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06.03.2006
 
 
     
Hard-Rock Tai-Chi und andere Fragmente der Anmut
 
THE WHISPERING OF THE GODS
 
 
 
 
 

Ex oriente lux: Das asiatische Kino rettet das Filmfestival von Locarno

Tod in Beirut. Ein Serienkiller geht um in der libanesischen Hauptstadt, jeden Morgen werden neue Tote gefunden, und dass ihre Körper blutleer sind, und bis auf Bissspuren am Hals äußerlich unversehrt, führt bei den untersuchenden Ärzten und Polizisten schnell zu einem Schluß, der keinen Filmkenner überraschen kann - es muß ein Vampir sein, der da sein Unwesen treibt. LE DERNIER HOMME vom Libanesen Ghassan Salhab nimmt dann aber doch eine ganz andere Richtung und erzählt in mitunter traumwandlerischem Ton von einem Mann mit überempfindlichen Augen, der sich vor der Welt und ihren Forderungen in die Geborgenheit der Nacht zurückzieht; eine Gespenstergeschichte möglicherweise. Und gespenstisch mutet es an, diesen Film gerade jetzt zu sehen, wenn das Beirut, das er zeigt, jeden Tag ein Stück mehr untergeht, das flirrend dichte Metropolenleben im Zentrum des Films selbst zur imaginären Erinnerung geronnen ist. "Le dernier homme" gehört zu den interessanteren Filmen der "Cinéastes du present", der zweiten, experimentelleren Reihe beim Filmfestival in Locarno.

Pleiten, Pech und Pannen

In Locarno war vieles anders in diesem Jahr: Mit Frédéric Maire hat das Festival einen neuen Leiter, die Zahl der Filme wurde reduziert, die der Reihen aber nicht, sodaß Besucher mit einem Kuddelmuddel konfrontiert sind, in dem das wirklich Sehenswerte leicht übersehen wird. Und daß mit den "Cinéastes du present" ein zweiter Wettbewerb neu eingeführt wurde, trägt auch nicht gerade zur Klarheit bei. Seit einigen Jahren schon versucht Locarno, heterogene Ansprüche miteinander zu verbinden: Einerseits will man ein Publikumsfestival sein, das abends mehrere tausend Zuschauer im Freilichtkino auf der Renaissance-Piazza mit populären Werken und Starpräsenz in Wonne versetzt, andererseits ein "A-Festival", das in einem Wettbewerb mit gleich 21 internationalen Premieren aufwarten und als Global Player auf einem Niveau mit Cannes, Venedig und Berlin mitspielen kann. Das Ergebnis ist ein provinzieller Gemischtwarenladen, dessen Wettbewerb beim besten Willen nur drittklassig genannt werden kann - weil er einerseits zu internationalen Premieren verdammt ist, um seinen Status nicht zu verlieren, die besten Filme aber woanders landen. Auch das im Vergleich wesentlich konzentrierte baskische San Sebastian hat den direkten Konkurrenten inzwischen klar abgehängt.
Dagegen dominierten Pleiten, Pech und Pannen Locarno 2006: Schon vor Eröffnung war mit der französischen Schauspielerin Emmanuelle Devos das erste Jurymitglied abgesprungen, während des Festivals fiel auch Regisseurin Barbara Albert aus, weil das Festival trotz entsprechender Warnung nicht bedacht hatte, dass sie in einem Wettbewerbsfilm beratend mitgewirkt hatte. Fast symbolisch war es da, dass Frederic Maire am Freitagabend auf offener Bühne einen Schwächenanfall erlitt - das ganze Festival machte einen angeschlagenen Eindruck. Symbolisch verkörperte auch die Eröffnung die Probleme: Auf der Piazza wurde der Hollywood-Blockbuster MIAMI VICE von Michael Mann gezeigt, der bei aller Souveränität zwar nicht an die besten Filme des Regisseurs von HEAT oder COLLATERAL heranreicht, aber immerhin gut unterhielt. Doch die angekündigten Stars hatten allesamt abgesagt und die Videogrußbotschaft Michael Manns dauerte keine 20 Sekunden und erntete beim Publikum nur enttäuscht-höhnisches Gelächter. Will man sich da wirklich mit einem Willem Dafoe trösten, der zum x-ten Mal Anekdoten vom PLATOON-Dreh mit Oliver Stone erzählt, oder mit einer Kaurismäki-Retrospektive, die es fast identisch erst vor zwei Jahren in München gab?

