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The Good
AMERICAN PSYCHO, USA/CAN 2000
Ein roter Tropfen fällt herab, durchquert die weiße
Leinwand. Ein weiterer folgt ihm. Und noch einer.
Alle, die mal was von Bret Easton Ellis' Skandalroman "American
Psycho" gehört haben, wissen: Das muss Blut sein.
Es ist Sauce für einen großen Teller mit einem
kleinen Häuflein nouvelle cuisine.
Allen, die sich vom dummen Gezeter und unverständigen
Moralgehubere um Easton Ellis' Buch nicht haben scheu machen
lassen sondern mit wachem Verstand einfach selbst gelesen
haben, darf schon bei dieser Eröffnung der lange dräuenden
Verfilmung ein großer Stein vom Herzen fallen: Regisseurin
Mary Harron hat den Roman kapiert. Hallelujah.
AMERICAN PSYCHO ist, wie seine Vorlage, eine böse Satire
auf die 80er, auf deren Selbstverliebtheit und Oberflächlichkeit,
auf Reagonomics und Yuppies, Markenkult und Körperwahn.
Und wie seine Vorlage ist der Film äußerst treffsicher
im Aufspießen seines Spott-Ziels.
Wenn der Film also etwas leisten wird, dann vor allem, bei
vielen endlich den vernagelten Blick darauf freizukriegen,
worum es Easton Ellis in seiner Geschichte um den sadistisch
serienmordenden Aktienhändler Patrick Bateman wirklich
ging. Und das ist sehr löblich und auch gar nicht wenig.
Das Problem des Filmes ist freilich, dass seit der heißdiskutierten
Veröffentlichung des Romans sieben Jahre vergangen sind.
Und er nun fast schon wieder wirkt wie ein Kostümfilm.
Als das Buch herauskam, war sein Thema noch wesentlich näher
und brennender, ging's noch um eine Welt, die zumindest in
Resten um einen herum noch unmittelbar vorhanden war. AMERICAN
PSYCHO schießt sich dagegen auf einen Feind ein, der
(auch wenn er in diffundierter und transformierter Form durchaus
noch virulent ist) sich längst selbst besiegt hat. Man
kann heute befreiter darüber lachen, wie unsäglich
die 80er waren - aber auch ohne dass dabei noch viel auf dem
Spiel stünde.
Zumal der Film eine Grundentscheidung trifft, die im gleichen
Maße verständlich und sinnvoll ist wie letztlich
doch feige: Für die fast unerträglich exzessiven
Gewaltszenen des Romans (wegen derer er so umstritten war
und ist bei allen, die Kontext für ein unwesentliches
Detail halten) versucht AMERICAN PSYCHO gar nicht erst, ein
bildliches Analogon zu finden. Das ist insofern klug, als
im Rahmen eines kommerziellen Films eine adäquate, grenzüberschreitende
Intensität und Drastik wohl tatsächlich unmöglich
gewesen wäre - und jede abgeschwächte, in Mainstream-akzeptable,
abgesicherte Muster gepresste Form ein übler Verrat am
Sinn und Zweck der Szenen gewesen wäre. Dass einem bei
Easton Ellis bei Batemans Morden wirklich schlecht wurde,
da gar kein Thrill und Krimi-Grusel mehr dabei war, es weh
tat und widerlich war - das war die Absicht und die Leistung
des Romans.
Dass Mary Harron meint, dies nicht in Bilder übersetzen
zu können (zumindest nicht, solange ihr Film regulär
vermarktbar bleiben soll), ist legitim. Was sie damit aber
auch einbüßt ist die Wucht der Rückkehr des
Verdrängten. Bei Easton Ellis wurde in diesen Szenen
all das greifbar, was an unausgesprochener, unsichtbarer Gewalt
unter der glatten Yuppie-Fassade schlummerte, manifestierte
sich massiv das, was das von ihm beschriebene System in Wirklichkeit
auf vermeintlich saubere und zivilisierte Art mit seinen Verlierern
anstellte. Da wurde klar, dass bei allen Lachern, die eine
Satire mit spöttischer Beschreibung der Oberfläche
kassieren kann, es doch tiefer um tödlichen Ernst geht.
Das Fehlen dieser Komponente ist es wohl noch mehr als der
größere zeitliche Abstand zum Gegenstand, was dem
Film eine gewisse Hohlheit verleiht. Zumal Harron den Tod
dann doch nicht ganz konsequent off-screen läßt
sondern für ein paar Momente in die Gefilde vertrauten
Splatters abrutscht. Da liegt die Gefahr manchmal ganz nah,
auch die Morde zum Teil der satirischen Gaudi werden zu lassen,
das eigentlich Nicht-Komensurierbare doch zu subsummieren.
Ob man an AMERICAN PSYCHO die Verdienste oder die Defizite
schwerer wiegen läßt, ist letzlich eine Frage der
Erwartung an das Genre der Literaturverfilmung: Mary Harrons
Werk ist für sich genommen eine gut gemachte, hervorragend
gespielte und viel Freude am treffenden Spott hervorrufende
Abrechnung mit den 80ern, im Gesamteindruck leichtgewichtiger
als in seinen zahlreichen wunderbaren Details. Als Adaptation
der Romanvorlage ist es treu in vielen Einzelheiten wie im
Geiste - aber es ist in seiner Wirkung und Tiefe nicht annähernd
ein vergleichbares Äquivalent zu "American Psycho",
und es ist kein Versuch einer Aktualisierung. Der Stand der
Erkenntnis ist kein wesentlich anderer als der vom Buch-Erscheinungsjahr
1993, Patrick Batemans Spur scheint sich gegen Ende der 80er
zu verlieren. Dabei könnte man sie so spannend in unser
Jahrtausend verfolgen: In Bret Easton Ellis' aktuellem, heute
spielenden Roman "Glamorama" reicht Bateman auf
einer Party dem Protagonisten die Hand - und hat noch immer
rote Flecken auf den Manschetten.
