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Ex oriente lux: Das asiatische Kino rettet das Filmfestival
von Locarno
Tod in Beirut. Ein Serienkiller geht um in der libanesischen
Hauptstadt, jeden Morgen werden neue Tote gefunden, und dass
ihre Körper blutleer sind, und bis auf Bissspuren am
Hals äußerlich unversehrt, führt bei den untersuchenden
Ärzten und Polizisten schnell zu einem Schluß,
der keinen Filmkenner überraschen kann - es muß
ein Vampir sein, der da sein Unwesen treibt. LE DERNIER HOMME
vom Libanesen Ghassan Salhab nimmt dann aber doch eine ganz
andere Richtung und erzählt in mitunter traumwandlerischem
Ton von einem Mann mit überempfindlichen Augen, der sich
vor der Welt und ihren Forderungen in die Geborgenheit der
Nacht zurückzieht; eine Gespenstergeschichte möglicherweise.
Und gespenstisch mutet es an, diesen Film gerade jetzt zu
sehen, wenn das Beirut, das er zeigt, jeden Tag ein Stück
mehr untergeht, das flirrend dichte Metropolenleben im Zentrum
des Films selbst zur imaginären Erinnerung geronnen ist.
"Le dernier homme" gehört zu den interessanteren
Filmen der "Cinéastes du present", der zweiten,
experimentelleren Reihe beim Filmfestival in Locarno.
Pleiten, Pech und Pannen
In Locarno war vieles anders in diesem Jahr: Mit Frédéric
Maire hat das Festival einen neuen Leiter, die Zahl der Filme
wurde reduziert, die der Reihen aber nicht, sodaß Besucher
mit einem Kuddelmuddel konfrontiert sind, in dem das wirklich
Sehenswerte leicht übersehen wird. Und daß mit
den "Cinéastes du present" ein zweiter Wettbewerb
neu eingeführt wurde, trägt auch nicht gerade zur
Klarheit bei. Seit einigen Jahren schon versucht Locarno,
heterogene Ansprüche miteinander zu verbinden: Einerseits
will man ein Publikumsfestival sein, das abends mehrere tausend
Zuschauer im Freilichtkino auf der Renaissance-Piazza mit
populären Werken und Starpräsenz in Wonne versetzt,
andererseits ein "A-Festival", das in einem Wettbewerb
mit gleich 21 internationalen Premieren aufwarten und als
Global Player auf einem Niveau mit Cannes, Venedig und Berlin
mitspielen kann. Das Ergebnis ist ein provinzieller Gemischtwarenladen,
dessen Wettbewerb beim besten Willen nur drittklassig genannt
werden kann - weil er einerseits zu internationalen Premieren
verdammt ist, um seinen Status nicht zu verlieren, die besten
Filme aber woanders landen. Auch das im Vergleich wesentlich
konzentrierte baskische San Sebastian hat den direkten Konkurrenten
inzwischen klar abgehängt.
Dagegen dominierten Pleiten, Pech und Pannen Locarno 2006:
Schon vor Eröffnung war mit der französischen Schauspielerin
Emmanuelle Devos das erste Jurymitglied abgesprungen, während
des Festivals fiel auch Regisseurin Barbara Albert aus, weil
das Festival trotz entsprechender Warnung nicht bedacht hatte,
dass sie in einem Wettbewerbsfilm beratend mitgewirkt hatte.
Fast symbolisch war es da, dass Frederic Maire am Freitagabend
auf offener Bühne einen Schwächenanfall erlitt -
das ganze Festival machte einen angeschlagenen Eindruck. Symbolisch
verkörperte auch die Eröffnung die Probleme: Auf
der Piazza wurde der Hollywood-Blockbuster MIAMI VICE von
Michael Mann gezeigt, der bei aller Souveränität
zwar nicht an die besten Filme des Regisseurs von HEAT oder
COLLATERAL heranreicht, aber immerhin gut unterhielt. Doch
die angekündigten Stars hatten allesamt abgesagt und
die Videogrußbotschaft Michael Manns dauerte keine 20
Sekunden und erntete beim Publikum nur enttäuscht-höhnisches
Gelächter. Will man sich da wirklich mit einem Willem
Dafoe trösten, der zum x-ten Mal Anekdoten vom PLATOON-Dreh
mit Oliver Stone erzählt, oder mit einer Kaurismäki-Retrospektive,
die es fast identisch erst vor zwei Jahren in München
gab?
Lichtblicke zwischen privaten Geschichten ohne Tiefgang
Solche Festivalpolitik müsste außer einigen Profis
trotzdem niemanden stören, wären die Filme für
sich genommen bemerkenswert. Im Wettbewerb gilt das aber nur
für weniges: Der Schweizer Beitrag DAS FRÄULEIN
von Andrea Staka, der am Ende gewann knüpft in Besetzung
und Sujet an den Berlinale-Sieger GRBAVICA an, und gefällt
durch gute Kamera, Leidenschaft und Humor - bevor er zum Fernsehspielmelo
gerinnt.
