Nachdem Lars von Trier in DOGVILLE virtuos das Thema Macht
durchexerziert hat, beschäftigt er sich nun in MANDERLAY,
dem zweiten Teil seiner Amerika-Trilogie, mit der Freiheit
und ihren Grenzen.
Für einige Diskussionen sorgen dabei die Szenen, in
denen nahegelegt wird, dass der Mensch mit zuviel Freiheit
gar nichts anfangen kann oder schlimmer noch, dass daraus
oft sogar Schlechtes entsteht.
Neben einem weiteren Beitrag zu der alten philosophischen
Frage nach der Freiheit des einzelnen Menschen, liefert MANDERLAY
aber auch auf unmittelbare Art und Weise ein interessantes
Statement zur künstlerischen Freiheit. Von Trier behauptet
(und beweist), dass in der Kunst die totale Freiheit durchaus
schaden kann.
Von den zwei Gesichtspunkten, unter denen man die künstlerische
Freiheit betrachten kann, fällt hier der der technischen
Umsetzung als erstes ins Auge.
Eigentlich ist es paradox. Seit Entstehung des Kinos kämpfen
Regisseure dafür, Filme nach ihren eigenen Vorstellungen
umzusetzen, was aber nur selten gelingt. Mal scheitert es
am Geld, mal am Einfluss des Produzenten, mal an widrigen
Umständen, mal an den technischen Voraussetzungen usw.
usf.
Und nun kommt Lars von Trier, der von keiner dieser Einschränkungen
wirklich geplagt wird, und beschneidet sich selbst, indem
er auf Außenaufnahmen und den Großteil der Kulissen
verzichtet. Ist der Mann verrückt?
Ganz und gar nicht. Von Trier hat nur erkannt, dass die vollkommene
Freiheit bei der Arbeit an einem Film zahlreiche Gefahren
birgt.
Während sich etwa frühere Regisseure noch abmühen
mussten, um bestimmte Bilder auf die Leinwand zu bringen,
ist mit der heutigen (Computer)Technik keine Szene mehr unmöglich.
Die Folge davon ist aber leider nicht, dass nun reihenweise
anspruchsvolle, gewagte Filmvisionen gedreht werden. Vielmehr
sehen wir uns zunehmend mit pompös aufgeblähten
Bilderspektakeln mit dünner Handlung konfrontiert (z.B.
IMMORTEL oder SKY CAPTAIN AND THE WORLD OF TOMORROW).
Auch eine vom Produzenten ausgestellte Carte blanche kann
einem Regisseur zum Verhängnis werden, wenn er nicht
maßvoll mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten
umzugehen versteht und er sich planlos verzettelt (Beispiele
hierfür sind etwa Tarantinos KILL BILL 1 + 2, sowie Scorseses
GANGS OF NEW YORK und THE AVIATOR).
Auf der anderen Seite lässt sich empirisch gesehen ein
Zusammenhang zwischen Produktionshindernissen (sogar Zensur
kann man hierzu zählen) und Qualitätsteigerung kaum
bestreiten und jemand wie Orson Welles ist in seinem ewigen
Kampf für seine Filme zu einem der größten
Regisseure aller Zeiten geworden.
Filme werden offensichtlich durch die Widerstände, die
ihre Macher für sie überwinden müssen, besser.
Das haben gute Filmemacher immer schon verstanden, weshalb
die Idee des freiwilligen Handicap gar nicht so neu und ungewöhnlich
ist (etwa Hitchcock in DIE VÖGEL (kein Soundtrack) bzw.
in COCKTAIL FÜR EINE LEICHE ("kein" Schnitt)
aber auch Steven Soderbergh in FULL FRONTAL).
Lars von Trier ist regelrecht besessen von dieser Idee der
Selbstbeschränkung, die schlussendlich dem Freiheitsbegriff
von Rousseau folgt, wonach die Freiheit des Menschen nicht
darin liegt, dass er tun kann, was er will, sondern dass er
nicht tun muss, was er nicht will.
Bei jedem seiner Filme hat sich von Trier die ein oder andere
Einschränkung auferlegt, wobei die bekanntesten wohl
die von ihm miterfundenen Dogma-Regeln sind.
Ähnlich unübersehbar treibt er und Jorgen Leth im
Dokumentarfilm THE FIVE OBSTRUCTIONS ein aufschlussreiches
Spiel mit solchen Einschränkungen, die nun in anderer
Form auch in DOGVILLE und MANDERLAY angewendet werden.
Es ist dabei ein großes Missverständnis, diese
beiden Filme als minimalistisch zu betrachten. Sie sind vielmehr
opulentes Kino, technisch äußerst komplex und virtuos
inszeniert (von den Qualitäten des Drehbuchs und der
Darsteller einmal ganz zu schweigen). Von Triers Ziel war
kein einfacher, kleiner Film sondern das komplette "big
picture". Nur eben ohne Locations und Dekors.
Und wieder einmal geht die Rechnung von Triers auf. Seine
selbstauferlegten Gebote zwingen ihn, einen anderen Weg zu
finden, als einen Sachverhalt einfach abzubilden bzw. abzufilmen.
Das ist dann auch der wahre Schnittpunkt mit dem Theater,
mit dem der Film MANDERLAY sonst kaum etwas gemeinsam hat.
