Ein weihnachtliches Interview mit Bille August über Liebe und
Vergebung, Nelson Mandela und Augusts neuen Film "Les
Misérables", der morgen startet. Das Gespräch wurde Mitte Oktober
von Rüdiger Suchsland geführt, und hier selbstverständlich
ungekürzt (wie meistens!) und (wie immer!) ganz unmanipulativ
wiedergegeben.
Artechock: Ist es nicht ein riskantes Abenteuer einen Film über
einen Roman zu machen, der bereits Dutzende von Malen verfilmt
wurde, den als Musical 40 Millionen Menschen gesehen haben. Wen
interessieren Victor Hugos "Les Misérables" noch? Welches
Publikum schwebt Ihnen überhaupt vor?
Bille August: Den Roman kannte ich vorher gar nicht. Ich habe in
der Schule ein paar Ausschnitte gelesen, aber das war es dann
auch. Ich war viel zu jung, um wirklich zu begreifen, um was es
ging. Und das Musical habe ich nie gesehen. Aber die Geschichte
hat –soviel ich weiß- nicht viel mit dem Buch zu tun. Dann hat mir
das Studio das Drehbuch von Rafael Yglesias gesendet, und ich war
von seiner Kraft fasziniert. Es ist eine der eindringlichsten
Liebesgeschichten, die ich je gelesen habe. Und eine Geschichte
über die Notwendigkeit von Vergebung. Vergebung ist sicher das
Hauptthema. Unser Film ist, so scheint mir, sehr nahe an dem, was
Victor Hugo wollte: Eine Apologie der Liebe, der größten Kraft der
Menschen, und der Vergebung. Sie ist - das mag ich so an der
Geschichte- ja die erste sogenannte chase- story
(Verfolgungsgeschichte), die je geschrieben wurde, über einen
Polizisten und ein unschuldiges Opfer, wie es Verjean in der Story
ist. Aber die ganze chase-story hat nur die Funktion zu beweisen,
das Liebe und Vergebung so einzigartig sind. Es stimmt natürlich,
daß es schon eine ganze Menge Verfilmungen des Stoffes gibt. Aber
als ich das Script gelesen habe, empfand ich das trotzdem als sehr
moderne Geschichte. Denn es ist ein universelles Thema: In unserer
heutigen Welt gibt es mehr Konflikte, als jemals zuvor. Und die
Kluft zwischen Reich und Arm ist größer denn je. Die Aussage, daß
wir einander vergeben und gemeinsam überleben müssen, ist aktuell
genug. Jean Verjean hat Jahre im Gefängnis verbracht. Und er ist
geläutert. Als Politiker will er seine Ideen in die Tat umsetzen.
Wenn man sich heute umsieht: Nelson Mandela ist für mich ein
moderner Jean Verjean. Er hat Südafrika gerettet. Auch er hat
begriffen, daß sein Land nur durch Vergebung überleben kann. Er
hat keinerlei Rachegefühle. Wir müssen aus der Geschichte lernen.
Wir sollten niemals die Vergangenheit vergessen, aber wir sollten
beginnen, aus den Geschichtsbüchern profitieren. Wenn wir sehen,
was in Jugoslawien passiert ist, und immer noch passiert: Immer
geht es um Rache, darum, was irgendjemandes Großvater
irgendjemandes anderem Großvater angetan hat – das ist so unsinnig
! Rache setzt sich immer fort. Irgendwann wird sie wieder
ausbrechen. Irgendeiner muß aufstehen, und sagen: Ok, laßt uns das
alles vergessen, laßt uns aus der Geschichte lernen, und einander
vergeben. Und das versucht mein Film auch zu sagen.
Ist es nicht ein riskantes Abenteuer einen Film über
einen Roman zu machen, der bereits Dutzende von Malen verfilmt
wurde, den als Musical 40 Millionen Menschen gesehen haben. Wen
interessieren Victor Hugos "Les Misérables" noch? Welches Publikum
schwebt Ihnen überhaupt vor?
Den Roman
kannte ich vorher gar nicht. Ich habe in der Schule ein paar
Ausschnitte gelesen, aber das war es dann auch. Ich war viel
zu jung, um wirklich zu begreifen, um was es ging. Und das Musical
habe ich nie gesehen. Aber die Geschichte hat –soviel ich weiß-
nicht viel mit dem Buch zu tun. Dann hat mir das Studio das Drehbuch
von Rafael Yglesias gesendet, und ich war von seiner Kraft fasziniert.