(Thomas Willmann)
BEST LAID PLANS, USA 1999
Wir sind wieder einmal eingeladen in eines dieser trostlosen
kleinen Käffer mitten im großen amerikanischen
Nirgendwo. Die Provinz als Wüstenblume, als böser
Scherz des Zufalls. Das wahre Leben ist also anderswo und
würde unser Städtchen nicht diesen schwül-erotischen
Namen führen, keiner würde es vermissen, dieses
bessere, aufregendere Leben, keiner würde von einer anderen
Existenz überhaupt ahnen. Tropico heißt die Ortschaft
hier, die der britische Regisseur Mike Barker seltsam unbevölkert
lässt, eine tote Stadt. Die Räume, die er aufmacht,
sind allein für das Kranke, das Verbrauchte, das Verlorene
bestimmt: eine Müllverbrennungsanlage, eine Tierklinik,
ein All-Night-Diner, eine Pfandleihe, eine Nobelvilla, deren
Besitzer längst das Weite gesucht hat.
Nicks Vater war Geschichtsprofessor - auch eine Art, sich
hinauszuträumen aus der Enge und Nick hofft jetzt nach
dem Ableben des alten Herrn auf eine handfestere Fahrkarte
in die große weite Welt. Aber der Termin beim Anwalt
entpuppt sich als herbe Enttäuschung. Schulden haben
das Erbe weggefressen und Nick wird wohl weiter sein Dasein
fristen müssen als Angestellter im Müllrecycling.
Sein alter Kumpel Bryce scheint es da besser getroffen zu
haben: er hat den Job des housesitters sich ergattert und
darf als solcher die Vorzüge der mit allem Schnickschnack
ausgestatteten Villa genießen. Nach Einbruch der Dunkelheit
sitzen sie beiden im städtischen Diner Tropico Nocturne
und sinnieren über die verpassten aber immerhin denkbaren
Möglichkeiten. Ende der 60er, erzählt Bryce, gab
es ein beliebtes Partyspiel unter den Erwachsenen. Die Männer
werfen ihre Autoschlüssel in eine Schüssel und die
Frauen ziehen sich den Mann für die Nacht. Denk mal über
die Möglichkeiten nach - unsere Väter sind vielleicht
gar nicht wirklich unsere Väter (wie dieses Schlüsselspiel
ausgesehen hat haben wir ja bei Ang Lee beobachten dürfen,
in seinem ICESTORM).
BEST LAID PLANS ist wahrscheinlich (was freilich nicht das
einzige, wohl aber ein nicht unerhebliches Qualitätskriterium
ist) der unaufdringlich-intelligenteste Film dieses Festivals.
Alessandro Nivola gibt den Nick mit jener Aura stoischer Ruhe,
die immer schon hart an der Resignation entlangschrammt, was
wir eigentlich so zuvor nur gesehen haben in den gefrorenen
Gesichtszügen des allertraurigsten aller Hollywoodhelden,
Sterling Hayden. Und wenn der nach einem Ausweg suchte aus
der Tristesse der Städte, in Kubricks THE KILLING, in
Hustons ASPHALT JUNGLE, konnte ihm - Sklave des Kapitalismus
- natürlich zunächst nur das Geld einfallen. Die
Dollarnote als Fetisch der Freiheit, als großer Emanzipator.
Mike Barker hat eine versteckt in der Luxusvilla, die Bryce
gerade hütet, die von dem Liberator an sich unbezahlbar
gemacht wurde: kein geringerer als Abraham Lincoln hat ein
paar Worte gekritzelt auf eine solche Dollarnote. Ein unverkäufliches
Sammlerstück - es sei denn man könnte den Diebstahl
so arrangieren, dass keine Anzeige erstattet werden kann.
Weil der Entdecker selbst bedroht ist, von einer Anzeige der
Vergewaltigung zum Beispiel an einer Minderjährigen...
Verbrechen ist Big Business, reine Ökonomie, das haben
die Amerikaner lang schon erkannt und immer wieder thematisiert
seit die kleinen Cäsaren und die public enemies ihre
bestens ausgeknobelten Pläne verfolgen auf der großen
Leinwand, aber wenn jetzt hier der schwarze Bilderbuch-Gangster
seinem Opfer Nick eine Vorlesung hält über die Gesetze
der Marktwirtschaft, über die Wechselwirkung von Eigeninteresse
und Wettbewerb und die Störfaktoren in dieser Gleichung
ist das ein derart bitterböses Vergnügen, wie es
wohl nur der Schuss schwarzer englischer Humor zuwege bringen
kann, den der Regisseur mitbringt.
