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23.08.2007
 
 
     

Locarno 2007: Leoparden grünen nicht

 

  PANE AMORE E FANTASIA  
 
 
 
 

Liebe, Brot und Phantasie: Das Filmfestival von Locarno feierte sein 60. Jubiläum

Der Leopard war so knalliggelb im neuen Festivaltrailer, dass das Wappentier von Locarno auf manchen Leinwänden schon eher giftgrün wirkte, überdies glich es in seinem geschmeidigen Hin und Her ein bisschen dem eingesperrten Panther in Rilkes berühmten Gedicht: "Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe…" Nicht gleich tausend aber immerhin 500 Filme hatte man in Locarno aufgefahren, schließlich beging das Filmfestival diesmal sein 60. Jubiläum, da wollte man im Tessin schon gern an die ruhmreiche Tradition erinnern und, noch wichtiger, zeigen, dass man nach wie vor wer ist in der sich inflationierenden Festivallandschaft, obwohl die Zeit der Grand Hotels, in denen man sich früher zum après-Film-Plausch traf, auch in Locarno endgültig vorbei ist. So war der Trailer auch nicht das Einzige, das neu war in diesem Jahr, überhaupt arbeitet man am Design, spricht von "Marke" und "Corporate Identity"; unübersehbar ist sich das Team um den im zweiten Jahr amtierenden Festivalleiter Frédéric Maire bewusst, dass man etwas tun muss, um den zuletzt etwas angeknacksten Status von Locarno wieder zu festigen. Erinnern sollte man sich aber bei all dem Marketing- und Positionierungsgerede, dass für die Qualität eines Filmfestivals vor allem drei ganz altmodische Dinge entscheidend bleiben, gute Filme nämlich, nicht weniger gute Geschäfte und genug Vergnügen.

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PANE AMORE E FANTASIA (LIEBE, BROT UND PHANTASIE), der Komödienklassiker von 1953 vom erst im März 2007 verstorbenen Luigi Comencini und mit Gina Lollobrigida in der Hauptrolle, war daher der eine überaus passende Höhepunkt der Retrospektive, die italienischen Filmdiven gewidmet war. Was das - außer der geographischen Nähe zu Italien - mit Locarno zu tun hatte, sollte man lieber nicht fragen, auch war die Auswahl der Filme kaum weniger eklektisch, als die der arg banalen Rückblickssektion "Retour a Locarno", die ein paar interessante Ex-Siegerfilme etwa von Chabrol und Szabo, enthielt, aber dann auch Werke, die hier einfach gelaufen waren, ohne etwas gewonnen zu haben. Doch die Programmierung der Diven-Retrospektive sorgte immerhin für den schönen Zufall, dass man auch LA SIGNORA SENZA CAMELIE (1953), den frühen, zweiten und zu Unrecht eher unbekannten Film vom gerade verstorbenen Michelangelo Antonioni, wieder sehen konnte: Eine so kluge, wie kühle, treffende Betrachtung der Filmindustrie. Im Zentrum steht eine junge Schauspielerin (gespielt von der wunderbaren Lucia Bosé), die die antiidealistische Grundregel ihres Geschäfts erst noch lernen muss: "Sie wollten nur einen schönen Körper" resümiert sie am Ende bitter und gibt desillusioniert den ökonomischen Zwängen nach - auf die Ausbeutung folgt die Selbstausbeutung.

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So gesehen konnte Locarno in diesem Jahr nichts Besseres passieren, als dass es am Ende AI NO YOKAN von Masahiro Kobayashi war, der im Wettbewerb den Goldenen Leoparden gewann. Ein minimalistischer Film, der es seinem Publikum zunächst schwer macht, aber es dann auch für seine Anstrengungen belohnt, der sich der sozialpartnerschaftlichen Ästhetik der auch in Locarno leider so beliebten Thesenfilme ebenso verweigert, wie dem filmindustriellen Prinzip schneller Verwertbarkeit.
Wörtlich bedeutet der Titel "Vorgefühl der Liebe". Der schon früher mehrfach preisgekrönte Kobayashi erzählt in seinem zehnten Film von zwei Menschen, die sich ineinander verlieben, obwohl genau das eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist: Nämlich Junichi, dessen Tochter auf dem Schulhof erstochen wurde, und Noriko, die junge Mutter der Täterin. Ein meditativer, sehr ruhiger, buddhistisch anmutender Film, der seine zwei Figuren bei ihren Alltagsverrichtungen zeigt: Immer wieder sieht man Junichi am Morgen in der Pension mit den gleichen Bewegungen seine Suppe löffeln. in der Küche arbeitet Noriko, auch ihre Handgriffe scheinen automatisiert. Quälend langsam vollzieht sich jede kleinste Veränderung, überwinden Junichi und Noriko Leid und stumpfe Depression und nähern sich einander an. Entscheidend an diesem Film bleibt aber, wie Kobayashi fast ohne Dialog den belanglosesten Gesten dramatisches Feuer abgewinnt, wie man auch als Zuschauer mit seiner Anleitung das Bekannte gezeigt bekommt, als wäre es das erste Mal und quasi neu sehen lernt.

