In diesem Jahr erhielt die französische Schauspielerin und
Filmikone Jeanne Moreau den Goldenen Bären der Berlinale für
ihr Lebenswerk. Artechock-Mitarbeiter Rüdiger Suchsland nutzte die Gelegenheit
zu einem Interview.
ARTECHOCK: Herzlichen Glückwunsch für die Auszeichnung
durch die Berlinale. Unter den vielen Filmen Ihrer Karriere
haben Sie sich für die Gala am Abend Tony Richardsons "Mademoiselle"
gewünscht. Eine großartige Wahl.
MOREAU: Ein wundervoller, außergewöhnlicher Film. Beeindruckend
nicht wahr?
Ja, bis heute hat er sich den skandalösen Touch seiner Entstehungszeit
bewahrt. Er funktioniert noch immer &
Ja, und die Reaktionen der Leute & Manche, die ihn nicht
kannten, waren richtig schockiert. Das war ein ganz besonderer
Film. Die Frau die ich spiele, hat eine Art heilige Obsession.
Man darf den Begriff "Neurose" dafür gar nicht verwenden,
ohne es zu reduzieren.
Ist "Mademoiselle" Ihr persönlicher Lieblingsfilm?
Nein, so kann man das nicht sagen. Der Film war leider nicht
sehr erfolgreich. Denn die Leute haben ihn damals gar nicht
verstanden. Die Vorlage zu der Geschichte stammt ursprünglich
von Jean Genet, und meine Figur war eigentlich ein junger
Mann. Dieses Doppeldeutige hat mich fasziniert.
Seit Beginn Ihrer Karriere haben Sie immer wieder solche
skandalösen Figuren gespielt. Woher haben Sie eigentlich
diesen Mut genommen?
Seit ich fünf Jahre alt war, wußte ich, dass ich etwas Besonderes
tun würde.
Sie hatten nie Angst?
Oh nein! Angst vor was?
Vor den Geschichten, den Figuren, den Regisseuren vielleicht?
Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich wußte, dass ich etwas
Besonderes tun würde. Ich habe nicht daran gedacht, berühmt
zu sein. Ich wollte etwas herausfinden, die menschliche Wesensart
untersuchen. Ich wollte wissen, worum es sich mit alldem um
mich herum überhaupt handelte. Warum Erwachsene so waren,
wie sie waren. All das Gefühlschaos. Und die Missverständnisse
und die Schönheit. Sehr früh war ich in der Lage, diese Schönheit
zu entdecken, diese brutale Schönheit der Natur. Das Leben
der Tiere, der Insekten.
Ich will Ihnen das erzählen: Mein Vater und meine Mutter arbeiteten
sehr hart. Sie hatten ein Restaurant, es gab kaum Privatleben.
Im Winter gab es kaum Kunden aber im Sommer schickte man mich
manchmal nach England, zur Familie meiner Mutter. Das waren
viele verschiedene Erfahrungen: Mit meinem Großvater entdeckte
ich die See und die Sterne, meine Großmutter brachte mir Kochen
bei.
In Frankreich gab es eine wunderschöne, außergewöhnliche Frau,
eine Cousine meines Vaters. Der gehörte eine Pension im französischen
Zentralmassiv, in einer durch und durch vulkanischen Landschaft.
Ich habe das geliebt: oben die Bäume, darunter die schlafenden
Vulkane. Wenn man an einem windstillen Augustnachmittag dort
liegt, gibt es nichts Schöneres.
Und der Freund dieser Cousine war ein Jäger. Mit seinem Hund
und mit mir zog er durch die Wälder und brachte mir bei, die
essbaren von den giftigen Pilzen zu unterscheiden. Und ich
lernte den Unterschied zwischen einer Viper und einer harmlosen
Schlange. So viele Dinge habe ich da gelernt!
Als Kind war ich oft krank. So habe ich viel gelesen. Romane
und Gedichte.
Also um es kurz zu machen: Alles wurde mir verboten: Ausgehen,
Musik, Filme, Theater. So begann ich, meine Eltern zu belügen,
und ein Doppelleben zu führen. Es war während der Besatzungszeit,
da ging ich nach Paris, und sah ein Stück: "Antigone". Als
ich das sah: die weiße, zarte Silhouette im Licht, da wußte
ich, was ich sein würde: Antigone - eine Rebellin, nach der
Wahrheit suchend.
Und ich suche nach wie vor nach der Wahrheit.
Haben Sie ein wenig davon gefunden.
