Ein Orkan stürmt über Berlin. Der Regen peitscht über den
Potsdamer Platz, man hat keine Chance ihm zu entgehen. Nach
einer Minute ist man pitschnaß, fünf weitere braucht man,
um das Kino zu erreichen, ein Weg über Bauschotter und 10
Zentimeter tiefe Wasserpfützen. Berlin 2000, ein Un-Ort. Wir
befinden uns im wilden Osten. Wir befinden uns auf der 50.
Berlinale.
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Eröffnet wurde sie mit THE MILLION DOLLAR HOTEL, und zum
ersten Mal nimmt damit Wim Wenders am Wettbewerb seiner Heimatstadt
teil. Wir erinnern uns: Mitte der 80er Jahre zeigte Wenders
in "Der Himmel über Berlin" den Potsdamer Platz, als er noch
ganz leer war und keiner an die Hochhäuser dachte, die jetzt
in den Himmel schießen. "Ja wo ist er denn, der Potsdamer
Platz?" rief damals der greise Curt Bois, ziemlich genau an
der Stelle, wo Wenders heute Abend den roten Teppich betritt.
Nun trifft das Amerika, von dem seine filmischen Traumlandschaften
immer auch erzählen, auf das amerikanisierte Berlin des neuen
Festivalgeländes.
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Der Umzug zum Jubiläum, weg aus dem Viertel zwischen Ku'damm
und Breitscheidt-Platz stellt in diesem Jahr alles andere
derart in den Schatten, dass der rote Teppich vor dem Premierenkino
sogar das Festivalplakat ziert.
Man hat sich Mühe gegeben. Vor dem "Berlinale-Palast", liegt
der "Marlene-Dietrich-Platz" und eine "Billy-Wilder-Bar" gibt
es auch die Berlin-trifft-Amerika-Metaphern sind offensichtlich.
Und ganz praktisch gesehen haben die neuen Räume viele Vorteile:
Kurze Wege und modernere Technik werden vor allem den rund
4000 Journalisten aus aller Welt das Festival-Leben leichter
machen.
Alles wird anders? Abwarten.
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Obwohl der Wettbewerb diesmal von 26 auf 21 Filme reduziert
wurde, nehmen drei Deutsche teil: Wenders, Schlöndorff und
Thomé. Positiv könnte man sagen: Die alte Garde. Oder eben:
Die alten Säcke. Als ob es nichts Neues gäbe im deutschen
Film. Oder trauen sich die Regisseure nicht her?
Oskar Röhlers gespannt erwartete "Umnachtung" (Hauptrolle:
Hannelore Elsner) wurde hingegen abgelehnt. Warum eigentlich?
Jetzt hofft er auf Cannes. Matthias Glasners "Fandango" läuft
nächste Woche in der Panorama-Reihe.
Wenders, Schlöndorff und Thomé also. In unterschiedlichster
Form haben alle drei Nominierten das gleiche Thema: Deutschland.
Drunter scheints hierzulande nicht zu gehen.
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Warum ist man eigentlich hierher gezogen? Warum muss ein
Festival im Zentrum liegen? Politische Gründe natürlich, eine
falsche Versöhnung mit dem Osten. Befriedigung von Sponsoren.
Berlin-Mythen, verlogen auf alle Fälle. Moritz de Hadeln ist
nunmehr seit 20 Jahren Festivalleiter. Vor zwei Jahren nannte
ihn einer den "Helmut Kohl der Berlinale", aber das kann man
heute ja nicht mehr so sagen. Im Programmheft sieht er aus,
wie Graf Dracula in der Endphase.
Was aber für ihn spricht, ist, dass er nicht für den Umzug
war. Er hat sich, ähnlich wie sein ewiger Rivale, der Forumsleiter
Ulrich Gregor, politischem Druck gebeugt.
Es wird dauern, bis man mit den geweißelten Wänden der neuen
Räume und den sterilen Multiplex-Kinos auch Filmkultur verbindet.
Und es scheint symptomatisch, dass die neue Berlinale ihr
Domizil in einem Zentrum der Event-Kultur aufgeschlagen hat,
in einem Gebäude, das während des übrigen Jahres mit Kino
nichts zu tun hat.
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Auch die Umgebung tröstet kaum. "Trabantenstadt" hätte man
früher gesagt. Auch "Amerikanisierung" fällt einem ein. Der
Ausdruck ist natürlich vorbelastet. Bis in die 50er Jahre
hinein diente die Chiffre dazu gegen Verwestlichung und Demokratisierung
Front zu machen. Das ist natürlich nicht gemeint.
Aber wer durch die "City-Halle" geht, eine pseudo-Mall mit
standardisierten Geschäften der bekannten Ketten, der findet
hier alles Mögliche, Urbanität sicher nicht. Brian de Palma
könnte hier vielleicht einen guten Film drehen, ansonsten
möchte man alles am liebsten in die Luft sprengen. Direkt
gegenüber des "Berlinale-Palast" blickt man auf ein "MacDonald's".
Daneben eine Musikmarktkette. Schräg drüben liegt der riesige
Sony-Komplex. Die wenigen Lokale vor Ort sind steril und überteuert.
Die für Berlin so typischen kleinen Kneipen, die Currywurst-
und Dönerbuden sucht man ebenso vergebens wie Zeitungsstände.
Was Stadtplaner generell am Potsdamer Platz kritisieren, trifft
die Berlinale erst recht: In einer kommerzialisierten Retortenlandschaft
kann Großstadtatmosphäre nur schwer gedeihen. Noch fehlt genau
das, was eine Metropole ausmacht: der Schmutz, die Kontraste,
das ganz normale Leben.