Barker hat seinen finsteren Film in warme, schummerige Primärfarben
gehüllt, rot und blau vor allem, die die Ausweglosigkeit
der Helden beinahe zu verhöhnen scheinen. Auch eine ganz
und gar amerikanische Geschichte dabei über den Klassenkampf
in einer als klassenlos propagierten Gesellschaft, einmal
zitiert Nick aus dem GREAT GATSBY - "So we beat on, boats
against the current, borne back ceaselessly into the past"
- jener großartigsten aller Parabeln über die Mitleidlosigkeit
einer Gesellschaft der Self-made Men gegen eben diese. Der
Erzähler bei Fitzgerald heißt übrigens auch
Nick und diese Namensgleichheit ist mit Sicherheit kein Zufall
in dieser bis ins Detail ausgetüfftelten Geschichte über
die hochfliegenden Pläne und den unvermeidlichen Fall,
der folgt aus ihnen, über die Bürde der Vergangenheit
- der jüngsten hier - in die sich auch die Helden des
noir immer wieder verstrickten. "Du denkst immer nur
ans ficken", wirft Nick seinem Kumpel Bryce einmal vor,
als alles schon rasant abwärts geht, "aber darum
geht es nicht in der Welt. Alles dreht sich um das Geld, um
die Macht." "Das ist die Perspektive eines Historikers,"
entgegnet Bryce darauf lakonisch und denkt dabei bestimmt
an Nicks geistiges Erbe, an den Vater, der mit etwas Fantasie
vielleicht gar nicht der Vater ist, sondern nur eine Figur
in dem großen Schlüsselspiel, das Mike Barker hier
angezettelt hat, "aber ich bin Literaturstudent und in
der Literatur dreht sich eben alles um Sex, ums Ficken."
Zwei Welten also, auf den ersten Blick, aber alles hängt
ja mit allem zusammen am Ende, in Tropico und in dem wahren
Leben, anderswo.
(Regine Welsch)
BLOODY ANGELS (1732 HØTTEN), Norwegen 1999
Bei manchen Filmen drängen sich die Referenzpunkte einfach
auf - ohne, dass das diesen Filmen etwas von ihrer Eigenständigkeit
nehmen würde. In der ersten Hälfte von 1732 HØTTEN
hallen deutlich die Echos von TWIN PEAKS und FARGO durch die
kalte, schneeverwehte Kleinstadt voller bizarrer Bewohner.
Bilder, so bleich wie der Norden, in denen ein bulliger Komissar
aus Oslo durch den feindseeligen Ort stapft in dem ein Junge
gewaltsam zu Tode kam, den alle für den bestialischen
Vergewaltiger und Mörder eines kleinen behinderten Mädchens
hielten. Man trinkt Butterfly- statt Coca-Cola (und hat im
nationalen Cola-Wettbewerb damit mal den 4. Platz gemacht),
man kickt Katzen, der fiese Pfarrer hat einen kleinen Hund,
die Mutter des toten Mädchens klammert sich an ihre Stofftiere,
die junge Polizistin lächelt nie, außer über
Bill Cosby, die Pensions-Wirtin macht den Komissar an, und
der Vergleich von Fahndungsfotos mit Leichengesichtern wird
als Memory-Spiel interpretiert - einer dieser Filme über
verschrobene und verquere Landbevölkerung also. Dass
die im speziellen Fall hier auch ein gar nicht so lustiges
Geheimnis verbirgt, merkt man schnell, aber glaubt erst mal
nicht, dass es so schlimm kommen kann.
Aber irgendwann findet man sich in Fritz Langs FURY wieder
statt in TWIN PEAKS, und Regisseurin Karin Julsrud (die mit
1732 HØTTEN ein ganz außerordentlich stilsicheres,
cleveres und hinreißendes Debut feiert) läßt
nach und nach den Spaß versickern, der einem zu Beginn
mit solch großer makaberer Freude in den Film gezogen
hat. Und kaum hat man sich's dann halbwegs im Lynchjustiz-Drama
bequem gemacht und glaubt zu wissen, wie der Schneehase läuft,
trägt einem eine perfide, in diesem Genre (zumindest
mir) bisher unbekannte Wendung aus der Bahn und läßt
einem geradewegs auf ein brillantes Ende zurasen.
(Thomas Willmann)
COMPLICITY, GB 2000
Cameron ist ein böser Junge. Cameron raucht wie ein Schlot,
Cameron säuft (und das nicht nur im Dienst, wo der Journalist
gerade an einem Feature über britischen Whiskey arbeitet),
Cameron kokst. Das sieht nicht gut aus und wenn wir nun im
politisch korrekten Mainstream-Hollywoodkino uns befänden
könnten wir sicher sein, dass es ein ganz schlimmes Ende
nehmen wird mit unserem Helden.
Die Briten freilich sehen das alles erheblich lässiger.
Wenn hier einer zu Fall kommt, dann sicher nicht, weil er
einmal einen Schluck über den Durst getrunken hat. COMPLICITY,
nach dem Roman von Iain Banks, ist ein schönes companion
piece zu BEST LAID PLANS und man kann hier wunderbar vergleichen,
wie unterschiedlich Fragen des Klassenkampfes die Alte und
die Neue Welt umtreiben. Ums Geld geht es hier eigentlich
keinem, alles ist eine Frage der Ideologie, der rechten (und
der linken) politischen Einstellung. Ein blutiger Abgesang
dabei auf die Gültigkeit solcher Positionierungen und
etwas Wehmut macht sich breit beim Sehen, über den Verlust
der Feindbilder, die doch immerhin einiges an Sicherheit,
an Standortbestimmung boten für uns Verlorene. Johnny
Lee Miller, der sich an allen Ecken und Enden der sozialen
Skala bereits aufgehalten hat im Film, als Junkie in TRAINSPOTTING
zugange war bei Danny Boyle und für Allan Rudolph einen
bildschönen Yuppie abgab in AFTERGLOW, ist ein Mann der
Prinzipien, ein Streiter wider den military-industrial complex
und Kommunist aus Leidenschaft in einer hoffnungslos post-kommunistischen
Welt. Du hättest wohl gerne, sagt einmal einer zu ihm,
dass alles auf eine große faschistische Verschwörung
hinausliefe.