Das Theater (das von den Möglichkeiten des Kinos nur
träumen kann) lebt immer mit unzähligen Beschränkungen,
die es nur durch Kreativität überwinden kann.
Manchen erscheint diese Selbstbeschränkung von Triers
vielleicht als zynisch (so, als ob er sich eine körperliche
Behinderung selbst auferlegt), aber in Wirklichkeit beweist
er damit nur, dass die Kunst keineswegs das zarte Pflänzchen
ist, dass es von allen (schlechten) Einflüssen und Einschränkungen
zu schützen gilt. Entgegen der allgemeinen Meinung zeigt
uns von Trier das, was wir im täglichen Leben ohnehin
ständig beobachten könn(t)en:
Kunst ist überaus robust und wächst eher mit den
Problemen und Widerständen, mit denen sie zu kämpfen
hat.
Das sollte man sich auch vor Augen halten, wenn man mit dem
kürzlich geschlossenen Abkommen zur kulturellen Vielfalt
der UNESCO die Probleme des heimischen Films für gelöst
hält.
Die Erkenntnis, dass man nicht alles zeigen soll, was man
zeigen kann, hat aber nicht nur eine gestalterische, sondern
auch eine moralische Seite.
MANDERLAY (und zuvor auch DOGVILLE) behandeln und zeigen Themen,
die regelmäßig zu Kontroversen darüber führen,
wie frei ein Film in der Darstellung von Gewalt, Sex, Politik
und anderen Reiz- bzw. Tabuthemen sein darf.
"Kunst darf alles" heißt es in der Theorie,
aber in der Praxis sieht es oft ganz anders aus (gesetzlichen
Einschränkungen noch nicht einmal berücksichtigend),
weshalb mit erstaunlicher Konstanz der Vorwurf der Gewaltverherrlichung,
des Sexismus, der Diskriminierung oder ähnlich unschöner
Gesinnung gegen bestimmte Filme erhoben wird (z.B. beim Skandal
um den Film IRREVERSIBLE bei den Filmfestspielen 2002 in Cannes).
Üblicherweise werden Diskussionen über solche Filme
zu verbitterten Stellungskriegen, in denen mit großen
Menschenrechtswaffen aufeinander geschossen wird (Freiheit
der Meinung und Kunst gegen Menschwürde und Gleichberechtigung)
und die ebenso üblicherweise zu keiner sinnvollen Erkenntnis
führen.
Von Trier zeigt uns einen Ausweg aus dieser Misere. Auch
bei ihm gilt, dass Kunst alles darf, nur versieht er diese
Maxime mit dem Zusatz, dass man diese Freiheit nie bis ins
Extrem ausschöpfen soll bzw. muss.
MANDERLAY und DOGVILLE enthalten zahlreiche Szenen, die für
einen echten Skandal sorgen könnten (Vergewaltigung,
die "primitive" Sehnsucht einer weißen Frau
nach Sex mit einem schwarzen Mann, die Unfähigkeit der
schwarzen Sklaven etwas Positives mit ihrer Freiheit anzufangen...)
doch die Empörung darüber bleibt aus.
Das hat nichts damit zu tun, dass von Trier diese Szenen
versteckt, überspielt oder gefällig gestaltet. Er
zeigt alles, mit einer schmerzhaften Intensität, ohne
Kompromisse, durchaus kontrovers.
Doch ist ihm bewusst, dass es filmisch nichts bringt, moralische
Grenzen voll auszureizen und deshalb auf der Leinwand Exzesse
zu inszenieren, nur weil es in unserer aufgeklärten Gesellschaft
möglich ist.
So gehört es zur künstlerischen Freiheit, auch
eine Vergewaltigung darzustellen zu dürfen. Von Trier
tut das mehrfach in DOGVILLE, man sieht es, man begreift die
Erniedrigung die für die Figur der Grace davon ausgeht
und die für den weiteren Verlauf des Films von Bedeutung
ist.
Im oben genannten IRREVERSIBLE dagegen dauert die Vergewaltigungsszene
endlose neun Minuten und ihr wichtigster Effekt war der, dass
sie einen Skandal ausgelöst hat.
Und auch beim Thema Gewalt gilt der alte Grundsatz vom Weniger,
das oft mehr ist.
Quentin Tarantino musste sich anlässlich von KILL BILL
wieder der Diskussion um seine üppigen Gewaltszenen stellen.
In seinem Plädoyer für die künstlerische Freiheit
war er unter anderem besonders Stolz auf die Durchsetzung
einer Szene, in der er eine Mutter (ein ehemaliger Killer,
nebenbei bemerkt) vor den Augen ihres Kindes töten lässt.
Am Ende von DOGVILLE lässt Grace die Kinder (einschließlich
eines Säuglings) der Lehrerin und des Apfelbauern vor
den Augen der Mutter erschießen. Um wie viel brutaler
ist diese Szene als die von Tarantino, aber auch um wie viel
intensiver und zugleich doch um wie viel weniger anstößig?
Wie bei den technischen Möglichkeiten, ist eben auch
das Ausreizen von moralischen Möglichkeiten vor allem
ein Mittel des Schaumschlagens und Effekthaschens.
Wer als Filmemacher wirklich etwas zu erzählen hat, der
wird sich in jeder Hinsicht beschränken.
Genau das beweist Lars von Trier mit DOGVILLE und MANDERLAY.
Michael Haberlander
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