Es ist eine der eindringlichsten Liebesgeschichten, die ich je
gelesen habe. Und eine Geschichte über die Notwendigkeit
von Vergebung. Vergebung ist sicher das Hauptthema. Unser Film
ist, so scheint mir, sehr nahe an dem, was Victor Hugo wollte:
Eine Apologie der Liebe, der größten Kraft der Menschen,
und der Vergebung. Sie ist - das mag ich so an der Geschichte-
ja die erste sogenannte chase- story (Verfolgungsgeschichte),
die je geschrieben wurde, über einen Polizisten und ein
unschuldiges Opfer, wie es Verjean in der Story ist. Aber die
ganze chase-story hat nur die Funktion zu beweisen, das Liebe
und Vergebung so einzigartig sind. Es stimmt natürlich,
daß es schon eine ganze Menge Verfilmungen des Stoffes
gibt. Aber als ich das Script gelesen habe, empfand ich das trotzdem
als sehr moderne Geschichte. Denn es ist ein universelles Thema:
In unserer heutigen Welt gibt es mehr Konflikte, als jemals zuvor.
Und die Kluft zwischen Reich und Arm ist größer denn
je. Die Aussage, daß wir einander vergeben und gemeinsam
überleben müssen, ist aktuell genug. Jean Verjean
hat Jahre im Gefängnis verbracht. Und er ist geläutert.
Als Politiker will er seine Ideen in die Tat umsetzen. Wenn man
sich heute umsieht: Nelson Mandela ist für mich ein moderner
Jean Verjean. Er hat Südafrika gerettet. Auch er hat begriffen,
daß sein Land nur durch Vergebung überleben kann.
Er hat keinerlei Rachegefühle. Wir müssen aus der
Geschichte lernen. Wir sollten niemals die Vergangenheit vergessen,
aber wir sollten beginnen, aus den Geschichtsbüchern profitieren.
Wenn wir sehen, was in Jugoslawien passiert ist, und immer noch
passiert: Immer geht es um Rache, darum, was irgendjemandes Großvater
irgendjemandes anderem Großvater angetan hat – das ist
so unsinnig ! Rache setzt sich immer fort. Irgendwann wird sie
wieder ausbrechen. Irgendeiner muß aufstehen, und sagen:
Ok, laßt uns das alles vergessen, laßt uns aus der
Geschichte lernen, und einander vergeben. Und das versucht mein
Film auch zu sagen.
Ist das für sie ein christlicher
Gedanke, oder geht es um anderes?
Es ist auch
etwas Christliches darin. Aber ich bin selbst nicht religiös.
Mir geht es um Dinge, die alle angehen, unabhängig von Religion.
Ihr 19.Jahrhundert wirkt sehr zeitgemäß.
Haben Sie die Figuren modernisiert?
Ich habe
mit dem Drehbuchautor viel darüber diskutiert, ob man die
Geschichte auch in der Gegenwart spielen lassen könnte.
Aber das hätte viele logische Probleme aufgeworfen. Schließlich
geht es um einen Mann, der in seinem Leben ein einziges Verbrechen,
einen Diebstahl, begeht, und dafür eine fast lebenslängliche
Strafe erhält. Das wäre heute so nicht mehr möglich.
Auch nicht, daß er Bürgermeister wird, und alle über
seine Vergangenheit täuschen kann. Also entschieden wir:
Lassen wir es in der ursprünglichen Zeit spielen, aber versuchen
wir die Menschen so modern erscheinen lassen, wie es noch gerade
möglich ist, ohne irgendeinen Mist zu machen. So ließen
wir die Kostüme, die Kulissen und alles, was man sieht,
sehr authentisch, und modernisierten die Gefühle, die Verhaltensweisen
der Menschen.
Sie haben die meiste Zeit in der
Tschechischen Republik gedreht. Warum?
Wir
fuhren nach Frankreich, wo die Geschichte spielt, nach Paris.
Aber es ist nahezu unmöglich, in Paris einen Kostümfilm
zu drehen. Und außer wenigen Szenen konnten wir im Prinzip
überall drehen. Die Geschichte heißt "Les Miserables",
also sollte es schon wirklich elend aussehen, so wie die armen
Gegenden Westeuropas im 19.Jahrhundert eben aussahen. Und es
ist eines der besten Dinge am Kommunismus, daß sie sich
kaum Neubauten leisten konnten, und die alten Gebäude stehen
ließen. So fanden wir eine fast ideale Umgebung vor.