Im britischen Kino werden die Helden nicht belohnt für
ihren eisernen Prinzipien, hier ist kein Platz für die
John Waynes oder Jimmy Stewarts und auch Cameron wird auf
drastische Weise erfahren, dass es keine conspiracy gibt,
sondern nur die complicity, keine Verschwörung, sondern
nur eine Mitschuld, ein Haftbarmachen, was so ungleich brutaler
ist, weil man sich nicht mehr zurückziehen kann auf den
Posten des einsamen Richters und Henkers.
Ein ganz unspektakulärer Film auf den ersten Blick nur,
wo das Grauen der sich auflösenden Grenzen zwischen Gut
und Böse, zwischen Richtig und Falsch dann umherschleicht
auf den regennassen Strassen, im nebligen schottischen Hochland.
Ein Netz fataler Leidenschaften zieht sich zusammen um Cameron,
ein Serientäter mordet scheinbar politisch motiviert
und unter den üblichen Verdächtigen hat sich die
Polizei nun ausgerechnet Cameron ausgespäht als idealen
Kandidaten. Die Geschichte von einem, der auszog sich gegen
die ganze Welt zu behaupten, hineingestoßen in eine
Situation, die er selbst nicht versteht und die ihm keiner
glaubt - das ist natürlich klassisches Kinoterritorium
und nicht zuletzt Alfred Hitchcock hat sie immer wieder gerne
erzählt, in England THE THIRTYNINE STEPS, in Amerika
NORTH BY NORTHWEST. Hier, 1999 bei Gavin Miller, lässt
sich das ganz und gar unromantisch an, für den Helden
ist nichts mehr zu gewinnen, nicht einmal das blonde Mädchen.
Das Leiden, der Schmerz taugt nicht mehr zur Katharsis, ist
nicht Katalysator der Reinigung, folglich kann es auch keine
Erlösung geben. Der Staat ist eine Maschine, die ideologiefrei
funktioniert: das ist das wirklich beängstigende Moment,
das dieser Film so erbarmungslos uns mal eben mitgibt in einer
stakkatohaften Choreographie der Schnitte zwischen brutalem
Polizeiverhör und Gefängniszelle, in der Cameron
vegetiert, schuldlos, verständnislos - kein unbeugsamer
Held sondern ein misshandeltes Häufchen Elend, weinend,
rotzend, frierend. Nicht wirklich eine Geschichte von Schuld
und Sühne, COMPLICTY, sondern von Sühne ohne Schuld
und genau darin am Ende so erschreckend, so pessimistisch.
(Regine Welsch)
FORTRESS 2: RE-ENTRY, Luxemburg 1999
Filme mit Christopher Lambert und das Fantasy Filmfest - das
gehört zusammen wie das A- und B-Hörnchen. Ein Jahr
ohne Christopher wär' einfach nicht vollständig,
da würde uns tief drinnen was fehlen. (Nein, wirklich,
ohne Ironie!) Das Fantasy Filmfest ist inzwischen ja so ziemlich
zur letzten Zuflucht geworden, wo man den einstigen HIGHLANDER
noch auf einer richtigen Leinwand sehen kann - und man muss
zugeben: Jedesmal, wenn wieder zwölf Monde verstrichen
sind, wird's noch ein bisschen schwerer zu glauben, dass der
Mann wirklich mal ein großer Star war. Letztes Jahr
machte er in RESURRECTION allerdings noch den Eindruck, als
wäre immerhin er selbst von seinem Status nach wie vor
fest überzeugt und glaube an ein unausweichliches Comeback.
Dieses Jahr durften wir ihn schon zurückgenommener erleben,
weniger auftrumpfend in der Heldenpose, schon mit einem Hauch
der Resignation in den Augen. Und dafür mit einem der
schönsten Filme, in dem er je gespielt hat.
Das liegt daran, dass Regisseur Geoff Murphy (der mit UNDER
SIEGE 2 schon bewiesen hat, dass sein Name für Funde
kleiner, funkelnder Kino-Juwelen an den unerwartetsten Orten
bürgt) im Gegensatz zu seinem Hauptdarsteller noch nie
Größenwahn hegte. Der hat keine Illusionen, hier
den neuen CITIZEN KANE zu drehen, versucht nicht, großes
Gewicht zu hubern, wo keines ist - sondern nimmt seinen Job
einfach ernst und macht ihn verdammt gut. Das ist endlich
mal wieder ein Film, der tatsächlich so ist, wie das
die bunten, billigen, aufregenden, knalligen Plakate (bzw.
heute meist leider nur noch Videocovers) echter B-Pictures
versprechen. Kein Gramm Fett, kein überflüssiges
Gequatsche, kein langes Gefühlsduseln sondern anderthalb
Stunden purer, knackiger Kino-Spaß. Da schämt sich
einer nicht für das, was er macht, sondern kommt zur
Sache: Maximal zehn Minuten zwischen zwei Action-Szenen, und
nach einer halben Stunde steht die Hauptdarstellerin nackend
unter der Dusche. Jawoll!