Lichtblicke zwischen privaten Geschichten ohne Tiefgang

Solche Festivalpolitik müsste außer einigen Profis trotzdem niemanden stören, wären die Filme für sich genommen bemerkenswert. Im Wettbewerb gilt das aber nur für weniges: Der Schweizer Beitrag DAS FRÄULEIN von Andrea Staka, der am Ende gewann knüpft in Besetzung und Sujet an den Berlinale-Sieger GRBAVICA an, und gefällt durch gute Kamera, Leidenschaft und Humor - bevor er zum Fernsehspielmelo gerinnt.

Auch der deutsche Beitrag DER MANN VON DER BOTSCHAFT vom Georgier Dito Tsintsadse widmet sich dem Verhältnis zwischen reichem Westen und wildem Osten und hat auch filmisch ein paar gute Ansätze. Er handelt von einem deutschen Diplomat, der sich in Tiflis mit einem 12-jährigen Mädchen aus den Slums anfreundet. Getragen von der stoischen Intensität Burghart Klaußners und seiner Partnerin Lika Martinova spielt der Film eine Weile gekonnt mit dem bekannten Motiv der Begegnung zweier Welten, dem Unverständnis beider Umgebungen und einem in der Luft liegenden Missbrauchsverdacht. Doch die Balance wird mit bedeutungsvoller Unentschiedenheit erkauft, und am Ende gewinnen die Klischees Oberhand. Der souveränen Bildgestaltung fehlt die ergänzende Neugier des Regisseurs. Der interessiert sich weder für den Schauplatz Tiflis, wo man nach jeder Einstellung gern noch mehr sehen würde, noch für den spießigen Botschaftsalltag, bei Tsintsadse als Geisterhaus inszeniert.

Ein Mann und eine Frau, das ist immer noch das größte aller Kinothemen. Ian Dilthey, deutscher Regisseur schottischer Abstammung, hat ihm jetzt einem ganz besonderen Aspekt abgerungen: In seinem neuen Spielfilm GEFANGENE, dem zweiten deutschen Film im Wettbewerb, erzählt er ein Kammerspiel der Zwanghaftigkeit und bleiernen Sehnsucht, erzählt von einer Liebe, die ohne Obsession und Zwanghaftigkeit nicht zu denken ist. Schon Visconti erzählte die Liebe zweier Besessener, Dilthey führt, irgendwo in Deutschland, zwei ungleiche, fast verhungerte Seelen zusammen. Er sitzt im Knast, ihr Leben ist ein Gefängnis anderer Art - ohne Liebe, ohne Hoffnung, eintönig und isoliert lebt die Wissenschaftlerin Irene. Von ihrem Küchenfenster aus kann sie das städtische Gefängnis sehen. Eines Tages beginnt sie, einem der Häftlinge Briefe zu schreiben. Und dann steht er plötzlich in ihrer Wohnung. Ganz langsam nähern sich diese verhärteten Seelen einander an, tauen ersatzweise auf - und doch mündet ihre Begegnung nach der gemeinsamen Flucht in einen wüsten Gewaltakt. Auch wer dem wenig abgewinnen konnte, den tröstete das herausragende Spiel von Jule Böwe in der Hauptrolle und die punktgenaue, sensible Kamera Hans Fromms.

Ein Aufbruch, eine Reise durch die Landschaften Kataloniens, von der Industrialisierung über Bürgerkrieg und Franco-Repression hinein ins moderne Spanien von heute. Der sie unternimmt, ist der katalanische Regisseur Marc Recha, und sein Film DIES D'AGOST (zu deutsch: "Augusttage"), ein Filmessay, der intelligent und originell private und gesellschaftliche Erinnerungen vermischt, gehörte zu den positivsten Überraschungen im Wettbewerb von Locarno.

Fast alle übrigen Beiträge boten belanglose private Geschichten ohne Tiefgang, dafür mit bedeutungsvoller Stille. Dass dabei viel geschwiegen wird, ist nicht so schlimm, zumal viele Dialoge ebenfalls erschütternd banal waren, schwerer wiegt, dass auch die Bilder oft nichts zu sagen haben.

Ein Schlachtfest des Teufels

Einzige Ausnahmen: DONT LOOK BACK, das Debüt des Koreaners Kim Young-nam und der chinesische Film FU SHENG (BLISS). Der Erstling des Regisseurs Sheng Zhimin entfaltet die komplizierte Struktur einer Familie: Ein Paar lebt einen bescheidenen Lebensstil. Er ist ein Taxifahrer, die Frau soeben in der Fabrik entlassen. Sein Vater lebt mit einer zweiten Frau und derem Sohn aus erster Ehe, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er findet Arbeit und nähert sich einer jungen Arbeitskollegin an, die sich zunächst recht reserviert zeigt. Einige dunkle Geheimnisse sind allen diesen Personen eigen. Voller understatement und subtil, sich seinen Figuren vorsichtig annähernd, und mit immer wachem Sinn für soziale und politische Hintergründe folgt der Film dieser Familie über einige Wochen ihres Lebens - eines Lebens, das durch Leiden und überraschende Verluste gezeichnet ist, Woche, in denen ihr Schicksal sich ändert. FU SHENG ist eines der vielversprechendsten Debüts des Jahres! Man kann sicher sein: Von diesem Regisseur wird man noch viel hören.

