrer Märchen gehören. Gerade das nimmt Gilliam selbst
immer wieder gern für sich in Anspruch - und in TIDELAND ist
ihm das auch hervorragend gelungen. Auch den Ideen der Brüder
Grimm selbst, denen es eher darum ging, Urängste durch Aufklärung
und Benennung aus den Köpfen zu bannen wird der Film kaum
gerecht. Im Gegenteil: Gilliam macht sich in der Figur des
Delatombe über alles, was Aufklärung sein könnte, lustig.
Nun ist es freilich Gilliams gutes Recht, ein einseitiges,
historisch-verzerrtes Bild der Grimms zu zeichnen. Wenn der
Film nun auch auf Deutsch den englischen Titel trägt, so liegt
darin ein zweifacher und ziemlich doppelbödiger Scherz, ganz
nach der Art wie sie Gilliam mag: "Es soll natürlich wie ein
Unternehmen klingen: 'Grimm Brothers' wie 'Warner Bros.',
das waren sie schließlich." Und dann ist alles vielleicht
auch eine Anspielung auf die Weinstein-Brüder, Gilliams Produzenten.
Mit denen hat er sich nämlich, wie bekannt wurde, ziemlich
gestritten, und dem Film ist deutlich anzumerken, dass seine
späte Veröffentlichung auch auf einen überaus schwierigen
Produktionsprozeß zurückzuführen ist, vor allem, den bei Miramax-Produktionen
zuletzt fast zur Routine gewordenen, und in diesem Fall zugegebenen
"künstlerischen Differenzen" zwischen Regissseur und Produzent
Harvey Weinstein. Ein halbes Jahr lag der Film auf Eis, und
man tut Gilliam nicht unrecht, wenn man bemerkt, dass man
dies BROTHERS GRIMM auch ansieht. Heute sagt er: "Ich mag
die Weinsteins, ich bewundere sehr, was sie tun - aber ich
beobachte sie lieber aus der Distanz."
"Ich bin Grimms"
Wenn nur BROTHERS GRIMM wenigstens ein echter Gilliam-Film
wäre! Aber über weite Strecken bleibt vom Regisseur nur die
Oberfläche seines Stils, das Barocke und Überladene, Ausgelassene
um seiner selbst willen, während dessen Substanz, die Selbstreflexion,
oder wenn man will: postmoderne "Aufklärung über Aufklärung"
verloren geht. Zu gradlinig, geistlos, unspielerisch und daher
im Effekt einfach platt ist die Handlung - wofür man wohl
besser das Studio als den Regisseur verantwortlich macht.
Dass er es viel besser kann, dass er weiß, dass Träume immer
etwas mit Alpträumen, Komödien mehr mit Tragödien, als mit
Entertainment zu tun haben, das zeigt - noch einmal sei's
gesagt - TIDELAND viel besser. Alle Gilliam-Fans dürfen sich
auf den Film freuen. "Ich habe in mein Inneres geschaut, und
gemerkt, dass da ein kleines Mädchen steckt", scherzte Gilliam
im Zusammenhang mit diesem Film, und es klingt wie das Flaubertsche
"Madame Bovary, c'est moi". Und auf die hier mehr als naheliegende
Frage, wieviel von seinem merkwürdigen ungleichen Brüderpaar
Grimm er denn in sich trage, kam prompt die Antwort: "Ich
bin beide. Ich bin ein heilloser Träumer und ein skrupelloser
Pragmatiker." Das mag wohl sein. Und wir werden Gilliam auch
nach solchen Filmen, die allemal viel Spaß machen, ungleich
intelligenter sind, als 80 Prozent der Filme, die derzeit
im Kino laufen, die Treue halten. Terry Gilliam wird sich
- wie Don Quixote, wie seine Grimms - die Träume nicht nehmen
lassen. "Wir sollten mal die Telefone ausmachen, und uns in
den Wald setzen." Nochmal ein breites Grinsen, ein neuer Einfall:
"Es stimmt: durch die Wissenschaft kamen wir auf den Mond.
Aber die Fantasie hat uns schon lange dorthin gebracht - und
zwar viel billiger."
Rüdiger Suchsland
|