In Ihren anderen Filmen geht es ebenfalls um sozialrevolutionäre
Ideen und Bewegungen. Ist es dieses Thema, daß diese sonst
sehr verschiedenen Geschichten miteinander verbindet?
Natürlich interessieren mich zuerst einmal Menschen.
In allen meinen Filmen geht es um Beziehungen zwischen Menschen
und um Gefühle, und darum, was mit Menschen in unserer Gesellschaft
passiert. Darum interessieren mich auch soziale Aspekte und bis
zu einem gewissen Grad die Frage, wie Politik die Menschen manipuliert,
und wie sie in deren Leben eingreift. Aber dezidiert politische
Filme mag ich überhaupt nicht. Die sind genauso manipulativ
und korrupt. Aber Menschen in ihrem sozialen Kontext interessieren
mich sehr. Und ganz konkret handelt Victor Hugos Geschichte
natürlich von sehr armen Leuten, die versuchen, ihre Armut
zu überwinden, und eine Würde zu bekommen. Und sie
handelt außerdem von der Zeit der Julirevolution in Frankreich.
Aber so etwas ist in einem Film nur interessant, wenn es direkt
etwas mit dem Leben der Figuren zu tun hat. Durch die Tochter
der Hauptfigur, die einen Revolutionär liebt, wird die Revolution
zu einem direkten Teil seines Lebens. Auf diese Art kann man
das machen. Wenn es eine emotionale Bedeutung hat. Was ich an
der Geschichte wirklich mag, ist das sie sehr straigth vorwärts
erzählt ist, nicht zu intellektuell. Schließlich geht
es um Emotionen und große Lebensfragen: Liebe, Rache, Opfer.
Das mag ich an Victor Hugo: Er schreibt über große
Themen, aber sehr nachvollziehbar und eingängig.
Wie schätzen Sie selbst Ihren Film ein: Ist das ein Film
eher europäischen Zuschnitts, oder ein Hollywood-Drama.
Mir scheint die Geschichte zu kompliziert um Hollywoods Styling
zu entsprechen. Und auch wie Uma Thurman gezeichnet ist, als
arme Prostituierte, die wortwörtlich im Dreck lebt, das
scheint mir alles etwas zu wenig hollywood-like. Wie schätzen
Sie selbst Ihren Film ein?
Der Film hat einen
internationalen Stil. Die Amerikaner können das schon akzeptieren,
und der Film ist dort gut gelaufen. Ein Riesen-Blockbuster ist
das natürlich nicht. Allzu intellektuell anspruchsvoll ist
der Film nicht. Ich finde ihn sehr straight vorwärts erzählt,
in gewisser Weise richtig simpel. Aber natürlich nicht Mainstream.
Wie ist der Titel in den USA?
Auch "Les Misérables".
Wirklich? Auf Französisch?
Ja. Ich glaube der Titel wurde in der ganzen
Welt beibehalten.
Mit Drehbuchautor Rafael Yglesias,
der auch schon für Roman Polanski und Peter Weir das Script
schrieb, arbeiten Sie jetzt schon wieder zusammen? Was ist das
für ein neues Projekt?
Es heißt
"Scott and Amundsen", und handelt von diesem spannenden Wettlauf
zum Südpol im Jahr 1912. Bernd Eichinger ist der Produzent.
Nach "Fräulein Smilla" werde ich also wieder in der Polarregion
drehen. Die Arbeit an diesem Thema hat auch in der Zeit angefangen,
als ich "Smilla" gedreht habe. Die Arktis hat mich fasziniert.
Noch nie hatte ich wie in diesen Wochen das Gefühl, wenigstens
ein bißchen näher daran zu sein, zu verstehen, was
Ewigkeit bedeutet. Wenn man in dieser enorm dramatischen Landschaft
ist, fühlt man sich als Mensch plötzlich ganz winzig.
Die einzige Möglichkeit, überhaupt in dieser völlig
wüsten Landschaft zu überleben, ist Respekt vor der
Natur, ein tiefer Respekt vor all dem, was immer Natur ist. Man
versteht dort seine Rolle als Mensch im Universum. Mich fasziniert
dieser Teil der Welt sehr. Dann habe ich all die Bücher
gelesen über die Entdeckung und Eroberung dieser Gegend.
So kam ich auch auf Scott und Amundsen. Eine unglaubliche Geschichte.