Auch der deutsche Beitrag DER MANN VON DER BOTSCHAFT vom
Georgier Dito Tsintsadse widmet sich dem Verhältnis zwischen
reichem Westen und wildem Osten und hat auch filmisch ein
paar gute Ansätze. Er handelt von einem deutschen Diplomat,
der sich in Tiflis mit einem 12-jährigen Mädchen
aus den Slums anfreundet. Getragen von der stoischen Intensität
Burghart Klaußners und seiner Partnerin Lika Martinova
spielt der Film eine Weile gekonnt mit dem bekannten Motiv
der Begegnung zweier Welten, dem Unverständnis beider
Umgebungen und einem in der Luft liegenden Missbrauchsverdacht.
Doch die Balance wird mit bedeutungsvoller Unentschiedenheit
erkauft, und am Ende gewinnen die Klischees Oberhand. Der
souveränen Bildgestaltung fehlt die ergänzende Neugier
des Regisseurs. Der interessiert sich weder für den Schauplatz
Tiflis, wo man nach jeder Einstellung gern noch mehr sehen
würde, noch für den spießigen Botschaftsalltag,
bei Tsintsadse als Geisterhaus inszeniert.
Ein Mann und eine Frau, das ist immer noch das größte
aller Kinothemen. Ian Dilthey, deutscher Regisseur schottischer
Abstammung, hat ihm jetzt einem ganz besonderen Aspekt abgerungen:
In seinem neuen Spielfilm GEFANGENE, dem zweiten deutschen
Film im Wettbewerb, erzählt er ein Kammerspiel der Zwanghaftigkeit
und bleiernen Sehnsucht, erzählt von einer Liebe, die
ohne Obsession und Zwanghaftigkeit nicht zu denken ist. Schon
Visconti erzählte die Liebe zweier Besessener, Dilthey
führt, irgendwo in Deutschland, zwei ungleiche, fast
verhungerte Seelen zusammen. Er sitzt im Knast, ihr Leben
ist ein Gefängnis anderer Art - ohne Liebe, ohne Hoffnung,
eintönig und isoliert lebt die Wissenschaftlerin Irene.
Von ihrem Küchenfenster aus kann sie das städtische
Gefängnis sehen. Eines Tages beginnt sie, einem der Häftlinge
Briefe zu schreiben. Und dann steht er plötzlich in ihrer
Wohnung. Ganz langsam nähern sich diese verhärteten
Seelen einander an, tauen ersatzweise auf - und doch mündet
ihre Begegnung nach der gemeinsamen Flucht in einen wüsten
Gewaltakt. Auch wer dem wenig abgewinnen konnte, den tröstete
das herausragende Spiel von Jule Böwe in der Hauptrolle
und die punktgenaue, sensible Kamera Hans Fromms.
Ein Aufbruch, eine Reise durch die Landschaften Kataloniens,
von der Industrialisierung über Bürgerkrieg und
Franco-Repression hinein ins moderne Spanien von heute. Der
sie unternimmt, ist der katalanische Regisseur Marc Recha,
und sein Film DIES D'AGOST (zu deutsch: "Augusttage"),
ein Filmessay, der intelligent und originell private und gesellschaftliche
Erinnerungen vermischt, gehörte zu den positivsten Überraschungen
im Wettbewerb von Locarno.
Fast alle übrigen Beiträge boten belanglose private
Geschichten ohne Tiefgang, dafür mit bedeutungsvoller
Stille. Dass dabei viel geschwiegen wird, ist nicht so schlimm,
zumal viele Dialoge ebenfalls erschütternd banal waren,
schwerer wiegt, dass auch die Bilder oft nichts zu sagen haben.
Ein Schlachtfest des Teufels
Einzige Ausnahmen: DONT LOOK BACK, das Debüt des Koreaners
Kim Young-nam und der chinesische Film FU SHENG (BLISS). Der
Erstling des Regisseurs Sheng Zhimin entfaltet die komplizierte
Struktur einer Familie: Ein Paar lebt einen bescheidenen Lebensstil.
Er ist ein Taxifahrer, die Frau soeben in der Fabrik entlassen.