Ja, das habe ich. Ich habe irgendwo ein kleines Paket. [Lachend]
Wo fanden Sie Wahrheit? In Ihren Filmen oder im Leben?
Nun, natürlich auch in den Filmen. Denn wovon handeln Filme:
Leben, Tod, Liebe - immer die gleiche Geschichte. Und man
kann gegenseitig voneinander profitieren. Zum Beispiel Francois
Truffaut hat von mir viel über die Frauen gelernt, ich bei
ihm vieles über Filme.
Über die Männer haben Sie von Truffaut nichts gelernt?
Nichts, was ich nicht bereits wußte.
Sie meinten einmal, ihre Regisseure und ihre Liebhaber möchten
Sie nicht miteinander vergleichen. Warum eigentlich nicht?
Darum nicht. Es hat etwas Verletzendes.
Ist es besser, seine Geheimnisse zu haben?
Oh nein, das ist gar keine Frage von Geheimnissen. Wie können
Sie einen Menschen überhaupt mit dem anderen vergleichen?
Das ist eine Erniedrigung für den einen wie den anderen. Jede
Person ist eine spezielle Erfahrung. Ich hasse es, wenn manche
Männer und Frauen - vor allem Frauen, denn Männer reden über
so etwas nicht so offen - ihre Liebhaber vergleichen: Oh ich
habe mit dem und dem geschlafen, der ist so schlecht, jener
ist ein Loser. Was heißt das denn überhaupt?
Sind Regisseure wie Liebhaber? Gibt es da Ähnlichkeiten?
Natürlich. Beim Film gibt es eine enorme Intimität. Auch
wenn es nicht zum Sex kommt. Es geht da um etwas jenseits
physischer Beziehungen. Physische Beziehungen, das ist wie
essen, pinkeln, scheißen. Wenn man tiefer und tiefer geht,
kommt es zu einem unglaublichen, sehr speziellen Austausch.
Das hat große Bedeutung.
Ist das eine Art intellektueller Sex?
Ich weiß nicht, was intellektuell heißt. Übersicht und Urteilskraft
sind wichtig, damit hat es etwas zu tun. Jeder trifft seine
Entscheidungen, entwickelt seine eigene Philosophie. Wer ist
die Person, anderen Lektionen zu erteilen. Ich bin kein Intellektueller.
Man hat auf der Bühne keine Zeit, ein Intellektueller zu sein.
Aber im Gegensatz zu anderen sind Sie eine intelligente
Schauspielerin &
Ich denke schon, ja. Jeder könnte es sein. Aber man muß Intelligenz
auch kultivieren.
Ist Ihre Art zu spielen, etwas Ursprüngliches, ganz Natürliches,
oder etwas, das Sie sich erst mühsam angeeignet haben und
kultivieren müßten?
Es ist ein Gottesgeschenk. Ich vergleiche mich gern mit einer
Rose im Garten. Das Wasser fließt durch mich hindurch. Ich
selbst muss sauber sein.
Sind Sie das Medium Ihrer Regisseure?
Ich denke ja.
Fällt es Frauen leichter, sie so zurückzunehmen? Oder ist
das für einen Mann das Gleiche?
Ich bin kein Mann. Ich weiß, dass manchen das sehr schwerfällt.
Aber die Größten haben genau dies akzeptiert. Nehmen Sie Marcello
Mastroianni. Der war auch ein Medium. Alles was auf ihn einströmte,
gab er weiter und verstärkte es.
Man muss sich zurücknehmen. Und es gibt einen Punkt, da merkt
man das gar nicht mehr. Manchmal ist man fassungslos, wenn
man sich dann selbst auf der Leinwand sieht: Mein Gott, wo
kommt das denn her? So war Marcello.
Gilt dies auch in der Beziehung zu den Regisseuren? Denn
die sind ja meistens Männer?
Vergessen Sie das Geschlecht! Auf Formularen muss man immer
"f" oder "m". ankreuzen. Vergessen Sie das. Wir sind alles.
Ein Künstler ist nicht mehr "f" oder mehr "m".
Sie möchten einmal den "King Lear" spielen, nicht wahr?
Oh ja. Den haben ja schon ein paar Frauen gespielt. Vielleicht
vorher noch Richard den Dritten. [Lacht]
Das wäre schön. Sie haben schon Männer auf der Bühne gespielt.
Wie war die Erfahrung?
Zweimal. Mit 18 in einem Racine-Stück und mit 20 in einem
anderen. Ich habe das damals sehr genossen. Es wird Zeit,
dass ich es wieder tue. Ich habe nach wie vor noch viel zu
lernen.
Rüdiger Suchsland
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