Am kommenden Samstag startet das 18. Filmfest München.
Seit dem allerersten Mal 1983 ist Ulla Rapp dabei. Man kennt sie
als "gute Seele" des Festivals und noch mehr als Programmerin der
Independent-Reihe, also der Sektion, die nicht nur Charme, sondern
auch Renommee des Filmfests wesentlich mitbestimmt. Über die
Indie-Szene im Allgemeinen und das diesjährige Programm sprach sie
für Artechock mit Rüdiger
Suchsland
Artechock. Wie beurteilst Du die Independent-Szene?
Wie hat sie sich in den letzten zehn Jahren verändert?
Rapp: Es gibt große Veränderungen. Vor 11 Jahren lief
Soderberghs SEX, LIES AND VIDEOTAPE in Sundance. Das hat die Szene
grundlegend verändert. Davor kamen vielleicht fünf, sechs Europäer
nach Sundance, Einkäufer so gut wie nicht, man hörte so: das sei
das Festival von Robert Redford irgendwo in den Bergen. Und dann
dieser Hit, der ein Welthit wurde. Von da an hat man die
Independents entdeckt. Für uns war die Folge, daß alles wesentlich
schwerer ist. Früher konnte man die besten Filme relativ leicht
einladen, und sie kamen dann auch; jetzt haben alle Verleihe und
pokern lange. Was aber wiederum gut ist. Die Amerikaner haben ihr
Potential entdeckt.
Was sich etabliert, erstarrt auch. Ist
Sundance heute überhaupt noch der Maßstab?
Dieses Jahr und schon im letzten wurde es sehr stark kritisiert,
als sehr enttäuschend beurteilt. Ich glaube, daß auch Sundance
große Zugeständnisse an die Verleiher machen muß. Wenn sie von
wichtigen, mächtigen Verleihern acht Filme angeboten bekommen,
können sie unmöglich alle Filme ablehnen. Sie müssen auch etwas für
die US-Filmindustrie tun. Und man fragt sich sehr häufig: Wie kam
dieser Film hierher. Andererseits gibt es seit drei Jahren
eine neue Sektion, "American Spectrum", da geben sie diesen kleinen
rohen Filmen noch eine Chance.
Das belegt andererseits erst recht, wie
etabliert der Rest bereits ist. Eine Independent-Sektion auf dem
Independent-Festival. Vor zwei, drei Jahren hattest Du mehrere
Filme von Slamdance und noch kleineren Independent-Festivals im
Programm...
Man muß sich auch woanders umschauen. Das liegt einmal daran, daß
wir in unser Programm nicht alle Filme bekommen, die wir gerne
hätten. Grundsätzlich entgeht Sundance natürlich auch einiges. Bei
3000 Einreichungen, die die innerhalb eines halben Jahres
beurteilen müssen, machen sie auch gewisse Fehler.
Welche Festivals sind noch wichtig?
Das AFI-Festival in Los Angeles. Da würde ich gerne einmal hin.
Leider ist das ganz knapp vor uns, im April. Da sind sehr viel
gewagtere, sehr viel schrägere Filme. Sundance ist im Verhältnis
schon so ein bißchen glatt geworden. Es hat auch Budget-mäßig einen
gewissen Standard. Weil die ganze Filmindustrie da sitzt. Und die
anderen Festivals sind schon gewagter. Das Festival von Taos ist
auch sehr interessant, und das von Santa Barbara. 1999 hatten wir
einen Film von dort, THE PORNOGRAPHER, der hier auch sehr gut
angekommen ist. Der Regisseur, Doug Atchinson, lernte auf der
Independent-Party Franka Potente kennen. Jetzt stehen die beiden in
Kontakt, er schickt ihr immer Teile aus einem neuen Drehbuch, und
vielleicht spielt sie sogar in seinem neuen Film mit. Auf
diesen Festivals gibt es natürlich auch viel Belangloses. Aber die
Geduld lohnt sich, denn man findet drei, vier echte Überraschungen.
Die Independent-Szene hat sich zuletzt stark
verändert...
Ja, unbedingt. Viele Independents schielen nach Hollywood. Vor
zehn Jahren hatten zwei Drittel unserer Filme keinen Verleiher, sie
haben dann oft hier während des Festivals Angebote bekommen und
Verträge abgeschlossen. Dadurch wurde umgekehrt das Filmfest auch
attraktiv für Filmemacher. Sie wollten hierher, um sich auf dem
europäischen Markt zu präsentieren. Das ist ganz anders geworden.
Weil die schon einen Verleih haben, weil Cannes auch ein gutes
Forum für die Indies geworden ist, und weil die ganz kleinen Filme
in Europa keine Chance haben. Auch Filme, die in den USA sehr gut
gelaufen sind, wie THE BROTHERS MACMULLAN, dem ich große Chancen
gegeben habe, sind hier gar nicht gelaufen. Ganz komisch.
Bei dem versteh' ich's auch nicht.
Ein bißchen liegt das an der Vermarktung, daran, daß gar nicht
das Budget zur Verfügung steht, einen Film gut zu vermarkten. Und
dann geht natürlich durch die Synchronisation einiges verloren.
