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Berlinale 2001 15.02.2001
 
 
     
 

2:1 für die Alten
Neues und Altes in Berlin: Soderbergh, DiCaprio, Lang und die Rolling Stones

  Erika Christensen und Topher Grace
 
Erika Christensen und Topher Grace in Soderberghs TRAFFIC
       
 
 
 
 

Auf die Frage nach dem Revival des Horror-Films in den späten 90´er Jahren (SCREAM und Konsorten) fand er keine wirkliche Antwort, Adam Simon, der an diesem Abend seine Dokumentation THE AMERICAN NIGHTMARE präsentierte und damit einen der wenigen Höhepunkte im Forum setzte (Es war faszinierend zu verfolgen, wie souverän der Regisseur im Gespräch nach der Vorstellung wirkte, mit welcher Bescheidenheit und Begeisterung er über das Kino sprach). 73 Minuten die Altmeister des Genres, Cronenberg, Carpenter, Craven usw., wie sie über die eigenen Werke sprechen und im Rückblick auf ihre frühen Filme blitzte immer wieder die Intelligenz und Könnerschaft auf, die in ihnen steckt.

Das Genre in den 60´er und 70´er Jahren quergeschnitten mit dem politischen Kontext, in dem sie entstanden, in den besten Momenten Bild und Ton asynchron nebeneinander, so dass beim besten Willen nicht mehr zu differenzieren war, was Zeitgeschichte und was Fiktion ist. Die Alpträume des Kalten Krieges, der Atombombe, der politischen Attentate, Vietnams, in einer neuen, schockierenden und provozierenden Visualität. Die Umstände fühlbar in der Gesellschaft und die Regisseure machten keinen Hehl aus ihren Ängsten, ihrer Meinung, so dass ihre Filme aus einer Notwendigkeit heraus entstanden, die man heute vermisst. Simon stellte die These in den Raum, dass es immer noch diese Themen geben muss, diese gesellschaftlichen Traumata von denen es sich lohne zu erzählen und spekulierte eben mit jenem Revival des Genres. Jede Zeit findet ihren Ausdruck, auch wenn er Stagnation heißt.

Da ist Steven Soderbergh mit TRAFFIC (und es sei gleich gesagt, dass er nicht ausgleichen konnte), der sich Drogen und Drogenpolitik als Sujet aussucht und das fortsetzt, was der Regisseur mit ERIN BROCKOVICH begonnen hat. Das Problem ist nur, dass er, je weiter er sich auf den politischen Diskurs einläßt, den ästhetischen aus den Augen verliert. OUT OF SIGHT und THE LIMEY wirkten formal als wolle Soderbergh das Kino am Ende des 20. Jahrhunderts noch einmal gründlich überdenken, vielleicht sogar neu erfinden. Und jetzt opfert er seine Experimentierfreude der Argumentation. TRAFFIC mag ein wichtiger Film sein um eine bestimmte Diskussion zu führen und die Präzision im Umgang mit seinen Figuren, die dem Zuschauer nah sind ohne gleich in Klischees zu enden, kann man Soderbergh nicht absprechen. Aber inhaltlich hat man das alles schon mal irgendwo gesehen. Drei Erzählstränge werden aufgefahren, jeweils markiert durch verschiedene Orte und Farben. Man merkt wie viel der Regisseur zu sagen hat, wie viel er uns erzählen will über den Konsum, die Dealer, die Täter und die Opfer. Der Einsatz von Handkamera und Jump-Cuts hat sich zu einem Stil entwickelt, der Effizienz großschreibt, der eine Form von Reduktion beschreibt, bei der man sich fragt, wie viel aus einem Handlungsablauf im Kino weggestrichen werden kann, ohne den Zuschauer überzustrapazieren. Der Film fängt gut an, die Bilder aus Mexiko wirken wie ausgebrannt, starke Kontraste und praktisch nur gelb und schwarz, den weicheren Farben aus San Diego gegenübergestellt und dann der Sprung von Gelb in ein tiefes Blau nach Washington, dem dritten Schauplatz. Locker verbundene Genregeschichten, der Hierarchie des Überlebenskampfes folgend, was für die mexikanischen Cops noch die Frage nach der Existenz ist, bleibt für die Kinder reicher Eltern im Norden Amerikas ein Spiel mit dem Feuer. Die Drogen und vor allem das Geld zersetzen Freundschaften, fressen die Familien auf. Michael Douglas als der neue amerikanischen Dogenbeauftragte, dessen Tochter mit ihren Freunden noch einmal nachspielt, was schon in KIDS passiert ist.

