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04.05.2006
 
 
     
Rette sich, wer kann (das Leben)
Neue politische Formen beim 21. Internationalen Dokumentarfilmfest München
3. - 11. Mai 2006
 
Geyrhalters UNSER TÄGLICH BROT
 
 
 
 
 

Kürzlich konstatierte die ZEIT eine Renaissance des politischen Dokumentarfilms. Jenseits des "schnellen Fernsehfutters", so hieß es dort, würden die Regisseure sich wieder an das "große Trotzdem der Aufklärung" wagen. Dennoch aufklären, obwohl die Zeiten so hart sind, so war dies gemeint, und die Leute wieder zum Hinsehen und Hinhören zu bringen, und über die Reflexion einen Diskurs zu beginnen, der lange als politisch korrekt verhöhnt wurde.

Auch auf dem diesjährigen Dok.Fest (www.dokfest-muenchen.de), das in einem etwas geschrumpften Programm von 80 Filmen sich mehr noch als in den Jahren zuvor auf das "Beste" des letzten Dokfilm-Jahrgangs konzentrieren will, finden sich die engagierten Dokumentationen. Zwei Filme aus der deutschen "AG Dok"-Szene befassen sich, zwanzig Jahre nach Tschernobyl und fünfzehn Jahre nach dem Ende der kriegerisch zugerüsteten Blockmächte, mit der atomaren Gefahr. Peter Heller verfolgt in HOTEL RADIUM – DIE VERBOTENE STADT die Spuren des aggressiven Uranabbaus in der Sowjetunion unter Stalin, der Zwangsarbeiter ungeschützt in die Bergwerke einfahren ließ, um den Rohstoff für die Atombombe zu gewinnen. Christoph Boekel begegnet in VERSTRAHLT UND VERGESSEN Überlebenden der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Sein Film ist ein Zurückdenken an die menschenverachtende Politmaschine der 80er Jahre, und ein Blick auf die Verdrängungsmechanismen, die die Opfer der Geschichte aus ihrer Gesellschaft ausschließen wollen. Auch GAMBIT der Schweizer Regisseurin Sabine Gisiger wagt den Blick zurück auf die Katastrophen, durch die die Menschheit gegangen ist. Ihr Film rollt den Chemieunfall im italienischen Seveso von 1976 nochmal auf – den Nachforschungen folgend, die Jörg Sambeth anstellt, der einst für die Katastrophe verantwortlich gemacht wurde. Und der dabei auf skandalträchtige Abgründe und Intrigen der Politmächte stößt.

Eine radikale Annäherung an die desaströsen Verhältnisse der heutigen Zeit unternimmt der Wiener Regisseur Nikolaus Geyrhalter mit seinem Film UNSER TÄGLICH BROT. Kommentarlos fängt er mit seiner Standkamera Bilder aus der hochindustrialisierten Landwirtschaft ein, die im Dienste der größtmöglichen ökonomischen Ausbeutung die Natur pervertiert. Zu Riesenkoteletts zugerüstete Schlachtbullen weiden auf optimierten Landschaften, Kükenkadaver, Kolatteralschäden beim Transport in die Legebatterien, werden von Fabrikarbeitern im schnellen Griff aus dem gelben Federnmeer aussortiert. Ein Film, der ähnlich wie WE FEED THE WORLD eine Anklageschrift gegen das Ausbeuten der Natur darstellt. Geyrhalters Film geht aber noch einen Schritt weiter. Sein Film ist in seiner Ästhetik ebenfalls durchaus politisch zu nehmen: Perfekt kadrierte Bilder bannen auf hochwertigem Filmmaterial die Freaks der Landwirtschaft. Eine Schere tut sich da auf zwischen dem Schönen und dem Monströsen, die den Film mit einer Spannung versieht, der sich der Betrachter nicht entziehen kann, und die eine Unbehaglichkeit erzeugt, jenseits der diskursiven Nachdenklichkeit.

Geyrhalter zeichnet mit seinem Film die Wirklichkeit auf, indem er ästhetisch eingreift. Er bewegt sich damit fort von dem rohen, ungestalteten Dokument, das nicht mehr und nichts anderes zeigen will als die Wahrheit des Sichtbaren. Sein Film gelangt über die photographische Inszenierung zu einer tieferen Wahrheit des Wirklichen, einer unsichtbaren, verborgenen Wahrheit, die jedoch das eigentliche Unbehagen an der Kultur ausmacht.