Das gleiche gilt für den Koreaner Kim Young-nam. Sein Debüt DONT LOOK BACK ist ein Portrait dreier Twentysomethings in Seoul, deren Leben sich nur geringfügig überlappt, die aber an den gleichen existentiellen Problemen leiden: unerfüllte Sehnsucht nach Liebe und Lebenssinn, die Orientierungslosigkeit einer Gesellschaft, deren Alltag sich in Leistungszwang, Konsum und Materialismus erschöpft. DONT LOOK BACK ist für einen koreanischen Film gar nicht einmal etwas besonderes, sein feiner lakonischer Humor und die ebenso präzisen, wie poetischen Bilder ließen diesen Film aber über das bisherige Wettbewerbsprogramm hinausstechen.

Es war kein Zufall, dass diese einzigen echten Lichtblicke aus Asien stammten - das Kino des fernen Ostens ist seit Jahren für positive Überraschungen gut, und wenn man in Europa die jungen, wirklich innovativen Autorenfilmer an zwei Händen abzählen kann, wirkt Asien im Vergleich dazu wie ein unerschöpflicher Jungbrunnen, dem Jahr für Jahr ein Dutzend neue, erstaunliche versierte Regisseure entspringen, die immer eine genaue Wahrnehmung wert sind.

Etwa der japanische Debütfilm GERMENIUM NO YORU (THE WHISPERING OF THE GODS) von Tatsushi Omori: Eine märchenhafte und zugleich verstörende, mitunter schockierende Kinoerfahrung. Der Film beginnt mit einer Sequenz, in der ein junger Mann einen Priester zuerst mit der Hand, dann oral befriedigt. Alles spielt in einem katholischen Kloster in einer unwirtlichen Schneelandschaft. Rou ging hier einst zur Schule. Jetzt ist der junge Mann vermutlich zum Doppel-Mörder geworden, und flieht vor der Polizei in seine alte Schule. Doch die entpuppt sich als Sündenpfuhl, Priester mißbrauchen ihre Schüler, und die sich gegenseitig, Nonnen werden schwanger, Tiere werden gequält. In wunderschönen, elegischen Bildern erzählt Omori eine harte, unbequeme Geschichte über Schuld und Sühne, Gewissen und Verzweiflung, und die alltäglichen Abgründe des Katholizismus. Der Film entfaltet ein Panorama von Verführung und Sünde, ein Schlachtfest des Teufels, könnte man sagen. Die Hauptfigur ist ein reiner Immoralist, und in allem Bösen, das er tut, scheint er von einer seltsamen Unschuld erfüllt, einer reinen Haltung. Einer der Mönche sagt: "Er ist von uns allen am nächsten zu Gott." So erinnert THE WHISPERING OF THE GODS den Zuschauer an die schockierend-faszinierenden Geschichten des französischen Surrealisten George Bataille, und in seiner ruhigen Erzählweise, seinem reifen Stil, seiner cleveren Kamera und seiner puren Schönheit auch an Carlos Reygadas Film BATTALLA EN EL CIELO. Omoris großartiger Film ist auch eine Schlacht im Himmel - eine sehr japanische allerdings.

Serielle Ästhetik

So war es auch verdienstvoll, daß Locarno in seinen Sektionen "Open Doors" und zum digitalen Kino die Aufmerksamkeit diesmal ganz auf diese Kinoregion lenkt, und dabei zeigt, daß das südostasiatische Kino eben aus weit mehr besteht, als aus den bekannten Regionen China, Japan und Korea. 15 Filme aus Indonesien, Thailand, Singapur und Malaysia laufen hier - einige schon bekannt wie BLISSFULL YOURS vom Thailänder Apichatpong Weerasethakul, die meisten aber neu. Besonders die Filme der beiden letztgenannten Länder sind von erstaunlicher Originalität. Oft entstammen ihre Regisseure dabei wieder den chinesischen Bevölkerungsminderheiten. Wie Royston Tan, der nach "15" der 2002 in Venedig lief, nun mit "4.30" zum zweiten Mal von einsamen Jugendlichen erzählt. Und das durchaus mit Witz: Jeden Morgen begegnet der 12-jährige Xiao Wu auf dem Weg zur Schule einer Menschengruppe, die sich zur gemeinsamen Tai-Chi-Meditation getroffen hat. Und jeden Morgen lässt er sich einen neuen Scherz einfallen, um sie aus der Ruhe zu bringen: Einmal stellt er ihren CD-Player mit traditioneller Meditationsmusik einfach aus, ein anders Mal tauscht erblitzschnell die CD's aus, und legt ein Hard-Rock-Lied ein. Auch sonst setzt der Film auf Running Gags und eine Abfolge der Wiederholung immer gleicher Grundsituationen und ihre mal nuancierte, mal grobe Variation. Auf diese Weise schildert er die Annäherung zwischen Xiao Wu und seinem Mitbewohner, einem jungen Koreaner, der unter Liebeskummer leidet, und den er zum Ersatzvater erkoren hat. Doch eines Tages ist der Koreaner verschwunden…