Das ist kein Film, der ständig ironisierende Überlegenheit
ausspielen will, sondern einer, der lieber immer wieder mit
unerwarteter Cleverness überrascht, der regelmäßig
wahren Witz aufblitzen lässt. Und endlich auch mal wieder
ein Film mit einem richtig schönen Bösewicht, einem
von der alten Schule, einem dieser unterkühlt chargierenden,
kultivierten Sadisten mit Upper-Class-Akzent, der hier fassungslos
zusehen muss, wie seine schönen Pläne so langsam
um ihn herum zusammenbröckeln, weil sein als rechte Hand
fungierender Computer immer alles ein wenig zu wörtlich
nimmt.
Weil dann auch noch unser Liebling Pam Grier ein kleines,
feines Gastspiel gibt, weil so viele nette Zitate aus Gefängnis-
und Gefangenenlager-Filmen unaufdringlich eingeflochten sind,
weil Aerobic- und Selbsthilfe-Videos selten so schonungslos
als purer Psycho-Terror demaskiert wurden und weil uns die
kurze Fernseh-Szene mit dem nackten Mann, der nackten Frau,
der Gitarre und dem Metronom ("Is this one of those Independent
Films?") gar so gut gefallen hat, erklären wir FORTRESS
2 hiermit kurzerhand zu einem der Filmfest-Highlights - und
fordern: Keine Rücksicht auf die zarten Hoffnungen des
Luxemburgischen Kinos - gebt Geoff Murphy endlich $100 Mio.
Budget und die Regie beim nächsten großen Hollywood-Action-Blockbuster!
(Thomas Willmann)
HEAVEN, Neuseeland, 1998
Während eines Schnitts vergeht eine 24tel Sekunde - die
Zeit zwischen zwei Filmbildern.
Während eines Schnitts kann alle Zeit der Welt vergehen
oder gar keine, können wir weit in die Zukunft springen,
fern in die Vergangenheit oder nur an Ort und Stelle den Blickwinkel
wechseln.
Dieser potentielle Zusammenbruch der Chronologie zwischen
zwei Einstellungen ist eines der essentiellsten Momente von
Kino-Magie, und zugleich eines der am strengsten domestizierten,
der am schärfesten in Regeln und Sicherungsmechanismen
geschnürten. So selbstsicher ist das Kino da im Korsett
bürgerlicher Ästhetik geworden, dass Rückblenden
zum nie die Verständlichkeit bedrohenden Standard geworden
sind, und man selbst den übernatürlichen Blick in
die Zukunft unter Kontrolle bekommen hat. Wenn nicht einer
kommt wie Scott Reynolds und das vertraute Kartenspiel unorthodox
mischt und uns ein paar neue Tricks damit zeigt.
Heaven ist eine von der Geburt in einen Männerkörper
verschlagene Frau, die als Tänzerin im billigen "The
Paradise" arbeitet - und ihrem Boss hilft, beim Spiel
die Unwägbarkeiten des Glücks zu umgehen: Heaven
kann in die Zukunft schauen - oder besser gesagt: Heaven wird
ständig von ungewollten Blicken in die Zukunft überfallen.
Und nicht alles, was sie dabei sieht, ist so harmlos wie die
richtigen Lottozahlen. Der Plot webt um die Figur Heavens
ein dichtes Netz von Verrat und Gewalt, in dessen eigentlichem
Zentrum der bankrotte Architekt Robert (ein guter Freund von
Heavens Boss) steht.
HEAVEN geht ruhig und methodisch zur Sache, zeigt Pokerface
und läßt sich erst nach und nach in die Karten
blicken. Man wiegt sich lange in Sicherheit, glaubt, locker
mitziehen zu können - und merkt erst, wie hoch der (emotionale)
Einsatz geworden ist, wenn der Film einem keine Möglichkeit
mehr zum Aussteigen lässt und dann genüsslich ein
As nach dem anderen auf den Tisch blättert. Zum Glück
gehört man hier auch zu den Gewinnern, wenn man von Regisseur
Scott Reynolds übertrumpft wurde - denn es ist die reinste
Freude, einem solchen Meister des Eskamotierens beim Handwerk
zuzusehen.
Das Faszinierndste an HEAVEN ist dabei, wie unforciert, wie
in sich ruhend und wie fern von jeder billigen Taschenspielerei
zu Werke gegangen wird. Das ist vollkommen fern davon, nur
ein auf zwei Stunden ausgewalzter Trick zu sein, ein letztlich
auf einer Pointe fußendes Kartenhaus - viel, viel ferner,
als es beispielsweise THE SIXTH SENSE je war.
Was HEAVEN vor allem sicher verankert, ist sein Respekt, seine
Liebe für Charaktere - und zwei großartige Schauspielerleistungen:
Danny Edwards in der Titelrolle und Richard Schiff als schmieriger
"Chairman of the Board", Heavens Boss. Nicht dass
der eigentliche Hauptdarsteller Martin Donovan seine Sache
schlecht machen würde - aber die wahre Show gehört
nicht ihm. Edwards erspart uns als Heaven jegliches Transen-Klischee,
gibt sie mit wunderbarer Würde und Wärme und tiefer,
gar nicht tränenheischender Tragik. Und bei Richard Schiff
fällt es schwer, überhaupt zu glauben, dass der
spielt: Wenn man ihn in diesem Film sieht, ist es fast unmöglich
sich vorzustellen, dass der etwas anderes ist als ein mieser,
kleiner Nachtclubbesitzer mit delusions of grandeur. Und dann
holt er im entscheidenden Moment doch noch etwas Menschlichkeit,
echter Verletzlichkeit aus der Figur.