Wieviele Filme siehst Du Dir pro Jahr an?
Allein für das Programm sind es so 250 - über das ganze Jahr. Bei
verschiedenen Festivals vor allem. Das ist viel. Und ich glaube,
daß es in Deutschland nicht so viele schlechte Filme gibt, wie in
den USA. Nach dem wunderbaren EL MARIACHI (von Robert Rodriguez;
d.Red.) gab es eine Explosion. Jeder dritte Filminteressierte griff
zur Kamera, und meinte: Für achteinhalbtausend Dollar einen Film
machen. Und die müssen wir uns dann alle angucken. Und in
Cannes stöhnen alle nur noch. Es ist unfaßbar, was die dann als
einen Film bezeichnen. Das wäre in Deutschland nicht möglich. Da
gehen Filme noch durch ein paar kritische Raster. Aber die beleihen
ihre Großmutter und noch ein paar Tanten und dann legen sie los.
Und das ist unsäglich. Aber das brauchen wir nicht immer ganz
zuende anzugucken. Wir Programmer können ja leider nicht
überall hinfahren, dazu ist einfach nicht genug Geld da. Es heißt
einfach: gute Kontakte zu haben, und die auch abrufen. Aber gerade
das AFI-Festival, so mein Eindruck, wäre jetzt gerade sehr
spannend.
Wenn Du sagst, daß viele Independents nach
Hollywood schielen, läßt sich doch auch das Umgekehrte beobachten:
Hollywood lernt von den Independents. In Deiner Einleitung zum
Filmfest-Katalog verweist Du auf FIGHT CLUB, AMERICAN BEAUTY,
MAGNOLIA - die seien in gewisser Weise Independent-Produktionen,
zumindest von den Indies inspiriert. Man könnte auch einen Film
wie BLAIR WITCH PROJECT nennen, schon von seiner Finanzierung her;
aber noch viele andere.
Ja, diese Tendenz ist gewiß vorhanden. Besonders gut läßt sie
sich bei Schauspielern beobachten. Wenn man mit ihnen redet, hört
man immer wieder: Sie haben es satt, in Hollywood-Filmen zu
spielen, in diesen immergleichen aalglatten Sachen, und machen
liebend gern in einem Independent mit. Sogar wahnsinnig gerne, und
lassen sich auf Rückstellungen der Gelder ein - bei denen geht es
ja nicht so sehr ums Geld. Hauptsache, das Drehbuch gefällt ihnen.
Christopher Walken zum Beispiel, der in THE OPPORTUNISTS zu sehen
ist. Insgesamt ist Hollywood aber schon offener geworden.
Wie beurteilst Du die Qualität der derzeitigen
Filme?
Ich fand, die Independents waren zwei Jahre nicht sehr gut. Aber
das sind Wellenbewegungen. Die USA haben eine unglaubliche Urkraft.
Aus der schöpfen sie. Es gibt immer ein paar ganz spannende Sachen.
Zum Beispiel auch ein Film, den wir leider nicht im Programm haben,
GIRL FIGHT. Hätten wir den, und auch noch HAMLET, den wir haben
wollten, wäre es dieses Jahr ein brillantes Programm geworden. So
ist es immerhin sehr gut.
Die internationale Stellung des Münchner
Filmfests für Independent-Filme war über einige Jahre absolut
führend. Hat sie nachgelassen, oder gibt es unter den Festivals
mehr Konkurrenz?
Die Konkurrenz gibt es, aber die ist es nicht. Das Problem, mit
dem wir zu kämpfen haben, ist, daß die Independents auf dem
normalen Kinomarkt nicht gut laufen. Die kleinen, wenn man die
großen nimmt, wie MAGNOLIA sieht es anders aus, aber die sind
andererseits keine richtigen Independents.
Was ist denn überhaupt ein Independent-Film?
Was ist Dein Kriterium? Wenn man die Finanzierung zum Maßstab
nimmt, dann könnte man gleich erwidern, daß zwei Deiner Regisseure
privat über sehr viel Geld verfügen: Frank Novak von GOOD
HOUSEKEEPING und Tim Disney von BLESSED ART THOUGH...
Nein, es geht nicht allein um Finanzen. Inhaltliche
Unabhängigkeit ist der Maßstab, daß sich einer nicht reinreden
läßt, und seine Vision umsetzen möchte, das ist glaub' ich das
wichtigste. Gar nicht, wie hoch das Budget ist. Das er seine
Geschichte verwirklicht, die meistens sehr persönlich ist. Deshalb
sind sie so interessant. Es kann sich aber auch formale
Kriterien handeln, eine stilistische Originalität. Bei unserem Film
NIGHT TRAIN haut mich das regelrecht um. Man kann sagen, der klaut
vom deutschen Expressionismus und von Orson Welles, aber das ist
legal. Alles ist künstlerisch sehr gut umgesetzt, formal ist der
vielleicht am interesantesten.
Würdest Du sagen, daß man Independents an der
Form erkennt?
