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24.11.2005
 
 
       
Manderlay
Die Freiheit nehme ich mir


 
 
Bryce Dallas Howard in MANDERLAY
   
 
 
 
 

Nachdem Lars von Trier in DOGVILLE virtuos das Thema Macht durchexerziert hat, beschäftigt er sich nun in MANDERLAY, dem zweiten Teil seiner Amerika-Trilogie, mit der Freiheit und ihren Grenzen.

Für einige Diskussionen sorgen dabei die Szenen, in denen nahegelegt wird, dass der Mensch mit zuviel Freiheit gar nichts anfangen kann oder schlimmer noch, dass daraus oft sogar Schlechtes entsteht.

Neben einem weiteren Beitrag zu der alten philosophischen Frage nach der Freiheit des einzelnen Menschen, liefert MANDERLAY aber auch auf unmittelbare Art und Weise ein interessantes Statement zur künstlerischen Freiheit. Von Trier behauptet (und beweist), dass in der Kunst die totale Freiheit durchaus schaden kann.

Von den zwei Gesichtspunkten, unter denen man die künstlerische Freiheit betrachten kann, fällt hier der der technischen Umsetzung als erstes ins Auge.

Eigentlich ist es paradox. Seit Entstehung des Kinos kämpfen Regisseure dafür, Filme nach ihren eigenen Vorstellungen umzusetzen, was aber nur selten gelingt. Mal scheitert es am Geld, mal am Einfluss des Produzenten, mal an widrigen Umständen, mal an den technischen Voraussetzungen usw. usf.
Und nun kommt Lars von Trier, der von keiner dieser Einschränkungen wirklich geplagt wird, und beschneidet sich selbst, indem er auf Außenaufnahmen und den Großteil der Kulissen verzichtet. Ist der Mann verrückt?

Ganz und gar nicht. Von Trier hat nur erkannt, dass die vollkommene Freiheit bei der Arbeit an einem Film zahlreiche Gefahren birgt.
Während sich etwa frühere Regisseure noch abmühen mussten, um bestimmte Bilder auf die Leinwand zu bringen, ist mit der heutigen (Computer)Technik keine Szene mehr unmöglich.
Die Folge davon ist aber leider nicht, dass nun reihenweise anspruchsvolle, gewagte Filmvisionen gedreht werden. Vielmehr sehen wir uns zunehmend mit pompös aufgeblähten Bilderspektakeln mit dünner Handlung konfrontiert (z.B. IMMORTEL oder SKY CAPTAIN AND THE WORLD OF TOMORROW).

Auch eine vom Produzenten ausgestellte Carte blanche kann einem Regisseur zum Verhängnis werden, wenn er nicht maßvoll mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten umzugehen versteht und er sich planlos verzettelt (Beispiele hierfür sind etwa Tarantinos KILL BILL 1 + 2, sowie Scorseses GANGS OF NEW YORK und THE AVIATOR).

Auf der anderen Seite lässt sich empirisch gesehen ein Zusammenhang zwischen Produktionshindernissen (sogar Zensur kann man hierzu zählen) und Qualitätsteigerung kaum bestreiten und jemand wie Orson Welles ist in seinem ewigen Kampf für seine Filme zu einem der größten Regisseure aller Zeiten geworden.

Filme werden offensichtlich durch die Widerstände, die ihre Macher für sie überwinden müssen, besser. Das haben gute Filmemacher immer schon verstanden, weshalb die Idee des freiwilligen Handicap gar nicht so neu und ungewöhnlich ist (etwa Hitchcock in DIE VÖGEL (kein Soundtrack) bzw. in COCKTAIL FÜR EINE LEICHE ("kein" Schnitt) aber auch Steven Soderbergh in FULL FRONTAL).

Lars von Trier ist regelrecht besessen von dieser Idee der Selbstbeschränkung, die schlussendlich dem Freiheitsbegriff von Rousseau folgt, wonach die Freiheit des Menschen nicht darin liegt, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.
Bei jedem seiner Filme hat sich von Trier die ein oder andere Einschränkung auferlegt, wobei die bekanntesten wohl die von ihm miterfundenen Dogma-Regeln sind.
Ähnlich unübersehbar treibt er und Jorgen Leth im Dokumentarfilm THE FIVE OBSTRUCTIONS ein aufschlussreiches Spiel mit solchen Einschränkungen, die nun in anderer Form auch in DOGVILLE und MANDERLAY angewendet werden.

Es ist dabei ein großes Missverständnis, diese beiden Filme als minimalistisch zu betrachten. Sie sind vielmehr opulentes Kino, technisch äußerst komplex und virtuos inszeniert (von den Qualitäten des Drehbuchs und der Darsteller einmal ganz zu schweigen). Von Triers Ziel war kein einfacher, kleiner Film sondern das komplette "big picture". Nur eben ohne Locations und Dekors.

Und wieder einmal geht die Rechnung von Triers auf. Seine selbstauferlegten Gebote zwingen ihn, einen anderen Weg zu finden, als einen Sachverhalt einfach abzubilden bzw. abzufilmen. Das ist dann auch der wahre Schnittpunkt mit dem Theater, mit dem der Film MANDERLAY sonst kaum etwas gemeinsam hat. Das Theater (das von den Möglichkeiten des Kinos nur träumen kann) lebt immer mit unzähligen Beschränkungen, die es nur durch Kreativität überwinden kann.

