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Berlinale 2000 Februar 2000
 
 

Bibelstunden
Am Tag als der Regen kam - Wettbewerbsfilme von Anderson und Thome

Julianne Moore in MAGNOLIA
 
 
 
 

Kaum war die Beach-Party, mit der sich die Berlinale kurzfristig über einen lahmen, in Teilen überraschend schwachen Wettbewerb hinweggetröstet hatte, vorbei, wurde es wieder kalt in der Hauptstadt. Fünf Tage hatte es gedauert, bis mit den Filmen von Anthony Minghella ("The Talented Mr.Ripley") und Francois Ozon ("Goutte d'eau sur pierres brulantes") die ersten Beiträge auf die Leinwand kamen, die in Anspruch und Form immerhin das erfüllten, was man von einem großen Berlinale-Film erwarten durfte. Am sechsten Tag folgte das erste Meisterwerk.

"Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns." - dieser Satz, der in "Magnolia" gleich dreimal fällt, zeigt worum es Paul Thomas Anderson ("Boogie Nights") geht: Um nichts Geringeres als das Ganze. Vom ersten Bild an führt der Regisseur seine Zuschauer hinein in archaische Schicksalsmomente, zufällige absurde Tode, wie der des Froschmanns, der auf einem Baumwipfel stirbt. Jeder für sich ergeben sie keinen Sinn, zusammen aber doch eine These: Die Macht des Zufalls hat eine tiefere Bedeutung.

"One is the loneliest" singt die Stimme im Off und entlang des Magnolia-Boulevards in L.A. begegnet man Personen, die zum Teil miteinander verbunden sind. Am folgenden Tag wird sich aller Schicksal verknüpfen. Manche von ihnen sind Archetypen der US-Gesellschaft: ein bibelfester, im Herzen skrupulöser Cop (John C. Reilly), der "Gutes tun" will, ein Quizmaster der an Krebs erkrankt ist (Philip Baker Hall), dessen kokainsüchtige, depressive Tochter (Melora Walters) sein Quizkandidat, ein hochbegabtes schüchternes Kind (Jeremy Blackman), der Fernsehmagnat (Jason Robards), der - ebenfalls krebskrank - bereits im Sterben liegt, dessen Sohn (Tom Cruise), der eine sexbessene Selbsthilfegruppe für frauengeschädigte Männer leitet. Durchaus ironisch schildert Anderson dieses Panoptikum aus dem amerikanischen (Alp)Traum, aber er denunziert seine Figuren nie.
Ihnen allen gemeinsam ist ihr tiefes Unglück an der eigenen Existenz und die Suche nach einem Ausweg aus dem Leiden. Jeder von ihnen ist vereinsamt und isoliert, begegnen tun sie sich nur per Zufall und abends vor dem Fernseher. Nach "The Icestorm", "Happiness" und "American Beauty" geht es auch hier wieder um Schuld und Sühne, Generationskonflike, um Versöhnung und deren Vergeblichkeit.

In seiner episodischen Struktur erinnert "Magnolia" vor allem an Robert Altmans "Short Cuts", mit dem er seinen dunklen, sarkastischen Blick auf das zeitgenössische Amerika teilt. Von Altman trennt Anderson die noch fehlende ironische Distanz und Gelassenheit gegenüber seinem Gegenstand. Sein fast romantisches Pathos, hat einen Mut zum Melodram, den man wenigen anderen so leicht verzeihen würde.
Was aber an Andersons wild versponnenem monumentalem (188min.) Epos fasziniert, und ihn zum vorläufigen Wettbewerbsfavoriten macht, sind zuallererst seine Bilder: Eine geschmeidig fließende, fast immer bewegte Kamera verbindet sich mit den Rhythmen einer geschickt ausgewählten Musik zu großartigem Kino, einem weichen Teppich, der den Zuschauer führt, wohin der Regisseur will, ohne ihn einzulullen. So verzeiht man auch ein paar Längen in der zweiten Hälfte, kleine Durchhänger, die in drei Stunden kaum ausbleiben können.
Dran glauben müssen am Ende, wie in "American Beauty" die Väter: mit biblischer Urgewalt (vgl. Exodus 8:2) ereilt sie ihr Schicksal, die Versöhnung, wenn sie denn widerwillig erfolgt, dient nur den Kindern.

Überraschende Motiv-Verwandtschaften offenbarte der zweite Wettbewerbsfilm: Rudolf Thome erzählt in "Paradiso - Sieben Tage mit sieben Frauen" eine ganz persönliche Männerphantasie. Der zum dritten Mal verheiratete Komponist Adam (Hanns Zischler) lädt mit seiner Frau Eva (Cora Frost) zur Feier seines sechzigjährigen Geburtstages "die sieben wichtigsten Frauen" seines Lebens für eine Woche in sein Haus. Dazu kommt noch sein Sohn, den er seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat, mit Frau und Kindern. Paradies, Adam und Eva, sieben Tage, eine Schlange kommt auch vor - die Metaphorik ist so platt wie aufdringlich. Zeit- und Handlungslos wie das Leben im Paradies plätschert auch der Film dahin. Keine unangenehme Sommerphantasie, in Teilen witzig und anspruchsvoll, hübsch anzusehen (Etwa Irm Herrmann als Nonne und erste Ehefrau) aber auch ziemlich beliebig. Selbst wenn Thome vielleicht der einzige deutsche Regisseur ist, dem es gelingt, so etwas wie Rohmer-Stimmung zu erzeugen, fehlt das Salz in der Suppe: Gefühle wie Neid und Eifersucht, Eitelkeiten werden in diesen Tagebüchern der Toskana-Fraktion nur gestreift.

Aber wie zuvor bei Anderson steht hier über beider überdeutliche Bibelmetaphorik hinaus die Geschichte von der Heimkehr des verlorenen Sohnes im Zentrum, von einer Versöhnung der Generationen und der Zuflucht vor aller Unbill im Schoß der Familie. Es scheint nicht ganz unberechtigt, auch heute solche Versöhnung zuerst unter den Verdacht zu stellen, eine letztlich falsche zu sein. Das sie es diesmal doch nicht ist, davor schützt in beiden Fällen wohl nur die Intelligenz der Regisseure. In "Paradiso" ist zudem die Eitelkeit des Vaters davor, in "Magnolia", noch treffender, der Tod.

Rüdiger Suchsland

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