Inszenierungen können die Wirklichkeit oftmals tiefer erfassen als der direkte Zugriff auf die Realität. Das Substrat des Realen kann in solchen Fällen ein Dokument im alltäglichen Sinn sein, wie in Andres Veiels DER KICK, eine gefilmte Theaterinszenierung über einen sadistischen Mord, in dem ein 16-Jähriger zu Tode gefoltert wurde. Die Mitschriften der Verhöre, die Zeugenaussagen und Gerichtsakten sind die Dokumente, die der Inszenierung zugrunde liegen. Andres Veiel hat darüber hinaus zusammen mit der Dramaturgin Gesine Schmidt dokumentarische Recherchearbeit geleistet, hat die Täter und Dorfbewohner befragt und die Aussagen zu einem Theaterstück verdichtet. Veiel verzichtet, die primären Akteure der Tat vor der Kamera treten zu lassen und lässt statt dessen zwei Schauspieler die Aussagen von zwanzig authentischen Personen sprechen; seine Reflexion auf den Fall beginnt so durch die Distanznahme zur Wirklichkeit und indem sich der Film in das Authentische erst "einfühlen" muss. Eine oszillierende Haltung, die vielleicht wiedergeben kann, wie Täter konfrontiert werden, sofern man sich darauf einlassen möchte. Veiel bewegt sich mit DER KICK auf der Linie seiner Dokumentarfilme, die dem Theater begegnen: 1993 war dies BALAGAN über eine palästinensisch-jüdische Schaupspielgruppe, 2004 DIE SPIELWÜTIGEN, der den Weg von Schauspielschülern dokumentierte.

Auch Romuald Karmaker hat sich in HAMBURGER LEKTIONEN der schauspielerischen Inszenierung von Sprachdokumenten zugewandt. Wie in DAS HIMMLER-PROJEKT von 2000 tritt Manfred Zapatka vor die Kamera, um in einer filmischen Lesung die Worte des Imams Mohammed Fazazi der al-Quds-Moschee in Hamburg, zu dessen Hörern die Attentäter des 11.Septembers gehörten, zum Besten zu geben. Zapatka tut dies auf neutrale, zurückhaltende Art, entleert dadurch die Worte ihrer emotionalen Dimension, die in einer besonderen Intonation mitschwingt. In ähnlich nivellierender Art spricht Zapatka zudem die Fragen und Zurufe der Hörer, die der Predigt des Imams beiwohnen. Zwei Lektionen des Hamburger Imams, die von Hörern durch Video aufgezeichnet wurden, hat Karmaker auf ihren Wortlaut heruntergebrochen. Bildmaterial, das ihm zur Verfügung stand, hat er ausgeblendet und ist so dem voyeuristischen Verlangen, in einen esoterischen Zirkel hineinblicken zu können, entkommen. Ähnlich wie in DAS HIMMLER-PROJEKT ergibt sich so die Rhetorik und die Logik des Diskurses in Reinform; ob Demagogie oder Predigt, ob Entsetzen oder Faszination, Karmaker lässt den Zuschauer sich selbst zu den Worten positionieren. Und auch das ist eine ganz und gar politische Haltung des Regisseurs, die allerdings, wie für den zynischen Provokateur Karmaker typisch, dem politisch Korrekten ausweicht und vielleicht auf dieser Ebene am meisten herausfordert.

Veiel und Karmaker gehen bei ihren Inszenierungen nicht nur an den Rand dessen, was im herkömmlichen Sinne als dokumentarisch verstanden wird, sie verstehen mit ihren Abfilmungen inszenierter Wirklichkeit den Film selbst als das eigentliche Dokument, dem der Zuschauer direkt begegnen kann. Sie und Geyrhalter problematisieren auf diese Weise auch das Medium, in dem sich das Politische zuträgt, das "Wie" der Präsentation. Nicht allein die Inhalte machen einen Film politisch, sondern eben auch die Art der Darstellung. Oder, wie Godard sagte: "Man muss keine politischen Filme machen, aber man muss Filme politisch machen."

Auch in diesem Sinne zeigt sich das Dok.Fest politisch wach, wenn es Filme von Geyrhalter, Veiel, Karmaker, Lech Kowalski, Kim Longinotto (alle im Wettbewerb), Thomas Arslan (im Internationalen Programm), Cristóbal Vicente (in der Reihe Horizonte) und Andreas Bolm (in Neue Filme aus Bayern) in sein Programm aufgenommen hat.

Dunja Bialas

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