Sein Vater lebt mit einer zweiten Frau und derem Sohn aus
erster Ehe, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen
wurde. Er findet Arbeit und nähert sich einer jungen
Arbeitskollegin an, die sich zunächst recht reserviert
zeigt. Einige dunkle Geheimnisse sind allen diesen Personen
eigen. Voller understatement und subtil, sich seinen Figuren
vorsichtig annähernd, und mit immer wachem Sinn für
soziale und politische Hintergründe folgt der Film dieser
Familie über einige Wochen ihres Lebens - eines Lebens,
das durch Leiden und überraschende Verluste gezeichnet
ist, Woche, in denen ihr Schicksal sich ändert. FU SHENG
ist eines der vielversprechendsten Debüts des Jahres!
Man kann sicher sein: Von diesem Regisseur wird man noch viel
hören.
Das gleiche gilt für den Koreaner Kim Young-nam. Sein
Debüt DONT LOOK BACK ist ein Portrait dreier Twentysomethings
in Seoul, deren Leben sich nur geringfügig überlappt,
die aber an den gleichen existentiellen Problemen leiden:
unerfüllte Sehnsucht nach Liebe und Lebenssinn, die Orientierungslosigkeit
einer Gesellschaft, deren Alltag sich in Leistungszwang, Konsum
und Materialismus erschöpft. DONT LOOK BACK ist für
einen koreanischen Film gar nicht einmal etwas besonderes,
sein feiner lakonischer Humor und die ebenso präzisen,
wie poetischen Bilder ließen diesen Film aber über
das bisherige Wettbewerbsprogramm hinausstechen.
Es war kein Zufall, dass diese einzigen echten Lichtblicke
aus Asien stammten - das Kino des fernen Ostens ist seit Jahren
für positive Überraschungen gut, und wenn man in
Europa die jungen, wirklich innovativen Autorenfilmer an zwei
Händen abzählen kann, wirkt Asien im Vergleich dazu
wie ein unerschöpflicher Jungbrunnen, dem Jahr für
Jahr ein Dutzend neue, erstaunliche versierte Regisseure entspringen,
die immer eine genaue Wahrnehmung wert sind.
Etwa der japanische Debütfilm GERMENIUM NO YORU (THE
WHISPERING OF THE GODS) von Tatsushi Omori: Eine märchenhafte
und zugleich verstörende, mitunter schockierende Kinoerfahrung.
Der Film beginnt mit einer Sequenz, in der ein junger Mann
einen Priester zuerst mit der Hand, dann oral befriedigt.
Alles spielt in einem katholischen Kloster in einer unwirtlichen
Schneelandschaft. Rou ging hier einst zur Schule. Jetzt ist
der junge Mann vermutlich zum Doppel-Mörder geworden,
und flieht vor der Polizei in seine alte Schule. Doch die
entpuppt sich als Sündenpfuhl, Priester mißbrauchen
ihre Schüler, und die sich gegenseitig, Nonnen werden
schwanger, Tiere werden gequält. In wunderschönen,
elegischen Bildern erzählt Omori eine harte, unbequeme
Geschichte über Schuld und Sühne, Gewissen und Verzweiflung,
und die alltäglichen Abgründe des Katholizismus.
Der Film entfaltet ein Panorama von Verführung und Sünde,
ein Schlachtfest des Teufels, könnte man sagen. Die Hauptfigur
ist ein reiner Immoralist, und in allem Bösen, das er
tut, scheint er von einer seltsamen Unschuld erfüllt,
einer reinen Haltung. Einer der Mönche sagt: "Er
ist von uns allen am nächsten zu Gott." So erinnert
THE WHISPERING OF THE GODS den Zuschauer an die schockierend-faszinierenden
Geschichten des französischen Surrealisten George Bataille,
und in seiner ruhigen Erzählweise, seinem reifen Stil,
seiner cleveren Kamera und seiner puren Schönheit auch
an Carlos Reygadas Film BATTALLA EN EL CIELO. Omoris großartiger
Film ist auch eine Schlacht im Himmel - eine sehr japanische
allerdings.
Serielle Ästhetik
So war es auch verdienstvoll, daß Locarno in seinen
Sektionen "Open Doors" und zum digitalen Kino die
Aufmerksamkeit diesmal ganz auf diese Kinoregion lenkt, und
dabei zeigt, daß das südostasiatische Kino eben
aus weit mehr besteht, als aus den bekannten Regionen China,
Japan und Korea. 15 Filme aus Indonesien, Thailand, Singapur
und Malaysia laufen hier - einige schon bekannt wie BLISSFULL
YOURS vom Thailänder Apichatpong Weerasethakul, die meisten
aber neu. Besonders die Filme der beiden letztgenannten Länder
sind von erstaunlicher Originalität. Oft entstammen ihre
Regisseure dabei wieder den chinesischen Bevölkerungsminderheiten.