Nein, das kann man gar nicht sagen. Natürlich haben Leute wie
Jarmush und Soderbergh eine neue Ästhetik eingeführt. Und auch EL
MARIACHI. Innovative Einfälle, sich über budgettäre Notwendigkeiten
hinwegzusetzen, Phantasie statt Budget, das war die Formel. Der ist
für mich nach wie vor einer der genialsten Independent-Filme, der
auch noch kommerziell sehr erfolgreich war. BLAIR WITCH PROJECT ist
nicht so sehr mein Film, aber der Ansatz ist natürlich etwas ganz
Besonderes. Es geht um Unabhängigkeit in der Perspektive,
darum, nicht gradlinig zu sein. Bei Hollywood hast Du doch immer
das Gefühl: Da waren jetzt drei Psychologen dran, sehr versierte
Screenwriter, dann wurde es vor Publikum getestet, um noch die
letzten Ecken wegzumachen. Dann ist es perfekt. Aber das Unperfekte
finde ich oft viel interessanter. Und da haben wir dieses Jahr sehr
starke Filme.
Aber darum würdest Du einen Film wie MAGNOLIA
auch als independent bezeichnen, weil der noch Ecken und Kanten
besitzt?
Unbedingt. Und die wenigsten werden nein sagen, wenn das Angebot
kommt.
Was auch zur Vermischung von Hollywood und
Independent paßt: Es kommt mir so vor, als ob es auch in der
World-Cinema-Reihe diesmal ein paar Filme gibt, die man als
Independent bezeichnen muß.
Unbedingt, der James Toback (BLACK AND WHITE) ist
hochinteressant.
Wollte ich gerade sagen, der müßte bei Dir
sein...
Ist schon ok. Das ist für mich der wichtigste Film der
Internationalen Reihe. Bei uns ist es schon so, daß wir die
größeren Independents manchmal ins Hauptprogramm tun. Die Debüts
und Entdeckungen in der Indie-Reihe. James Toback ist schon in
Insider-Kreisen seit zehn Jahren ein berühmter Name. Fürs große
Publikum vielleicht noch nicht. Die Independent-Reihe besteht ja in
diesem Jahr auch fast nur aus Debüt-Filmen. Manche Filme sind
auch großartige Zeitdokumente: Milton Moses Ginsberg zum Beispiel,
mit COMING APART. Ein guter Film, auch der Typ ist interessant.
Was macht der sonst?
Das ist ein unglaublich guter Cutter. Er schneidet gerade für
Pennebaker. Außerdem schreibt er Drehbücher; andere Filme hat er
nicht viel gemacht. Nur einen kleinen Video-Film. Aber als Cutter
ist er gut im Geschäft.
Welches ist Dein persönlicher
Lieblingsfilm?
NIGHT TRAIN. Zu dem stehe ich sehr stark, das ist mein
persönlicher Favorit. Interessant sind die Dokumentarfilme. Wir
geben da vieles ab ans Dokumentarfilmfestival, das ist auch gut so.
Aber der DOWNTOWN 81 hat mich sehr beeindruckt. Und auch COMING
APART ist ein Zeitdokument, ein großer Festivalerfolg.
Der ist auch interessant. Mir fiel spontan HI
MOM von Brian DePalma ein, diese REAR WINDOW-Situation nach innen
gekehrt. Was ist wäre für Dich der gemeinsame Nenner der
Filme? Oder gibt es keinen?
Am ehesten ist es die Hommage an den Film-Noir. Sowohl in DEAD
DOGS und THE MINUS MAN, als auch in NIGHT TRAIN. Ein kleiner
Schwerpunkt. Sie tragen es alle drei, sind auch für Verleiher sehr
interessant. TAO OF STEVE kam beim Publikum gut an. Aber das
ist auch das Gefährliche an "Sundance": Die haben dieses Riesenkino
mit über 1400 Plätzen - die bejubeln alles, das ist ganz
verführerisch. Und es ist schwer, in dieser Festivalhysterie noch
objektiv zu bleiben. Manche haben gar keine eigene Meinung, und
urteilen nur nach dem Publikum. Manchmal gibt es ja Filme, die auf
Festivals gut funktionieren, und im Kino dann ganz
untergehen...
Wie siehst Du die zukünftige Entwicklung der
Independents?
Ich bin da etwas ratlos. Ich hoffe, daß sie ihre eigene
Handschrift behalten, daß sie sich zu sich bekennen, ihrer eigenen
Kraft. Über die neuen Techniken gibt es Möglichkeiten wie nie. Die
Amerikaner sind total dabei, und haben Mut zum Experimentellen. Da
entstehen risikoreichere, gewagtere Sachen.
Letzte Frage: Bist Du eigentlich froh, dass
die deutsche Nationalmannschaft bei der EM herausgefallen ist?
Für uns ist das gut. Wenn sie rausfallen, dann wird das
Fußball-Interesse nicht mehr so groß sein, und die Leute gehen ins
Kino. Auch etwas kühler dürfte es noch werden. Aber hoffentlich
haben wir schönes Wetter bei der Indie-Party. Wenn's morgens
regnet, ist es später immer gut.
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