Da taucht das Gespenst der Generation X wieder auf, ebenso wie in DON´S PLUM, ein Film von 1998 mit Leonardo DiCaprio und Tobey McGuire, beliebt wahrscheinlich deshalb, weil DiCaprio in Amerika und Kanada eine gerichtliche Verfügung wider eine Aufführung hat erwirken können. Der Film selbst lebt nicht nur von diesem Mythos, schlicht und schwarz-weiß erzählt er den Abend von vier Freunden, an dem gelacht und gehänselt wird und der in einer Parallelmontage von Gewalt, Drogen und Sex mündet. Das Leben nach dem Tod von Kurt Cobain. DiCaprio spielt das, was er schon in CELEBRITY war, der arrogante, frauenverachtende Schönling, seine Figur erzählt von Masturbation und wie sie einst mit dem Liebchen und einer Zuccini die Nacht verbrachte. Die traurige Zusammenarbeit der Amerikaner mit dem Fallobst findet also auch außerhalb von AMERICAN PIE einen neuen, traurigen Höhepunkt...

Ein Glanzlicht in diesen Tagen war GIMME SHELTER, die retaurierte Fassung eines Dokumentarfilms von 1974 über das Konzert der Rolling Stones 1969 in Altamont, bei dem die Hell´s Angels Security spielten und ein Schwarzer getötet wurde. Die Regisseure Albert Maysles, David Maysles und Charlotte Zwerin haben aus Footage, die damals von 30 Kamera- und Tonleuten aufgenommen wurde, einen Film geschaffen, der, ohne auch nur eine Szene nachzuinszenieren, eine herausragende Dramaturgie besitzt. Mit ein paar Eingriffen, kurzen Slow-Motion-Sequenzen und einem Freeze Frame des "Beweisbildes", auf dem alles zu sehen ist (Schwarzer zieht Pistole, Weißer sticht auf ihn ein) am Ende bleibt alles in seiner Ursprünglichkeit erhalten. Keine Kommentare, keine Erklärungsversuche aus heutiger Sicht. Da soll nichts rekonstruiert werden, statt dessen wird der Zuschauer verstrickt in das Netz, dass auf die unvermeidliche Katastrophe hinausläuft, gerade weil man den Film ja "von hinten" liest, also weiß, was passieren wird. Da erhalten die eher belanglosen Gespräche des Anwalts der Stones am Telefon, wie er mit allen Mitteln versucht das Benefizkonzert möglich zu machen (und damit den Stein ins Rollen bringt...) plötzlich eine düstere Bedeutung.

Es gibt sehr intime Aufnahmen der Stones im Studio, wenn man merkt wie ernsthaft sie arbeiten, dass nicht alles Glamour und Groupie ist. Der müde Mick Jagger im Schneideraum irgendwann in den 70´ern, als GIMME SHELTER geschniutten wird und die Bilder einer Pressekonferenz im Monitor, wo er ganz Arroganz und Selbstinszenierung ist und sein Kommentar zu sich selbst: "Rubbish!". Dann das Konzert, die Ankunft der Bands am Landeplatz, wo sie von "Wahnsinn" sprechen. 300.000 Menschen und eine Bühne die ungefähr einen halben Meter hoch ist, davor die Gruppe der Angels, die mit eskalierender Gewalt die Fans von den Musikern abhalten will. Die Blicke auf der Bühne, Mick Jagger, wie er versucht die Situation zu beruhigen und dann der Moment wo "Sympathy for the devil" beginnt und der Film den Mythos voll auskostet und die Ahnung der Gefahr Gewissheit wird. Die letzten Bilder aus der Nacht, im Gegenlicht die Fans, wie sie müde zu ihren Autos wanken und man ist wieder beim amerikanischen Horrorfilm und Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD.