Die Verletzlichkeit der Figuren - das ist es letztlich auch,
was HEAVEN zu weit mehr macht als nur einem grandios geglückten
formalen Experiment. Es sind die Wunden, die Orientierung
bieten im chronologischen Labyrinth des Films. Die verletzten
Körper (und HEAVEN erspart - so ruhig und zurückhaltend
er sich geben kann - wenn die Gewalt ausbricht nichts, wird
gnadenlos drastisch) können die Sprünge auf der
Zeitachse nicht einfach im Augenblick des Schnitts überbrücken.
Sie tragen die Spuren der Vergangenheit in sich eingeschrieben,
sie selbst werden zum sichtbaren Zeichen dessen, was ihnen
geschehen ist. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es.
Im Herzen von HEAVEN geht es darum zu zeigen, dass sie es
- wenn überhaupt - nur ganz, ganz langsam tut.
(Thomas Willmann)
A LIVING HELL (IKI-JIGOKU), Japan 2000
Kennen Sie dieses Gefühl in Alpträumen, wenn es
ist, als würde man durch Sirup laufen, wenn sich alles
unglaublich langsam bewegt, aber gleichzeitig unerklärlich
schnell passiert, wenn man sich wie in einer Schleife gefangen
fühlt, ein hysterisches Auf-der-Stelle-Treten? Lange
hat kein Film dieses Gefühl so gut eingefangen wie IKI-JIGOKU.
Die bizarren, gräßlichen Ereignisse scheinen sich
nur so überschlagen zu wollen, aber präsentiert
werden sie zumeist mit einer ungeheuren Langsamkeit, einem
methodischen, kriechenden Rhythmus.
Der Höhepunkt ist eine minutenlange Sequenz, die (bis
auf wenige Zwischenschnitte) aus der subjektiven Sicht des
Opfers gefilmt ist - der Hauptfigur, die im Rollstuhl sitzt
und sich nie ernsthaft versucht zu wehren, was ein schönes
Bild ist für die Situation des Publikums -, mit einer
leicht verzerrenden Fischaugen-Optik, dazu immer und immer
das gleiche Arpeggio auf dem Soundtrack, und die Peiniger
(die geisteskranke Familie des Opfers) stehen abwechselnd
reglos in der Tiefe des Raumes Spalier oder zappeln und hampeln
vor der Kamera herum als wären sie das monströse
Resultat einer unheiligen Liaison von Jim Carrey und Hannibal
Lecter - ein laaaaanger Moment inspiriert surrealer Hysterie.
Was den Film dennoch davon abhält, ein Meisterstück
an Alptraum-Kino zu sein, ist das deutliche Gefühl, dass
bei vielem mehr der Zufall als ein künstlerischer Wille
Regie geführt hat. Die Produktionsgeschichte spricht
dafür (Budget $10.000, neun Tage Drehzeit, drei Tage
Schnitt - alles wesentlich weniger, als das Endergebnis je
vermuten ließe), und manches, was der bei der Vorführung
anwesende Regisseur Shugo Fujii zu sagen hatte. Was alles
nicht weiter von Belang wäre - schließlich ist's
gänzlich egal, ob ein großer Film Glücksfall
oder durchdachtes Meisterwerk ist - wenn der Film weniger
den Eindruck hinterließe, dass er eigentlich etwas anderes
sein wollte, als er ist. Der seltsame, lethargisch-somnambule
Rhythmus scheint oft genausowenig kontrolliert wie andere
filmische Eigenarten - manches ist wohl eher Resultat eines
Scheiterns am Versuch konventionellerer Ästhetik als
bewußte Alternative. Es drängt sich öfters
der Verdacht auf, dass die Verschmelzung von THE TEXAS CHAINSAW
MASSACRE und Brian De Palmas SISTERS, die der Film ganz offen
und unverholen anstrebt, eigentlich nicht nur auf inhaltlicher
Ebene geplant war und die erhebliche stilistische Diskrepanz
hauptsächlich auf reichlich geringem filmsprachlichen
Reflektionsvermögen beruht.
So bleibt IKI-JIGOKU gelegentlich in der unergiebigen Mitte
stecken zwischen der frenetischen, rohen, naiven Energie einer
echten Amateur-Produktion und dem festen, beklemmenden Griff
einer gekonnten, erfahrenen Durchstilisierung. Und man muss
(und darf aber auch) sich wie im krausen Geflecht eines echten
Traums mit den spontanen Momenten der wahnhaften Transzendenz
zufrieden geben.
(Thomas Willmann)
NANG-NAK, Thailand 1999
Liebe ist stärker als der Tod - das haben wir im Kino
schon öfter zu sehen bekommen. Und sollen es gewöhnlich
tröstlich finden und schön, bekommen es als hochromantischen
Sieg präsentiert. NANG-NAK aber präsentiert uns
das faulige Innere dieser Vorstellung hinter der Valentinstag-Politur:
Er macht aus der thailändischen Legende von der nicht
enden wollenden Liebe einer treubraven Ehefrau eine Geschichte
über den Grusel des Nicht-Loslassen-Könnens. Nang-Nak,
die Titelheldin, will nicht akzeptieren, dass alles, auch
die größte Liebe, einen Endpunkt hat und umsorgt
ihren nichtsahnenden Ehemann auch nach ihrem Tod. Der ergibt
sich willig in die Illusion, ignoriert die sich häufenden
Zeichen, das nicht alles so rosig ist, wie es scheint. Was
den Film auszeichnet ist der tiefe, sanfte Schrecken, der
die Bilder der zärtlichen Liebe immer mehr vergiftet,
die kriechende Korruption, gepaart mit einer großen
Trauer und Tragik. Es ist ein langer Weg zur Akzeptanz, dass
ein scheinbar unüberwindbarer Verlust manchmal trotz
allem der geringere Preis sein kann.
