Das Kino als Schmelziegel der Künste: Betrachtungen
zu den
Filmen STAY und ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN
Die Eigenheit von guten Filmen ist es, alle anderen Künste
in sich aufzunehmen und zu verschmelzen, ohne jedoch deren
jeweiligen Gesetzmäßigkeiten zu übernehmen.
Wenn sich die Regeln der anderen Kunstformen doch durchsetzen,
ist das Ergebnis selten gelungen und wir sehen uns abgefilmten
Theater, geschwätzig spröden Literaturverfilmungen
oder inhaltsleeren Bilderfluten und Ausstattungsorgien gegenüber.
Die beiden zeitgleich bei uns angelaufenen Filme STAY und
ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN bieten die seltene Gelegenheit,
die Grenzen (und deren Überschreitung) zwischen Bildender
Kunst und Film zu studieren.
Marc Forsters STAY ist vordergründig ein weiterer Realitätsverlustfilm,
wie sie seit einigen Jahren immer öfter zu sehen sind
(u.a. DER MASCHINIST oder DER MANCHURIAN KANDIDAT).
Ein Mann, hier der von Ewan McGregor gespielte Psychiater
Sam, verliert mehr und mehr die Sicherheit darüber, was
real ist. Was ist für ihn real, was für seine Mitmenschen
und was für den Zuschauer?
Forster bebildert diesen Verlust der Gewissheiten mit einer
überbordenden Menge an visuellen Tricks und Techniken,
die in dieser Konzentration nur selten auf der Leinwand zu
sehen sind. Nahezu zwangsläufig muss es dabei zu Konflikten
mit der narrativen Seite des Kinos kommen, was hier nur deshalb
nicht zu stark stört, da Realitätsverlustfilme weniger
an einer logische Handlung (die Auflösungen solcher Filme
am Ende sind immer "zweifelhaft"), als am Verstörungsprozess
eines Menschens (und indirekt auch des Zuschauers) interessiert
sind.
Somit sollte man sich als Zuschauer von STAY auch weniger
Gedanken über das Wieso, Weshalb und Warum machen und
sich stattdessen voll und ganz auf das Wie einlassen.
Nur wenige der gezeigten Effekte sind wirklich neu oder überraschend,
doch die Art, wie sie hier verknüpft und ineinander verflochten
werden, erzeugt eine ganz eigene, abstrakte Stimmung, wie
man sie sonst vor allem aus innovativen Werbe- und Musikvideoclips
kennt.
Die wahre Kunst Forsters ist es dabei, sowohl eine dünne
Visual Effects-Leistungsshow, als auch ein Videokunstsammelsurium
als auch ein verkopftes Bilderkunsträtsel zu umgehen.
STAY ist deshalb ein sehenswerter Ausflug an die experimentellen
Ränder der visuellen Kunstform Film.
Um wie viel schlichter kommt da rein äußerlich
Miranda Julys ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN daher. In
dem auf Video gedrehten Film sind einige vorsichtig eingesetzte
Zeitlupen die Spitzen der technischen Tricks und doch besteht
auch hier ein unverkennbarer Kunstanspruch.
Der episodenhaft angelegte Film erzählt eine weitere
Geschichte aus Amerikas Suburbia, in der die verschiedenen
Geschehnisse lose miteinander verbunden sind.
Im Mittelpunkt steht der Schuhverkäufer Richard, der
sich nach der Trennung von seiner Frau um seine beiden Söhne
kümmern muss, sowie die Künstlerin Christine, die
sich in Richard verliebt und nebenbei versucht, ihre Kunstwerke
in einer Galerie unterzubringen.
Üblicherweise entstehen aus solchen Vorgaben präzise
Zustandsbeschreibungen des Alltags, doch in diesem Film scheint
alles leicht entrückt und versch(r)oben zu sein.
Sind die Personen und Ereignisse auch absolut realistisch,
liegt über allem doch ein magisch unwirklicher Nebel,
den man am ehesten noch in den Filmen von Paul Thomas Anderson
findet.
Es sind gezielte, kleine Verschiebungen, die diesen Effekt
erzeugen, etwa ungewohnte (aber nicht extreme) Kameraeinstellungen,
abgehobene (aber nicht skurrile oder unsinnige) Dialoge, unerwartete
(aber nicht konstruierte) Wendungen der Handlung.
Die entscheidende Verschiebung aber liegt bei der Wahrnehmung
des Zuschauer, der durch die Machart von ICH UND DU... die
"Magie des Alltages" (in 95 % ist diese Phrase totaler
Quatsch, doch hier stimmt sie) erkennt.
Man könnte sagen, dass ICH UND DU... ein filmisches
Objet trouvé bzw. Ready-made ist. So wie Künstler
wie Marcel Duchamp Gegenständen des Alltags zu Kunst
erhoben, indem sie sie in einen anderen Zusammenhang stellten
und so die Blickweise darauf veränderten, so verschiebt
die Regisseurin Miranda July (die als renommierte Künstlerin
mit solchen Techniken sicher vertraut ist) den Blick auf das
unspektakuläre Vorstadtleben und macht daraus (Film)Kunst.
Als Zuschauer glaubt man dabei ständig die üblichen
Versatzstücke des Kinos und seiner Geschichten zu erkennen,
doch sowie man meint ein einzelnes Thema oder Motiv bestimmen
zu können, erscheint es plötzlich unklar. Es ist
somit unmöglich, eindeutig zu sagen, in ICH UND DU...
gehe es um die Liebe oder um Familie oder um das Erwachsenwerden
oder Pädophilie im Internet oder um Sehnsucht oder was
auch immer.
Es ist ein wenig so, wie bei René Magrittes bekanntem
Bild, in dem eine naturalistische Pfeife zu sehen ist und
zur allgemeinen Verunsicherung darunter steht: "Ceci
n'est pas une pipe" (Das ist keine Pfeife).
Es mag Zufall sein, dass mich die sonderbare Stimmung in
ICH UND DU... wie bei STAY immer wieder an verschiedenen Musikvideos
(hier allen voran Airs "All I need" von Mike Mills)
erinnert.
Möglicherweise ist die Videokunst aber auch ein wichtiger,
bisher zu wenig gewürdigter Transformator zwischen den
Galerien und Kinosälen.
Michael Haberlander
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