Was daran besonders interessant ist, ist folgendes: Scott war
britisch, sehr britisch. Man muß ihn natürlich vor
seinem Hintergrund sehen: Viktorianisches Zeitalter, Imperialismus,
sehr arrogant. Er entschied, als erster zum Südpol zu kommen.
In der Vorbereitung mißachtete er alle Ratschläge
der Eskimos. Er dachte sich: was haben diese Primitivlinge schon
für eine Ahnung. Scott war ein Kind seines Landes, er repräsentiert
das Denken eines ganzen Jahrhunderts in England: Das es Menschen
gibt, die einfach überlegen sind, und das ihnen im Prinzip
die Welt gehört, und sich alles kontrollieren läßt.
Ich will gar nicht Scott als Person kritisieren, eher seine ganze
Generation, das imperialistische Denken und diese Art von Arroganz.
Scott starb bekanntlich bei der Expedition. Weil ihm der Respekt
vor der Natur fehlte. Er war zu gierig. Außerdem war Scott
Militäroffizier. Er hatte die vollständige Verantwortung
für das, was mit seiner Expedition passiert ist. Denn er
gab die Befehle, und niemand hatte das Recht, sie in Frage zu
stellen. Er war gar nicht in der Lage, auf irgendeine Empfehlung
zu hören. Auf dem Weg zum Pol gab es viele Möglichkeiten,
umzukehren und sein Leben zu retten. Aber er war zu ehrgeizig
und arrogant, um das überhaupt in Betracht zu ziehen. Und
auf der anderen Seite haben wir den Norweger Amundsen mit großem
Respekt für die Natur, insbesondere die Polarregion. Amundsen
war ein sehr bescheidener Mann. Und ein guter Leader: Voller
Zurückhaltung, er hörte viel zu, versuchte an alle
Informationen heranzukommen, die er erhalten konnte, und gab
keine Befehle, sondern allenfalls Ratschläge. Amundsen hat
es geschafft.
Also die Message Ihrer Filme ist:
Mehr Respekt haben?
In gewisser Weise schon,
ja. Wir müßen verstehen, was unsere Position auf der
Erde ist, wir müssen Milde zeigen, und Respekt für
alle Menschen, und unsere Umwelt. Wir sollten uns nicht überlegen
fühlen. Es ist ein Ausdruck von Unreife, daß wir uns
immer so wichtig nehmen, und hoch über allem anderen plazieren
müssen, anstatt Respekt vor anderem Leben zu haben.
Hätten Sie nie Lust, einen Actionfilm machen?
Oh, dafür bekomme ich viele Angebote. Die meisten
Actionfilme finde ich sehr langweilig. Ich sage gar nicht, daß
sie schlecht sind, und viele Regisseure sind ganz fasziniert
von Explosionen und aller Art von Pyrotechnik. Aber es ist einfach
nicht mein Ding.
Noch einmal zurück zu "Les
Misérables": Der Bad Guy, Inspektor Javert, den Geoffrey Rush
spielt, ist auch so eine Art viktorianischer Charakter, wie Scott.
Mir erschien er nicht ausschließlich böse. Er repräsentiert
auch Gerechtigkeit, natürlich in einer sehr speziellen,
radikalen Form. Eine jakobinische Gerechtigkeit, im Stil von
Robesspierre.
Ja, auch er glaubt an Law and
Order und bestimmte Werte. Er ist für mich eher ein Kenneth
Starr. Er könnte jeden Bürger nehmen, und beschließen,
ihn zu verfolgen. Und dann findet er Jean Valjean, der aus seiner
Sicht alle betrogen hat, der berühmt ist, und wie Kenneth
Starr stürzt er sich mit allen Mitteln auf diese eine Person.
Kenneth Starr unterhöhlt den Boden der amerikanischen Demokratie,
nur um einen perversen Begriff von Gerechtigkeit in die Tat umzusetzen.
Ohne Respekt vor der Integrität einzelner Menschen. Er ist
besessen von Law and Order. Ja, beide sind sehr ähnlich.
Und wie erklären Sie dann das Ende? Inspektor
Javert bringt sich um. Kapituliert da diese Kenneth-Starr-Gerechtigkeit?