In der Vergangenheit wieder angekommen, vielleicht weil die Gegenwart dann doch nur von Belanglosigkeiten erzählt. ITALIENISCH FÜR ANFÄNGER aus dem Wettbewerb ist so ein Beispiel. Als Vinterberg und von Trier mit IDIOTEN und VESTEN die ersten Dogma-Filme präsentierten, da hatte die ganze "Bewegung" noch einen gewissen inhaltlichen Anspruch, hatte etwas auszusagen über die Gesellschaft. Mit Lone Scherfings Film hat sich das alles in Gelächter aufgelöst. Ein paar Dänen, die sich im Italienischkurs treffen und dann alle Probleme einer Soap-Opera über sich ergehen lassen müssen (Todesfälle, Arbeitslosigkeit, usw.). Die Regisseurin hat ein lustiges Filmchen abgeliefert, das man dank des Videoformates wirklich nicht im Kino gesehen haben muss.

Nichts zu lachen gab es in À MA SOEUR! von Catherine Breillat, die die Kinos letztes Jahr noch mit ROMANCE heimgesucht hat. Feministische Filmemacherin, was bedeutet, dass alle Männer schlechte Väter, Verführer, Mörder und Vergewaltiger sind. Wie auch immer. Dicke Schwester und dünne Schwester fahren mit den Eltern zusammen in den Urlaub, es kommt wie´s kommen muss, die eine hat Sex, die andere nicht. Fünf Minuten im Café reichen aus bis die dicke Schwester wortlos ihren Banana-Split mampft während ihre dünne Schwester mit einem italienischen Gigolo knutscht. Die Figuren also dezent und mit aller Aufmerksamkeit auf Details gezeichnet. Die Liebesnacht zwischen El Italiano und der dünnen Schwester gehört zum Simpelsten und Klischeehaftesten was die Berlinale so zu bieten hat. Er überredet sie irgendwie indem er ihr droht und man fragt sich die ganze Zeit, wie naiv dieses Mädchen eigentlich ist. Die dicke Schwester liegt natürlich im Bett nebenan und weint vor sich hin, was den Verlauf der Geschichte aber allenfalls äußerst gering berührt. Vielleicht will Breillat Filme für Frauen machen, den Körper ihrer jungen (und hübschen) Protagonistin stellt sie trotzdem gerne aus. Ihre psychologische Entwicklung geht von der abgebrühten Lolita zum Dummchen, ihr Lover schenkt ihr einen Ring und sie glaubt tatsächlich, er würde sie heiraten, bis seine Mutter den Ring wiederhaben will und die ganze Sache auffliegt. Dickes Kind und dünnes Kind werden ins Auto gepackt und müssen nach Hause fahren. Die Narration scheint da in der Sackgasse zu stecken, vielleicht taucht deshalb in der Nacht an einer Raststätte ein Typ mit einem Hammer auf, der die Scheibe einschlägt, der Dünnen den Kopf, dann die Mutter erdrosselt und die Dicke vergewaltigt, um das ganze Leiden zu einem Ende zu bringen oder einfach nur um noch einmal zu beweisen, dass Männer wirklich Abschaum sind.

Mit den Männern ging es dann weiter, mit dem Blick der Männer auf die Frau in MALÈNA. Italien zur Zeit des zweiten Weltkrieges, die Geschichte einer Dorfschönheit und eines pubertierenden Jungen, der sich unsterblich in sie verliebt. Regisseur Giuseppe Tornatore schickte damit einen der besseren Filme in den Wettbewerb. MALÈNA beginnt als lockere Komödie und weitet sich im Lauf der Erzählung zu einem echten Melodram aus. Da hätte Annaud lernen können, wie man eine Geschichte, die ein ganzes Volk betrifft, an Personen bindet und dennoch Aussagen über die Vergangenheit treffen kann. Malenàs Sturz bis zur Prostitution beginnt mit dem Ausbruch des Krieges, als ihr Mann für tot erklärt wird und die Nazis einmarschieren. Die Konnotationen des alles dominierenden Voyeurismus, des versteckten Blickes, des passiven Staunens wechseln analog zu den Veränderungen der politischen Lage von einem infantilen Fetischismus hin zu den namenlosen, zuschauenden Gestalten wie sie Kracauer in den deutschen Filmen vor Hitler beschrieben hat. Am Anfang ist Malèna die Unberührbare, die Heilige, später verkauft sie sich als Hure an die Deutschen und als der Krieg zu Ende ist, die Amerikaner einmarschieren, bricht sich die Wut und Frustration der Dorfbewohner gerade an ihr Bahn. Wie eine gefallenen Jeanne d´Arc liegt sie blutend auf dem Marktplatz, muss die Heimat verlassen, so wie der Krieg und der Faschismus verschwinden sollen. Und die Szenen ihrer Rückkehr nach nur wenigen Jahren, wiederum am Markt, als sie zuerst für Aufsehen sorgt und dann doch von den anderen Frauen gegrüßt wird, diese Momente des Schweigens, der Spannung und dann der Augenblick als sie zurückgrüßt und man spürt, welche Last von Emotionen da verdrängt wird, wieviel ungesagt bleibt, ist ein Moment der im Gedächtnis haften bleibt.