Manchen erscheint diese Selbstbeschränkung von Triers vielleicht als zynisch (so, als ob er sich eine körperliche Behinderung selbst auferlegt), aber in Wirklichkeit beweist er damit nur, dass die Kunst keineswegs das zarte Pflänzchen ist, dass es von allen (schlechten) Einflüssen und Einschränkungen zu schützen gilt. Entgegen der allgemeinen Meinung zeigt uns von Trier das, was wir im täglichen Leben ohnehin ständig beobachten könn(t)en:
Kunst ist überaus robust und wächst eher mit den Problemen und Widerständen, mit denen sie zu kämpfen hat.
Das sollte man sich auch vor Augen halten, wenn man mit dem kürzlich geschlossenen Abkommen zur kulturellen Vielfalt der UNESCO die Probleme des heimischen Films für gelöst hält.

Die Erkenntnis, dass man nicht alles zeigen soll, was man zeigen kann, hat aber nicht nur eine gestalterische, sondern auch eine moralische Seite.
MANDERLAY (und zuvor auch DOGVILLE) behandeln und zeigen Themen, die regelmäßig zu Kontroversen darüber führen, wie frei ein Film in der Darstellung von Gewalt, Sex, Politik und anderen Reiz- bzw. Tabuthemen sein darf.

"Kunst darf alles" heißt es in der Theorie, aber in der Praxis sieht es oft ganz anders aus (gesetzlichen Einschränkungen noch nicht einmal berücksichtigend), weshalb mit erstaunlicher Konstanz der Vorwurf der Gewaltverherrlichung, des Sexismus, der Diskriminierung oder ähnlich unschöner Gesinnung gegen bestimmte Filme erhoben wird (z.B. beim Skandal um den Film IRREVERSIBLE bei den Filmfestspielen 2002 in Cannes).

Üblicherweise werden Diskussionen über solche Filme zu verbitterten Stellungskriegen, in denen mit großen Menschenrechtswaffen aufeinander geschossen wird (Freiheit der Meinung und Kunst gegen Menschwürde und Gleichberechtigung) und die ebenso üblicherweise zu keiner sinnvollen Erkenntnis führen.

Von Trier zeigt uns einen Ausweg aus dieser Misere. Auch bei ihm gilt, dass Kunst alles darf, nur versieht er diese Maxime mit dem Zusatz, dass man diese Freiheit nie bis ins Extrem ausschöpfen soll bzw. muss.
MANDERLAY und DOGVILLE enthalten zahlreiche Szenen, die für einen echten Skandal sorgen könnten (Vergewaltigung, die "primitive" Sehnsucht einer weißen Frau nach Sex mit einem schwarzen Mann, die Unfähigkeit der schwarzen Sklaven etwas Positives mit ihrer Freiheit anzufangen...) doch die Empörung darüber bleibt aus.

Das hat nichts damit zu tun, dass von Trier diese Szenen versteckt, überspielt oder gefällig gestaltet. Er zeigt alles, mit einer schmerzhaften Intensität, ohne Kompromisse, durchaus kontrovers.
Doch ist ihm bewusst, dass es filmisch nichts bringt, moralische Grenzen voll auszureizen und deshalb auf der Leinwand Exzesse zu inszenieren, nur weil es in unserer aufgeklärten Gesellschaft möglich ist.

So gehört es zur künstlerischen Freiheit, auch eine Vergewaltigung darzustellen zu dürfen. Von Trier tut das mehrfach in DOGVILLE, man sieht es, man begreift die Erniedrigung die für die Figur der Grace davon ausgeht und die für den weiteren Verlauf des Films von Bedeutung ist.
Im oben genannten IRREVERSIBLE dagegen dauert die Vergewaltigungsszene endlose neun Minuten und ihr wichtigster Effekt war der, dass sie einen Skandal ausgelöst hat.

Und auch beim Thema Gewalt gilt der alte Grundsatz vom Weniger, das oft mehr ist.
Quentin Tarantino musste sich anlässlich von KILL BILL wieder der Diskussion um seine üppigen Gewaltszenen stellen. In seinem Plädoyer für die künstlerische Freiheit war er unter anderem besonders Stolz auf die Durchsetzung einer Szene, in der er eine Mutter (ein ehemaliger Killer, nebenbei bemerkt) vor den Augen ihres Kindes töten lässt.
Am Ende von DOGVILLE lässt Grace die Kinder (einschließlich eines Säuglings) der Lehrerin und des Apfelbauern vor den Augen der Mutter erschießen. Um wie viel brutaler ist diese Szene als die von Tarantino, aber auch um wie viel intensiver und zugleich doch um wie viel weniger anstößig?

Wie bei den technischen Möglichkeiten, ist eben auch das Ausreizen von moralischen Möglichkeiten vor allem ein Mittel des Schaumschlagens und Effekthaschens.
Wer als Filmemacher wirklich etwas zu erzählen hat, der wird sich in jeder Hinsicht beschränken.
Genau das beweist Lars von Trier mit DOGVILLE und MANDERLAY.


Michael Haberlander

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