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Diese künstliche Welt passt immerhin hervorragend zur diesjährigen
Retrospektive: "Künstliche Menschen" ist das Thema. Man zeigt
"Frankstein", "Terminator", "Robocop". Dazu viele schöne alte
Filme. Bald mehr dazu.
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Überhaupt geht es hier ja um Filme, nicht um den Umzug. Jetzt,
vor Beginn, kann man nur mutmaßen. Die Retro, ebenso die Hommagen
zu Robert de Niro und Jeanne Moreau, können gar nicht schlecht
sein. Im Forum viele japanische und chinesische Filme. Im
abgespeckten Wettbewerb der neue Film von Paul Anderson ("Boogie
Nights"), ebenso Neues von Oliver Stone, Claude Miller, der
erste Film von Minghella seit "The English Patient".
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Vom Himmel hoch stürzt sich die Kamera sanft hinunter. Ein
Hochhausdach im Zwielicht. Der junge Mann fliegt die Häuserwand
hinab. Kein Engel, soviel ist gewiß. "Erst nach meinem Tod
wurde mir klar, das Leben ist wunderbar."
Ein einziger Straßenblock ist der Schauplatz von Wim Wenders
neuem Film. "Ein Hotel und die vier Straßen drumherum. D'rüberhinaus
galt et nich." beschreibt Wenders schnoddrig den bewußt begrenzten
Raum. Ausgerechnet bei ihm, der wie kein zweiter Europäer
die weiten Horizonte inszeniert hat.
Diesmal ist der Un-Ort (denn das bedeutet das griechische
"Utopie" ganz wörtlich), an den Wenders sein Publikum entführt,
selbst bereits ein Zeichen. Das "Million Dollar Hotel", ein
mythischer Ort des US-Kinos, ist heute eine unter vielen Absteigen
in Los Angeles, der Stadt der Engel. Sie wird bei Wenders
zur Begegnungsstätte von Autisten: Darunter der FBI-Detektiv
Skinner, der in ein Metallkorsett geschnallt ist, und nur
über Apparate überlebt. Eine Metapher für Aufklärung und Action,
ihre Verwandtschaft und ihre Grenzen. Ein Maschinenmensch,
auch das paßt ideal zur Retro. "Man kann an Frankenstein denken,
oder auch an Figuren aus 'Metropolis'" sagt der Regisseur.
Berlin trifft Amerika. Diesen Skinner (dessen Name geborgt
von einem berühmten Verhaltensforscher und Behaviouristen
schon ein erster gelungener Witz ist), spielt ein amerikanischer
Star, der gar keiner ist: Der Australier Mel Gibson, nur scheinbar
der grobe Klotz, als der er in seinen Filmen von "Mad Max"
bis "Braveheart" in apokalyptischen Landschaften durch Dreck
und Schmutz die Fahne der Freiheit hochhält. "Ich habe noch
nie bessere Schauspieler gehabt. Ich habe noch nie so lange
gesucht die optimale Besetzung. Mel Gibson ist ein großartiger
Schauspieler."
Zum amerikanischen Kino hat Wim Wenders immer eine besondere
Affinität gehabt. Befreiung von der Enge der deutschen Erbauungskunst
fand er dort, und suchte in eigenen Filmen immer wieder die
Schauplätze des US-Kinos auf, von "Hammett" bis "Paris, Texas"
und jetzt eben "The Million Dollar Hotel". Unser Unterbewußtsein
sei amerikanisch kolonisiert, ließ er einmal eine seiner Figuren
sagen, und fast klang es wie bei Habermas. Man darf das als
Credo nehmen: "Hollywood ist ganz klar heute mehr denn je
der Maßstab." Das gilt wie der Satz mit der Kolonisierung
offenbar nicht nur für die Filme.
"The Million Dollar Hotel" ist ein philosophischer Film-Essay
über Fluchtbewegungen und die Fragwürdigkeit von Identitäten.
Die Apokalypse im Kleinen, die Wenders vorführt, ist für ihn
zugleich die Apokalypse einer Moderne, in der sich Wenders
nicht mehr richtig heimisch zu fühlen scheint. Ein Anti-Kino,
das viel Aufmerksamkeit verlangt und partiell belohnt, das
zwar produktiv und transzendental ist, aber am Zeitgenössischen
gemessen eben auch "Anti".
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Die Heimkehr eines der letzten großen deutschen Filmautoren
seit Jahren wohnt Wenders, der nach bald 30 Jahren "immer
noch ein paar Koffer in Berlin" hat, hauptsächlich in Los
Angeles - ist ungleich weniger gefällig und modisch als im
vergangenen Jahr zur Eröffnung "Aimée & Jaguar". Sie wird
längst nicht allen gefallen. Fragmentiert und zögernd, in
seinen vielen unbeantworteten Fragen ist der Film aber immer
auf der Suche nach einem Kino, das zeitgemäß bleibt und dabei
grundsätzliche Ansprüche jenseits der Unterhaltung einlösen
kann. Gleich zu Beginn des Jubiläumsfestivals zeigt Wenders'
sehr persönliche Ortsbestimmung der Gegenwart, was Film auch
immer leisten sollte: "Die Idee von Veränderung wachzuhalten."
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Die Berlinale wird anders. Ob sie auch urbaner wird, ob es
ihr vielleicht sogar gelingt, der Baustelle Potsdamer Platz
zum ersten Mal Leben einzuhauchen, muss sich noch zeigen.
Aber alle diese Überlegungen sind letztlich zweitrangig: Sofern
die Filme gut sind, wird graue Wände hin, roter Teppich
her - auch das Festival Erfolg haben.
Rüdiger Suchsland
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