Es gibt eine Situation: Valjean hat die Möglichkeit,
Javert zu töten. Der Mann, der ihn Jahrzehnte lang verfolgt
hat, der ihn zurück ins Gefängnis bringen will, der
sein Leben zerstört hat, ist in seiner Hand. Aber er verschont
ihn, er zeigt Menschlichkeit und Vergebung: "Du bist frei und
kannst gehen." Als Javert das geschieht, erkennt er: Menschen
können sich ändern, sie können an sich arbeiten.
Er sieht Güte und begreift: Vergebung ist möglich.
Da ist etwas mit Javert passiert. Und darum verschont er Valjean
seinerseits, als der ihm kurz darauf umgekehrt in die Hände
fällt. Aber damit hat er selbst ein Verbrechen begangen.
Und er hat immerzu alle bestraft, die jemals ein Verbrechen begangen
haben, darum bestraft er auch sich selbst. Er muß den Preis
bezahlen (für die Freiheit, die er sich genommen hat).
Sehr prinzipienfest. Das heißt dann also
doch, daß das Prinzip, auf dem sein ganzes Dasein beruht,
noch bis in den Tod hinein funktioniert. Auch im allerletzten
Moment. Da sind sich Javert und Valjean im Grunde sehr ähnlich.
Ja, das mag ich an diesen Figuren. Sie sind
wie Nordpol und Südpol, wie Ying und Yang, da ist eine große
Nähe zwischen ihnen. Und das ist natürlich auch ein
Teil der Obsession, die Javert als Verfolger für sein Opfer
empfindet: Etwas in Valjean zieht ihn stark an.
Aber Valjean konnte sein Leben ändern. Er war 19 Jahre im
Gefängnis, danach war er ein anderer Mensch. Warum kann
sich Javert nicht ebenfalls ändern.
Weil
er nie "seinen" Bischof getroffen hat [Anm. d.Red.: Die Hauptfigur
Valjean beginnt ein neues Leben, weil sie durch einen vergebenden
Bischof 'bekehrt' wird.]. Aber ganz am Ende der Geschichte trifft
er ihn in Gestalt von Valjean. Und ändert sich. Das ist
der Höhepunkt der ganzen Geschichte, auf diesen Moment kommt
es an. Er begreift, daß Liebe und Vergebung existieren.
Aber er kann sich selbst diesen Irrtum nicht vergeben. Darum
bringt er sich um. Die Sieger in diesem Film sind Liebe und
Vergebung. Das ist der ganze Punkt.
Finden Sie
selbst, daß man so "gut" handeln sollte?
In Südafrika ist das geschehen. ... [LÄNGERE PAUSE]
... Mehr kann ich nicht sagen... Wie ich schon gesagt habe:
Es gibt so viele Konflikte. Irgendjemand muß den Teufelskreis
durchbrechen, ich würde mir wünschen, daß ihn
irgendeiner durchbrechen könnte. Ich meine: Das ist sehr
sehr sehr kompliziert. Zu seinem Gegner zu gehen, und zu sagen:
Ok, Leute, laßt uns aufhören. Jetzt gleich.
Das klingt sehr christlich. Man muß sich selbst aufgeben.
Ja, das ist der einzige Weg, sonst setzen wir
endlos die Geschichte fort. Meine Furcht ist: Die Zahl der Krisen
in der Welt steigt, sie geht nicht etwa zurück, sondern
wächst und wächst. Und ich meine: In Südafrika
ist das möglich gewesen. Und in Chile nach Pinochet auch
[Anm. d.Red.: Das Interview wurde -wie erwähnt- Mitte Oktober
geführt]. Die Leute haben gesagt: Ok, Du hast meinen Bruder
getötet, aber wenn ich jetzt Dich töte, gibt mir das
sein Leben nicht zurück. Wir wollen keine Rache, das gab
es lang genug. Laßt uns daraus lernen. Das ist natürlich
sehr, sehr kompliziert.
In Chile war es ja eigentlich
ein bißchen anders, da wurde die Demokratisierung von Außen
erzwungen.
Ja, das stimmt, aber trotzdem ("Yes,
that's true, but anyway").
Würden Sie gerne
'mal einen Film in Jugoslawien drehen, über Vergebung?
Nein. Aber es ist immer die Story. Wenn ich
ein Script lese, und das Gefühl habe: Das ist bedeutend,
das hat eine gewisse Dimension, dann möchte ich es machen.
Dann werde ich verrückt danach. Ich kann nicht sagen: Die
und die Umgebung interessiert mich. Es muß ein gutes Drama
sein.