Von Melancholie und Trauer grundiert, dabei hochpoetisch und aufmerksam für die Details des Alltags sind viele dieser Filme. Auch BE WITH ME von Eric Khoo. In klaren, langen Einstellungen portraitiert er eine Gruppe von Menschen. Ein Sicherheitsbeamter, der in eine junge Frau verliebt ist, unglücklich, weil sie sich für Frauen interessiert, und ihrer arg oberflächlichen Freundin hinterher trauert. Im Zentrum des rührenden, aber nie in Kitsch abgleitenden, glänzend gestalteten Films steht die tatsächlich existierende taubblinde Schriftstellerin Theresa Chan, und ein Mann der sich erst zufällig, dann immer besorgter um sie kümmert. Auch politisch sind diese Filme, aber indirekter, oft ironischer in ihrer Kritik: Auch MY BEAUTIFUL WASHING MASHINE vom Malaien James Lee führt ein paar Personen zufällig zusammen, lässt sie sich streiten oder Liebesverhältnisse beginnen, oder einfach mit einander die Schwermut teilen. Besonders genussvoll inszeniert er allerdings auch die glitzernden Oberflächen der Konsumgesellschaft: Bankautomaten, unsinnige TV-Talks, sinnlose Anrufe bei Kundenhotlines und immer wieder Besuche im Supermarkt, dessen ganz eigene, ebenso cleane wie serielle Ästhetik es Lees Kamera besonders angetan hat, die sie zu surrealen Augenblicken verdichtet.
Besonders sehenswert waren drei mittellange Filme von der hochbegabten jungen Malaiin Tan Chui Mui: Darunter A TREE IN TANJUNG MALIM, der in 26 Minuten eigentlich nicht mehr zeigt, als das Gespräch zwischen einem 35-jährigen und einem Mädchen, das um Mitternacht 18 Jahre alt wird - dies aber in wunderbar beiläufigen poetischen Bildern und dezenter Sprache. Eine Etüde über Hoffnung und Vergänglichkeit. Man fühlt sich an Truffaut erinnert und ist doch mitten in einer fremden Welt.

Inszeniert ist alles sehr präzis, und immer sind in diesen Filmen die Bilder mindestens genauso wichtig, wie Story und Charaktere - ohne das man diese vergessen würde. Im Gegensatz zum Kino des Westens müssen sie sich aber nicht dauernd erklären - wer genau hinguckt, kann alles verstehen. Die gemeinsame Erfahrung all dieser Filme ist Einsamkeit und der gelassen-ironische, mitunter ein wenig resignierte Blick auf sie.

Beidem kann man auch in einem Kompilationsfilmprojekt begegnen, in dem das koreanische Jeonju-Filmfestivals seit 2000 jährlich drei bekannte asiatische Filmemacher vereint. Zu einem vorgegebenen Thema drehen sie je einen 30-Minuten-Film. Unter ihnen sind so bekannte Namen wie Tsai Ming-liang und Shinji Aoyama. Der neueste Teil heißt TALK TO HER. Während Eric Khoos Fake-Documentary die erschreckenden Erfahrungen einer indonesischen Maid in Singapur resümiert, und der Kasache Dareshan Omirbaev Tschechows "Über die Liebe" in die Gegenwart verpflanzt, spürt der Thailänder Pen-ek Ratanaruang gemeinsam mit Wong Kar-wai Kameramann Christopher Doyle einer unausgesprochen Liebesgeschichte nach, die sich auf einem Langstreckenflug ereignet, und nur in Blicken besteckt: Kino-Tagträume, atmosphärische Fragmente aus Anmut und Intensität, wie sie zur Zeit nur in Asien finden kann.

Rüdiger Suchsland

 

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