Zuerst sieht man nur einen Apfel. Gut ausgeleuchtet vor dunklem
Hintergrund schwebt er im Raum. Einen kurzen meditativen Augenblick
bleibt alles in diesem paradiesischen Stillstand. Dann setzt
sich die Kamera in Bewegung.
Diese filmische Version eines niederländischen Stillebens
ist natürlich kein Zufall. Denn im Folgenden begleitet Michael
Kreihsls eindringlicher Film "Heimkehr der Jäger" den Maler
Franz (Ulrich Tukur) auf seinem täglichen Weg ins Wiener Kunsthistorische
Museum. Dort arbeitet er als Kopist. Im ersten Teil des Films
erinnert man sich an Thomas Bernhards Roman "Alte Meister":
Franz trifft auf einen nervtötenden Konkurrenten (Nikolaus
Paryla), dessen Gerede ihn nicht weniger in stille Wut versetzt,
als die Besuchsgruppen und das aus seiner Sicht oberflächliche
Geplauder der Führer. Eines Tages beschließt Franz zu handeln,
und seine Zuschauer werden zu Zeugen einer modernen Don-Quixotterie,
in der der Held sich mit den Zerrüttungen des modernen Daseins
und des eigenen Lebens nicht mehr abfinden will. In der Schneelandschaft
des österreichischen Ostens sucht er sein eigenes verlorenes
Paradies wiederzufinden.
"Heimkehr des Jägers" ist einer von den rund 80 Filmen im
Internationalen Forum der Berlinale. Angesichts eines mehrheitlich
enttäuschenden Wettbewerbs verdient dieser Teil des Festivals
diesmal besondere Aufmerksamkeit. Hier pflegt man bewußt ein
Kino abseits des Glamour, neben Unterdogs, Outsidern und jüngeren
Filmemachern tummeln sich hier aber auch viele in ihrer Heimat
renommierte Regisseure, die den Sprung in den Wettbewerb verpaßt
oder gar nicht erst anvisiert haben.
Neben dem traditionellen Asien-Schwerpunkt bilden diesmal
Filme aus kleineren europäischen Ländern ein zweites Zentrum.
Dabei offenbaren sich überraschende Verwandtschaften.
In der Satire "Der Geist von Marschall Tito" des Kroaten
Vinko Bresan reist der Polizist Stepan per Fähre auf eine
Insel. Er will das Gerücht überprüfen, dort erscheine gelegentlich
der Geist des jugoslawischen Marschalls Tito. So beginnt eine
absonderliche, märchenhafte Geschichte, in der alle Darsteller
aus der historischen Mottenkiste des Balkan durcheinanderpurzeln.
Mit neuen Geschäftemachern rechnet Bresan genauso ab, wie
mit den Ewiggestrigen seiner Heimat - ein kurzer Einblick
in den gegenwärtigen geistigen Zustand des östlichen Europa.
Die Insel als lost paradise - dieses alte Motiv, im
Wettbewerb durch Danny Boyles mißglückten "The Beach" in Werbespotmanier
variiert, begegnet einem auch in "Das Frühlingstreffen der
Feldhüter" des Griechen Dimos Avdeliodis. Mit der Langsamkeit
des Landlebens erlebt man die vier Jahreszeiten auf einer
Mittelmeerinsel, begleitet von Vivaldi-Klängen, und sieht
vier Umweltschützern dabei zu, wie sie in ihrer Aufgabe scheitern
- ein dreistündiger melancholischer Abgesang auf die gute
alte Zeit, unübersehbar beeinflußt von Angelopoulos Endzeitepen.
Neben solchen sehenswerten europäischen Spielfilm-Ausnahmen
gibt es auch großartig-ungewöhnliche Dokumentationen zu sehen:
Ruth Beckermanns "Ein flüchtiger Zug nach dem Orient" zeichnet
die große Ägyptenreise der Kaiserin Sisi nach - auch dies
gewiß eine Flucht in jene künstlichen Paradiese, die die Natur
bereithält. Flucht, Flüchtigkeit - wie Sisi selbst flaniert
auch die Kamera durch die europäischen Traumlandschaften des
19. Jahrhunderts.
Schließlich der große Altmeister Chris Marker: in seinem ganz
einzigartigen Stil montiert er diesmal Tagebuchaufzeichnungen
des Regisseurs Andrej Tarkowskij mit Bilddokumenten, die kurz
vor dessen Tod entstanden. So wird "Une journée d'Andrei Arsenevitch"
zu mehr als einer Hommage an den bedeutenden russischen Filmemacher,
der Film ist vor allem eine perspektivische Einführung in
Markers eigenes Filmemachen.
Keine Frage: wer sich auf fremde, manchmal angestaubte, aber
immer herausfordernde Erzählweisen einläßt, kann im Forum
viel entdecken - und einmal mehr im Kino dem Paradies am nächsten
sein.
Rüdiger Suchsland
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