Es muß ein gutes Drama sein, es muß
eine gute Story sein, aber es darf nicht zu politisch sein?
Nein, ich mag nur keine traditionellen "politischen
Filme". Ich habe einfach noch keinen einzigen gesehen, bei dem
ich mir nicht manipuliert vorkam.
Was ist denn
eigentlich so schlimm an Manipulation? Finden Sie nicht, daß
Film auf die eine oder andere Weise immer manipulativ ist? Sie
möchten doch offenbar die Zuschauer auch manipulieren, mehr
zu vergeben.
Ja ! ... Aber was Filme ... Wenn
sie mit konkreten politischen Themen zu tun haben ... Ich mag
es in einem Film nicht, wenn versucht wird, so direkt die Realität
zu manipulieren, wissen Sie. Ich finde, es ist besser... Auch
in "Les Misérables" geht es selbstverständlich um politische
Themen. Aber es ist dann auch wieder Fiction. Wir versuchen nicht
zu behaupten, einen politisch korrekten Film zu machen. Das ist
Fiction. Aber natürlich ist es immer auch eine Manipulation.
Wenn Sie sich völlig frei einen Filmstoff
aussuchen könnten, ein beliebiges Thema, welches würden
Sie dann wählen?
Es ist total verrückt:
Ich lese so viele Scripts, ein bis zwei Drehbücher bekomme
ich am Tag. Wenn ich mich selbst vergesse, dann weiß ich:
Das ist eine gute Geschichte. Es ist mein Instinkt. Wenn ich
emotional berührt bin, und es auch moralisch Sinn macht.
Mit welchen Schauspielern würden Sie gern
drehen. Haben Sie da bestimmte Träume?
Das ist immer von den Rollen abhängig. Wenn ich die Geschichte
lese, dann sehe ich jemanden vor mir. So fängt es an.
Sie sind also keiner, der immer wieder die gleichen
Schauspieler nimmt, wie Martin Scorsese zum Beispiel
Wissen Sie Scorseses Universum ist etwas so Spezielles:
Es ist so verbunden mit New York, mit italienischen Einwanderern
in New York. Und er erzählt immer wieder die gleiche Geschichte,
mehr oder weniger.
Manchmal macht er auch so
etwas wie "Kundun".
Ja, stimmt. [LACHT].
Fühlen Sie sich als universellerer Regisseur, als einer,
der nicht immer die gleiche Geschichte erzählt?
Es muß eine Herausforderung sein. Ich möchte
nie zurück gehen. Als ich "Pelle der Eroberer" gemacht habe,
bot man mir von überall solche Geschichten an, man hielt
mich für einen Spezialist. Ich habe alles abgelehnt. Es
muß etwas anderes sein. Als ich "Smilla" gemacht habe,
wollte ich endlich einmal etwas machen, das in der Gegenwart
spielt. Ich habe so viele Kostümfilme gedreht. Dann hatten
wir mit dem Projekt so viele Probleme, aber das ist eine andere
Geschichte. Ich versuche mich immer wieder zu stimulieren.
Die meisten Ihrer Filme sind Literaturverfilmungen.
Gibt es dafür einen bestimmten Grund. Sind Sie mehr Leser,
als Filmemacher? Terry Gilliam hat neulich gesagt: "Ich möchte,
daß die Leute mehr lesen".
Das sage
ich überhaupt nicht. Das sind alles nur Zufälle. Ich
wünschte mir, "Les Misérables" wären ein Originaldrehbuch.
Man fragt mich das immer wieder. Aber es ist alles nur ein Zufall.
Und ich würde auch sagen: Man sollte bei einem berühmten
Buch erst einmal eine Weile warten, bevor man es verfilmt.
Aber lesen Sie das Buch nicht immer vorher? Oder doch?
Nein, nein. Bei "Les Misérables" las ich dieses fantastische
Script, und dachte währenddessen immer: Nein, nicht schon
wieder eine Literaturverfilmung. Aber am Ende sagte ich zu mir
selbst: Zum Teufel auch, ich liebe die Geschichte, es ist eine
wichtige Geschichte, sie hat soviel mit unserer Gesellschaft
zu tun, und ich muß sie einfach erzählen. Aber es
ist eben nicht so, daß ich ganz auf Literatur und ihre
Verfilmung versessen sei.
Manche hassen ja Literaturverfilmungen
geradezu, weil sie die Bilder zerstören, die man sich als
Leser im Kopf macht.
Ja, ich weiß .
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