Inszeniert ist das mit jenem gekonnten Pathos, den man, anders
als in Hollywood, in Asien noch ohne Peinlichkeit und spürbarer
Berechnung hinkriegt. Sinnliche Bilder, die flott genug geschnitten
sind, um nicht einer Postkarten-Ästhetik anheimzufallen;
eine (nicht nur in Hinsicht auf die Musik) schön komponierte
Tonspur. Ein bisschen zu glatt, etwas zuwenig ästhetisches
Risiko, um eine Art A THAI GHOST STORY zu werden, ein ebenbürtiges
Äquivalent zu absoluten Hong Kong-Klassikern (deren Vorbild
spürbar ist). Aber allemal ein äußerst schöner
Film.
(Thomas Willmann)
PITCH BLACK, AUS/USA 2000
Das wahre Leben soll gefälligst anderswo bleiben, wenn
wir ins Kino gehen zumindest, denn dafür ist diese monströse
Traumfabrik immerhin auch da. Lassen wir uns also, im wohligen
Dunkel des Saales, entführen in eine jener zappendusteren
Endzeitwelten, für die gerade die Australier immer wieder
ein Händchen haben. PITCH BLACK ist der Film des Produktionsdesigners
mehr noch als des Regisseurs. Ein Film, dem Graham Walker
seinen Stempel aufgedrückt, seinen Look verpasst hat
und das ist für alle Freunde des MAD MAX natürlich
eine feine Sache. Gleich sind wir mittendrin, da wird nicht
viel Aufhebens gemacht um Erklärungen und Wahrscheinlichkeiten,
nichts ist mit Exposition, und Vergangenheit bleibt allemal
vage. Das ist das Kino des just believe, pures Adrenalin.
Die Helden sind Männer und Frauen der Tat, zum Grübeln
bleibt da keine Zeit. Ein Raumschiff stürzt auf einen
feindlichen Planeten, die Welt als gigantisches sonnenverbranntes
Outback und dann entfaltet sich eine Fabel des reinen gothic
horror, wie ihn auch die Amerikaner kannten in ihrer Literatur,
bei Melville, Bierce, Poe oder Lovecraft - wo die glücklich
unterworfenen virgin territories grausam Rache nehmen an ihren
Eroberern: Landschaft mit Monstern.
Die Pioniere hier sind Archetypen, des Kino und der Fantasie,
die Damsel in Distress, der Verräter, der Killer. Van
Diesel, der seinen Killerinstinkt (und dabei sind wir schon
wieder in der geheimen Allianz von Business und Verbrechen)
zuletzt ganz nonchalant schon unter Beweis gestellt hat in
dem leider wenig beachteten klaustrophobischen Kammerspiel
des BOILER ROOM, ist der Schwerverbrecher Riddick, der mit
einer ungewöhnlichen Gabe ausgestattet ist: er hat sich,
im Knast, die Augen operieren lassen, jetzt kann er nur in
der Finsternis wirklich gut sehen ganz so wie die monströsen
Wesen, die in den unterirdischen Höhlen des Planeten
hausen. An der Oberfläche dieser Welt, dieses Films,
saugt die Sonne vampirgleich jede Farbe aus dem Zelluloid.
Riddick hat den animal instinct, den es braucht um zu überleben
und wird dabei nolens volens zum Moses, der seine Leute in
die Sicherheit führt, mitten durch das Meer der Dunkelheit.
PITCH BLACK kommt einem, beim Sehen, um vieles kürzer
vor als die immerhin gut 108 angegebenen Minuten. Eine dichte,
atemlose Nachtmahr in einer kleinen überschaubaren Welt,
die aber doch grenzenlos wird in der Dunkelheit, in der wir
nichts und alles zu sehen vermeinen. Auch ein Film für
all diejenigen Testosteronjunkies unter uns, für die
the male animal immer noch die erotischste aller (Kino)Fantasien
ist und bleibt. Leider - und das ist die einzige Einschränkung,
die ich hier aus gegebenem Anlass machen muss - wird der Killer
am Ende ein bisschen zum Gutmenschen bekehrt. Das hätte
dann doch lieber im Dunkel der Geschichte bleiben sollen.
(Regine Welsch)
SCÈNES DE CRIMES, F 1999
Der Tod transformiert die Landschaft: Was eben noch ein beliebiges
Stück Wald war, undifferenziertes Gestrüpp, ist
plötzlich ein Repositorium der Spuren, ein lesbarer Ort,
Text und Nexus der Tangenten von Täter, Opfer und Gewalt
- ein Tatort, eine scène de crime.
Der Tod transformiert die Körper: Was eben noch ein junges
Mädchen war, lebendiges Individuum, geliebte und gehasste
und gekannte Person, ist plötzlich nur noch ein Buch
der Wunden, ein Leib für Identifizierung und Obduktion.
Eine Ansammlung von besonderen Kennzeichen, ein Gerinsel der
Leiden. Ein kryptisches Tat-Abbild, in das vage Schemen des
Mörders eingebrannt sind. Das Opfer wird zur Statistik,
zu Kreuzen auf einem Formular.
