Kaum war die Beach-Party, mit der sich die Berlinale kurzfristig
über einen lahmen, in Teilen überraschend schwachen Wettbewerb
hinweggetröstet hatte, vorbei, wurde es wieder kalt in der
Hauptstadt. Fünf Tage hatte es gedauert, bis mit den Filmen
von Anthony Minghella ("The Talented Mr.Ripley") und Francois
Ozon ("Goutte d'eau sur pierres brulantes") die ersten Beiträge
auf die Leinwand kamen, die in Anspruch und Form immerhin
das erfüllten, was man von einem großen Berlinale-Film erwarten
durfte. Am sechsten Tag folgte das erste Meisterwerk.
"Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die
Vergangenheit nicht mit uns." - dieser Satz, der in "Magnolia"
gleich dreimal fällt, zeigt worum es Paul Thomas Anderson
("Boogie Nights") geht: Um nichts Geringeres als das Ganze.
Vom ersten Bild an führt der Regisseur seine Zuschauer hinein
in archaische Schicksalsmomente, zufällige absurde Tode, wie
der des Froschmanns, der auf einem Baumwipfel stirbt. Jeder
für sich ergeben sie keinen Sinn, zusammen aber doch eine
These: Die Macht des Zufalls hat eine tiefere Bedeutung.
"One is the loneliest" singt die Stimme im Off und entlang
des Magnolia-Boulevards in L.A. begegnet man Personen, die
zum Teil miteinander verbunden sind. Am folgenden Tag wird
sich aller Schicksal verknüpfen. Manche von ihnen sind Archetypen
der US-Gesellschaft: ein bibelfester, im Herzen skrupulöser
Cop (John C. Reilly), der "Gutes tun" will, ein Quizmaster
der an Krebs erkrankt ist (Philip Baker Hall), dessen kokainsüchtige,
depressive Tochter (Melora Walters) sein Quizkandidat, ein
hochbegabtes schüchternes Kind (Jeremy Blackman), der Fernsehmagnat
(Jason Robards), der - ebenfalls krebskrank - bereits im Sterben
liegt, dessen Sohn (Tom Cruise), der eine sexbessene Selbsthilfegruppe
für frauengeschädigte Männer leitet. Durchaus ironisch schildert
Anderson dieses Panoptikum aus dem amerikanischen (Alp)Traum,
aber er denunziert seine Figuren nie.
Ihnen allen gemeinsam ist ihr tiefes Unglück an der eigenen
Existenz und die Suche nach einem Ausweg aus dem Leiden. Jeder
von ihnen ist vereinsamt und isoliert, begegnen tun sie sich
nur per Zufall und abends vor dem Fernseher. Nach "The Icestorm",
"Happiness" und "American Beauty" geht es auch hier wieder
um Schuld und Sühne, Generationskonflike, um Versöhnung und
deren Vergeblichkeit.
In seiner episodischen Struktur erinnert "Magnolia" vor allem
an Robert Altmans "Short Cuts", mit dem er seinen dunklen,
sarkastischen Blick auf das zeitgenössische Amerika teilt.
Von Altman trennt Anderson die noch fehlende ironische Distanz
und Gelassenheit gegenüber seinem Gegenstand. Sein fast romantisches
Pathos, hat einen Mut zum Melodram, den man wenigen anderen
so leicht verzeihen würde.
Was aber an Andersons wild versponnenem monumentalem (188min.)
Epos fasziniert, und ihn zum vorläufigen Wettbewerbsfavoriten
macht, sind zuallererst seine Bilder: Eine geschmeidig fließende,
fast immer bewegte Kamera verbindet sich mit den Rhythmen
einer geschickt ausgewählten Musik zu großartigem Kino, einem
weichen Teppich, der den Zuschauer führt, wohin der Regisseur
will, ohne ihn einzulullen. So verzeiht man auch ein paar
Längen in der zweiten Hälfte, kleine Durchhänger, die in drei
Stunden kaum ausbleiben können.
Dran glauben müssen am Ende, wie in "American Beauty" die
Väter: mit biblischer Urgewalt (vgl. Exodus 8:2) ereilt sie
ihr Schicksal, die Versöhnung, wenn sie denn widerwillig erfolgt,
dient nur den Kindern.
Überraschende Motiv-Verwandtschaften offenbarte der zweite
Wettbewerbsfilm: Rudolf Thome erzählt in "Paradiso - Sieben
Tage mit sieben Frauen" eine ganz persönliche Männerphantasie.
Der zum dritten Mal verheiratete Komponist Adam (Hanns Zischler)
lädt mit seiner Frau Eva (Cora Frost) zur Feier seines sechzigjährigen
Geburtstages "die sieben wichtigsten Frauen" seines Lebens
für eine Woche in sein Haus. Dazu kommt noch sein Sohn, den
er seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat, mit Frau und Kindern.
Paradies, Adam und Eva, sieben Tage, eine Schlange kommt auch
vor - die Metaphorik ist so platt wie aufdringlich. Zeit-
und Handlungslos wie das Leben im Paradies plätschert auch
der Film dahin. Keine unangenehme Sommerphantasie, in Teilen
witzig und anspruchsvoll, hübsch anzusehen (Etwa Irm Herrmann
als Nonne und erste Ehefrau) aber auch ziemlich beliebig.
Selbst wenn Thome vielleicht der einzige deutsche Regisseur
ist, dem es gelingt, so etwas wie Rohmer-Stimmung zu erzeugen,
fehlt das Salz in der Suppe: Gefühle wie Neid und Eifersucht,
Eitelkeiten werden in diesen Tagebüchern der Toskana-Fraktion
nur gestreift.
Aber wie zuvor bei Anderson steht hier über beider überdeutliche
Bibelmetaphorik hinaus die Geschichte von der Heimkehr des
verlorenen Sohnes im Zentrum, von einer Versöhnung der Generationen
und der Zuflucht vor aller Unbill im Schoß der Familie. Es
scheint nicht ganz unberechtigt, auch heute solche Versöhnung
zuerst unter den Verdacht zu stellen, eine letztlich falsche
zu sein. Das sie es diesmal doch nicht ist, davor schützt
in beiden Fällen wohl nur die Intelligenz der Regisseure.
In "Paradiso" ist zudem die Eitelkeit des Vaters davor, in
"Magnolia", noch treffender, der Tod.
Rüdiger Suchsland
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