MALÈNA stach ein bißchen heraus, gerade weil die anderen Filme im Wettbewerb allenfalls durch Mittelmaß auffallen. INUGAMI zum Beispiel. Masato Haradas Film will vermitteln zwischen Tradition und Moderne in Asien, bizarre altertümliche Riten kreuzen sich mit dem Einbruch der Technologie in die Landschaft jenseits der großen Städte. Ein junger Lehrer kommt neu in die Stadt und es entwickelt sich ein verwirrendes Chaos aus Familienbeziehungen, Freundschaften, Liebschaften. Irgendwann wird in schwarz/weiß überblendet, als das alte Leben in die Gegenwart einbricht, um das authentischer zu machen, um die Illusion von Wahrhaftigkeit zu erzeugen. Harada arbeitet sich ab an den Erzählmustern Hollywoods, baut Versatzstücke des Horrorfilms ein, ohne je orginell zu sein, wirklich etwas über sein Land auszusagen. Am Ende treibt er den Inzest als Metapher (nur mit Tradition und Moderne gibt es eine Zukunft...) auf die Spitze und Mutter und Sohn, die ein gemeinsames Kind erwarten, verlassen die Heimat.

Auch diese Woche kam keiner an die Alten heran. Michael Douglas in TRAFFIC nicht an seinen Vater. Kirk Douglas zweimal als Aufsteiger (THE BAD AND THE BEAUTIFUL / Vicente Minelli / USA 1952 /53 und SPARTACUS /Stanley Kubrick / USA 1960), zweimal seine ungeheure Energie, sein immer gespannter Körper, seine Dominanz in den Szenen. Sein Sohn scheint ein bißchen resignierter, unter dem Gesicht deutet sich Verzweiflung und Resignation an.

Dann Fritz Lang mit DER MÜDE TOD (Deutschland,1921) (Großartig: der Tod. Wenn die Jury richtig entscheidet, erhält entweder der Tod oder Tina Turner für ihren Auftritt in GIMME SHELTER den Darstellerpreis. Der Sensenmann besticht vor allem durch sein reduziertes Spiel (d.h. er steht einfach nur so rum, aber dank des vorgeschrittenen Alters des Filmmaterials hat das eine ungeheure Wirkung), die Poplady dadurch, dass sie es schafft einen Mikroständer erotisch so aufzuladen, dass er scheinbar vibriert). Lang fröhnt dem gleichen Exotismus wie seinerzeit Murnau mit FAUST. Junges Ehepaar auf dem Weg in die neue Heimat, er stirbt, sie bekommt drei Mal die Chance, ihn wieder ins Reich der Lebenden zu holen. Der Film schafft mit ein paar Überblendungen und Doppelbelichtungen mehr Atmosphäre als alle Digitaljunkies.

Nach dieser Woche ein 2:1 für die Alten und das deshalb, weil Fritz Lang ein Eigentor geschossen hat. Es gab ein paar Rollen von einem Interview zu sehen, das William Friedkin 1974 mit ihm führte. Da wurde sehr deutlich, wie stark der Mensch doch zur Verklärung neigt und wie sehr es in der Hand des einzelnen liegt, den eigenen Mythos zu spinnen. Lang hangelte sich von einer Geschichte zur nächsten, von Goebbels zu METROPOLIS. Bei Widerspruch 22 haben die Letzten wohl das Mitzählen aufgegeben.

André Grzeszyk

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