Der Tod transformiert die Lebenden: Plötzlich sind sie
Hinterbliebene, Zeugen, Verdächtige. Plötzlich definieren
sie sich nur noch über die Beziehung zu dem Menschen,
der nicht mehr da ist. Plötzlich wird ihr Leben zum Alibi.
SCÈNES DE CRIMES ist ein Film der Spurensuche, aber
keine der üblichen Kino-Jagden auf einen Serienmörder.
Es geht um die Narben, die die Tat bei den Betroffenen hinterlässt,
um den Schnitt im Leben, um die schlagartigen Transformationen.
Und es geht um die Polizisten, die zunächst einmal Beamten
sind, Vollstrecker nicht der Gerechtigkeit sondern einer Bürokratie.
Es sind Menschen, befleckt und konfus wie alle, die sich in
dem abstrakten Bilde einer gesellschaftlichen Rolle wiederfinden.
Es ist ein nüchterner, aber keineswegs kalter Film, ein
Film abgeklärter Trauer - weniger bedeutungsschwanger
und zerknirscht als L'HUMANITÉ, weniger krimihaft als
SPOORLOS - THE VANISHING (um Referenzpunkte abzustecken).
Methodisch und unaufgeregt wie seine Protagonisten von der
Polizei geht Regisseur Schoendoerffer zu Werke, legt rhythmisch
Stein auf Stein wie der Wahnsinnige in Poes "Cask of
Amontillado" und errichtet dabei ein immer mehr den Atem
zuschnürendes Gefängnis für das Publikum. Es
sind keine Schocks und Epiphanien, die hier beeindrucken,
sondern eine stete, erdrückende Zunahme des Gewichts.
SCÈNES DE CRIMES ist wohl dass, was man gemeinhin einen
"realistischen" Film nennt, wenn man für Kino
solche Vokabeln benutzt, aber nicht nur das Ende, das einen
surrealen Hauch hat, weil sich auf verquere Weise die Prophezeiung
eines angeblich hellsehenden Scharlatans erfüllt, spricht
dagegen, sondern auch die große Kontrolliertheit, Stilisiertheit
des Films. Es wäre vielleicht besser, von einem in vielen
Details mimetischen Film zu sprechen, einem, der aus dem Leben
Bekanntes täuschend ähnlich nachbilden kann. Einem,
der sich den Blick nicht nur von den Gepflogenheiten eines
Genres vorgeben lässt, der weniger an einer neuen Iteration
eines ritualisierten Plots interessiert ist. Und der so einen
Teil echten Schmerzes unter den vertrauten Kontrollmechanismen
freischaufeln kann - eine Investigation des Verdrängten.
Und somit eine sehr menschliche Fantasie der Unmenschlichkeit.
(Thomas Willmann)
SPIDERS, USA 2000
"So they injected the spiders with alien DNA..."
"I thought it would be something like that!"
Jawoll, olé Super Spinnen-Gaudi! Bei obigem Dialog
guckt einer der Zuhörer mal kurz Oliver Hardy-mäßig
verdutzt in die Kamera - aber sonst lassen sich die Macher
von SPIDERS kaum anmerken, dass sie das alles nicht so ganz
ernst meinen. Und das ist gut so. Nichts schlimmer als billige
Monsterfilme, die nicht zu dem stehen, was sie sind. Ich meine:
Wir als Publikum sitzen freiwillig in einem Film über
durch Alien-DNA mutierte Riesen-Spinnen. We're in on the joke.
Muss uns nicht dauernd jemand sagen, dass das jetzt nicht
LAWRENCE OF ARABIA ist. Und dass es das in echt alles gar
nicht gibt.
Nein, flott und lustig, aber nicht penetrant selbstironisch
muss es sein - and SPIDERS hits the spot. Da darf man sich
an Dialogen freuen, die mindestens so monströs sind wie
die Spinnen ("This spider is a killing machine!"
merkt die Hauptdarstellerin bereits nach knapp anderthalb
Stunden; "What are you doing there, soldier?" fragt
der Oberschurke einen halbzerfetzt und kaum noch lebend am
Boden liegenden Soldaten), an Schauspielerleistungen, die
punktuell für wenigstens vier William Shattner-Awards
for Inept Overacting gut sind (aber den Rest des Films kompetent
tragen), einer Monsterspinne namens "mother in law"
(Schwiegermutter), an handgeknüpften Spinnennetzen und
an putziger Massenpanik. Kurz: An allem, was man, wenn man
ehrlich ist, eben von einem billigen Monsterfilm erwartet
und was daran Spaß macht. Das ist nicht "schlecht"
(weil, schockschwerenot!, "unrealistisch" oder,
och mei!, illusionsdurchbrechend), sondern das gehört
so.
Und wenn man sich der ganzen Sache gerade so richtig schön
überlegen fühlt, zieht SPIDERS doch noch ein, zwei
Überraschungen aus dem Hut, beweist den entscheidenden
Tick Cleverness. Vor allem aber: Der Rhythmus und die Ballance
stimmen, die Spinnenattacken sind gerade recht verteilt, um
keine Langweile aufkommen zu lassen - und als man schon leicht
enttäuscht über sein geringes Gewicht das Ende gekommen
wähnt, bricht der Film aus dem lange bestimmenden Kammerspiel-Modus
aus, öffnet ein neues Spielfeld und setzt eine schöne,
befriedigende Coda drauf. Yippieh!
(Thomas Willmann)
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