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Das völlige Gegenteil, aber nicht weniger spannendes Kino bot Anthony Hopkins, der in SLIPSTREAM erstmals Regie geführt hat. Zugleich spielt er selbst die Hauptrolle: Einen Drehbuchautor, der langsam aber sicher den Sinn für die Realität verliert. Bruchstücke aus seinen Filmen vermischen sich mit seinem Alltag, bis er sogar nicht mehr weiß, wer nun eigentlich seine Ehefrau ist: Die Blonde oder die Dunkelhaarige? Hopkins, der sichtbar viel vom Kino versteht, gibt dem Unterbewusstseinstrom ein Bild. Ein Film wie ein Tagtraum, spektakulär und stellenweise atemberaubend - aber auch das Publikum spaltend, denn wer alles erklärt bekommen möchte, wird hier nicht glücklich. Es ist gerade die Qualität dieses gewagten Film, dass er sich ein Geheimnis bewahrt.

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Dies gilt auch für den deutschen Wettbewerbsfilm FRÜHER ODER SPÄTER. Das Langfilmdebüt der Berlinerin Ulrike von Ribbeck, die mit kürzeren Filmen bereits in Cannes Erfolge feierte, war einer der wenigen Filme, der mutig das unsichere Terrain eigener Erfahrungen beschritt. Ribbeck zeigt eine brüchige Vorstandtidylle, bürgerliches Spießertum, das von fern an AMERICAN BEAUTY erinnert. Im Zentrum steht Nora, eine14jährige, die sich in den Nachbarn verliebt. Die Qualität des Films liegt in der streckenweise originellen Bildsprache, darin, wie die Regisseurin die Bewusstseinswelten ihrer Figur darstellt. Die Handlung wird immer wieder durch Tagträume in poppig-pastellnen Farben unterbrochen. Ein bisschen zu viel ist allerdings hineingepackt in diesen Film, der manchmal etwas unruhig, zu tastend wirkt - was nicht nur die Unsicherheit der Hauptfigur spiegelt.

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Die Kamera scheint zu schweben, gleitet durch den Raum. Zunächst ist es Musik, die diese fünf Geschichten verbindet, die in verschiedenen Ländern, über Meere und Kontinente hinweg spielen. Doch bald kristallisieren sich Motive heraus, gemeinsame Lebens- und Gefühlslagen, Momentaufnahmen aus dem Leben der 30jährigen in Deutschland - das Portrait unterfüllter Sehnsüchte. Außer Konkurrenz hatte NICHTS ALS GESPENSTER seine umjubelte Weltpremiere bei der Open-Air-Vorführung auf der historischen Piazza - drei Applausschübe gab es trotz später Stunde vor mehreren tausend Zuschauern. Nach Motiven aus dem gleichnamigen Kurzgeschichten-Band der Schriftstellerin Judith Herrmann zeigt der Berliner Regisseur Martin Gypkens Momentaufnahmen aus dem Leben deutscher "Thirtysomethings". Bereits zum zweiten Mal nach seinem Debüt WIR beweist Gypkens sein Talent dafür, mehrere Episoden a la "Short Cuts" zu verknüpfen, zu einem Ganzen zu verdichten und einen filmischen Erzählfluss entstehen zu lassen, der das Publikum in Bann zieht. Jessica Schwarz, Karina Plachetka, August Diehl und Walter Kreye spielen einige der Hauptrollen in dem ehrgeizigen Projekt,Es ist vor allem eine tolle Regieleistung, wie Gypkens fünf verschiedene Orte der Welt und sein Dutzend Schauspieler zu einer Einheit verknüpft. Die beste Episode bleibt aber bezeichnenderweise die, die in Deutschland spielt: Karina Plachetka verleiht der Frau, die mit dem Lover ihrer Freundin etwas anfängt, betörende Intensität.

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Insgesamt war der Haupt-Wettbewerb besser, als im Vorjahr. Neben starken Filmen wie MEMOIRES, der auf eine koreanische Initiative zurückgeht, und drei Kurzfilme, unter anderem von Harun Farocki über Varianten von "Erinnerung" verbindet, oder CAPTAINE ACHAB, Philippe Ramos' hochspannender Meditation über die Vorgeschichte von Melvilles "Moby Dick", gab es auch diesmal viel Entbehrliches. Etwa FREIGESPROCHEN vom Österreicher Peter Payer - mit Lavinia Wilson, Frank Giering und Corinna Harfouch ebenso deutsch wie hochkarätig besetzt. Der Film glänzt durch deren Spiel und seine Inszenierung, nervt aber durch den katholischen Schuldkomplex der Geschichte eines unverschuldeten Unglücks.

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Besser war auch diesmal der zweite Wettbewerb der "Cinéastes du Présent", für "die innovativsten Filme" - warum man beides nicht zu einem Wettbewerb verbindet, weiß der Himmel. Dort sah man zum Beispiel AN SEH von Naghi Nemati, eine Art iranischer Western, über drei Soldaten, die desertieren, und in einer Schneelandschaft auf sich gestellt sind. Auf den Spuren Antonionis bewegt sich der Chilene Mathias Bize: LO BUENO DE LLORAR beobachtet ein Paar, das sich trennt, während einer langen Nacht in Barcelona.
Am Anfang steht das Liebespaar in NOS VIES PRIVEES vom Francokanadier Denis Coté. Zwei Exilbulgaren, die sich nur aus dem Internet kennen, sich schließlich treffen. Zunächst sieht man Phasen der Zweisamkeit. Doch nach einer Weile ringelt sich eine Schlange durchs Gehölz und es kommt zum mehrfachen Sündenfall: Ein Totschlag zunächst, dann taucht auch noch ein undefinierbares Biest auf, ein Dämon möglicherweise, und am Schluss bleibt vom Glück des Anfangs wenig übrig. Doch ein Glücksfall fürs Kino ist NOS VIES PRIVEES, einer jener Filme, die das kleine Zwischenreich der Phantasie erobern.

Rüdiger Suchsland

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