Wie Royston Tan, der nach "15" der 2002 in Venedig
lief, nun mit "4.30" zum zweiten Mal von einsamen
Jugendlichen erzählt. Und das durchaus mit Witz: Jeden
Morgen begegnet der 12-jährige Xiao Wu auf dem Weg zur
Schule einer Menschengruppe, die sich zur gemeinsamen Tai-Chi-Meditation
getroffen hat. Und jeden Morgen lässt er sich einen neuen
Scherz einfallen, um sie aus der Ruhe zu bringen: Einmal stellt
er ihren CD-Player mit traditioneller Meditationsmusik einfach
aus, ein anders Mal tauscht erblitzschnell die CD's aus, und
legt ein Hard-Rock-Lied ein. Auch sonst setzt der Film auf
Running Gags und eine Abfolge der Wiederholung immer gleicher
Grundsituationen und ihre mal nuancierte, mal grobe Variation.
Auf diese Weise schildert er die Annäherung zwischen
Xiao Wu und seinem Mitbewohner, einem jungen Koreaner, der
unter Liebeskummer leidet, und den er zum Ersatzvater erkoren
hat. Doch eines Tages ist der Koreaner verschwunden
Von Melancholie und Trauer grundiert, dabei hochpoetisch
und aufmerksam für die Details des Alltags sind viele
dieser Filme. Auch BE WITH ME von Eric Khoo. In klaren, langen
Einstellungen portraitiert er eine Gruppe von Menschen. Ein
Sicherheitsbeamter, der in eine junge Frau verliebt ist, unglücklich,
weil sie sich für Frauen interessiert, und ihrer arg
oberflächlichen Freundin hinterher trauert. Im Zentrum
des rührenden, aber nie in Kitsch abgleitenden, glänzend
gestalteten Films steht die tatsächlich existierende
taubblinde Schriftstellerin Theresa Chan, und ein Mann der
sich erst zufällig, dann immer besorgter um sie kümmert.
Auch politisch sind diese Filme, aber indirekter, oft ironischer
in ihrer Kritik: Auch MY BEAUTIFUL WASHING MASHINE vom Malaien
James Lee führt ein paar Personen zufällig zusammen,
lässt sie sich streiten oder Liebesverhältnisse
beginnen, oder einfach mit einander die Schwermut teilen.
Besonders genussvoll inszeniert er allerdings auch die glitzernden
Oberflächen der Konsumgesellschaft: Bankautomaten, unsinnige
TV-Talks, sinnlose Anrufe bei Kundenhotlines und immer wieder
Besuche im Supermarkt, dessen ganz eigene, ebenso cleane wie
serielle Ästhetik es Lees Kamera besonders angetan hat,
die sie zu surrealen Augenblicken verdichtet.
Besonders sehenswert waren drei mittellange Filme von der
hochbegabten jungen Malaiin Tan Chui Mui: Darunter A TREE
IN TANJUNG MALIM, der in 26 Minuten eigentlich nicht mehr
zeigt, als das Gespräch zwischen einem 35-jährigen
und einem Mädchen, das um Mitternacht 18 Jahre alt wird
- dies aber in wunderbar beiläufigen poetischen Bildern
und dezenter Sprache. Eine Etüde über Hoffnung und
Vergänglichkeit. Man fühlt sich an Truffaut erinnert
und ist doch mitten in einer fremden Welt.
Inszeniert ist alles sehr präzis, und immer sind in
diesen Filmen die Bilder mindestens genauso wichtig, wie Story
und Charaktere - ohne das man diese vergessen würde.
Im Gegensatz zum Kino des Westens müssen sie sich aber
nicht dauernd erklären - wer genau hinguckt, kann alles
verstehen. Die gemeinsame Erfahrung all dieser Filme ist Einsamkeit
und der gelassen-ironische, mitunter ein wenig resignierte
Blick auf sie.
Beidem kann man auch in einem Kompilationsfilmprojekt begegnen,
in dem das koreanische Jeonju-Filmfestivals seit 2000 jährlich
drei bekannte asiatische Filmemacher vereint. Zu einem vorgegebenen
Thema drehen sie je einen 30-Minuten-Film. Unter ihnen sind
so bekannte Namen wie Tsai Ming-liang und Shinji Aoyama. Der
neueste Teil heißt TALK TO HER. Während Eric Khoos
Fake-Documentary die erschreckenden Erfahrungen einer indonesischen
Maid in Singapur resümiert, und der Kasache Dareshan
Omirbaev Tschechows "Über die Liebe" in die
Gegenwart verpflanzt, spürt der Thailänder Pen-ek
Ratanaruang gemeinsam mit Wong Kar-wai Kameramann Christopher
Doyle einer unausgesprochen Liebesgeschichte nach, die sich
auf einem Langstreckenflug ereignet, und nur in Blicken besteckt:
Kino-Tagträume, atmosphärische Fragmente aus Anmut
und Intensität, wie sie zur Zeit nur in Asien finden
kann.
Rüdiger Suchsland
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