"Du bist verrückt, mein Kind/ Du musst nach Berlin/ Wo die
Verrückten sind/ ja, da musst Du hin!" - ein Schlager aus
der Zeit, als Fritz Lang, dem hier die Retrospektive gilt,
noch in Berlin gelebt hat. Ein bisschen hat dieses Kinoschauen
mit drei, vier, fünf Filmen am Tag ja auch etwas von Verrücktheit.
Eine, die "nur zum Vergnügen" ins Kino geht (als ob wir das
nicht alle täten), fragt, ob es nicht eine Art Flucht aus
dem eigenen Leben wäre, eine Art Ersatzleben, wenn man soviel
im Kino hockt. Wieder einmal die alte Frage nach dem richtigen
Leben, und das schon Tage vor dem Eröffnungsfilm. Schade,
dass einem da nicht die Passage aus Walker Percys "The Moviegoer"
(einem unbedingt lesenswerten, auch verfilmenswerten Roman)
eingefallen ist: "Ich bin tatsächlich glücklich in einem Film,
sogar in einem schlechten. Andere Leute hörten erinnerungswerte
Momente ihres Lebens: den Sonnenaufgang, die Nacht, als man
im Central Park ein einsames Mädchen traf... Auch ich habe
im Central Park einmal ein Mädchen getroffen, aber da gibt's
nicht viel zu erinnern. Dagegen erinnere ich mich an den Moment,
als John Wayne in STAGECOACH auf die staubige Straße fallend,
mit einem Karabiner drei Männer tötete, und an den Moment,
als im THIRD MAN das Kätzchen Orson Welles im Torweg fand."
In diesem Sinne: Auf gute Erinnerungen!
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Schon Tage vor dem offiziellen Auftakt befindet sich Berlin
im Berlinale-Fieber. Film-Plakate schmücken die Straßenränder,
und der ohnehin kulissenhafte Potsdamer Platz wird zur Festivalkulisse
umgebaut. Beim Vorbeigehen am sogenannten "Berlinale Palast"
erinnert man sich daran, wie genau hier im Vorjahr, beim Bühnenausgang,
hinten links war es, Leonardo di Carpio erschien. Jetzt stehen
da gerade unförmige Betonklötze im Schnee herum. Aus der Halbnahen
sieht man, dass es sich um irgendeine, im Provisorium hochgezogene
Mauer handelt, und fürchtet einen Augenblick lang, dies müsse
etwas mit der Berlinale zu tun haben. Aber nein, Erleichterung:
Das Zeug wird herausgetragen.
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Das Festivalplakat reizt wie in jedem Jahr zur ikonographischen
Deutung. Ein Schnellzug ist darauf zu sehen, der über einen
diffusen Horizont hinwegrast, ganz schnell und ganz unscharf.
In der Mitte befinden sich ein Stopschild, ein Filmstreifen
und ein Radfahrer ohne Kopf. Der Film als Stopschild? Oder
das Fahrrad Symbol einer veralteten Technologie als Inbegriff
der Berlinale? Oder ein kopfloses Festival? Wie man's auch
wendet, man ist immer vor den Kopf gestoßen. Manche vermuten
im Schnellzug die symbolhafte Inkarnation von Dieter Kosslick,
dem neuen Leiter, der im April sein Amt antritt. Das Bild
stammt jedenfalls von Volker Noth (Est nomen omen?), der als
Graphiker für die Festivalplakatierer noch länger amtiert,
als Berlinale-Chef Moritz de Hadeln.
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"...und Gregor und die anderen sind dann die Guten. Aber
die müssen ja kein Geld verdienen, die bekommen ja alles bezahlt."
- ein Buchhändler schimpft im Gespräch auf diejenigen, die
allen Ärger an de Hadeln rauslassen, und Forums-Chef Ulrich
Gregor, den institutionalisierten Gegenspieler de Hadelns
über den grünen Klee loben. Aber auch der Rest des Festivals
verfügt über einen stattlichen Etat. Von 100 Millionen ist
die Rede.
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"Mit Tränen in den Augen", berichtet eine Kollegin, hätte
ihr jemand, der schon immer in führender Position für die
Berlinale arbeitet, erzählt, dass diese "auch für ihn die
letzte" sei: "Jetzt kommt Kosslick mit seinen Kanalarbeitern."
Zur Zeit ist die Stimmung dem neuen Leiter nicht hold. Ungefragt
werden Anekdoten erzählt von der Zeit, als Kosslik noch Pressesprecher
des Hamburger OB Klose war und Admirale der argentinischen
Junta empfing. De Hadeln selbst erklärte süffisant in einem
Interview, als Berlinale-Leiter benötige man "Kontakte, Adressen
reichen nicht." Ein schöner Satz. "Der Unberührbare" titelt
Harald Martenstein mit bekannter Bosheit im "Tagesspiegel"
ein Portrait. Aber auch darin wird Skepsis gegenüber dem Nachfolger
deutlich. Die Macht, die de Hadeln hatte, wird kein Nachfolger
so schnell wieder haben. "Wir werden de Hadeln noch alle nachtrauern",
sagt Jacqueline, eine französische Journalistin, die seit
bald 20 Jahren in Berlin arbeitet.
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Die Berlinale 2001 wird leicht zu historisieren sein. Berlinale
2001: Das war, als es zuerst ganz doll geschneit hat, dann
aber zum Auftakt frühlingshafte Temperaturen herrschten. Es
war das Jahr, in dem der Presseschreibraum ohne Handy-Empfang
war, und die Journalisten deshalb hektische Panik verbreiteten.
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"Das war der beste Film des Wettbewerbs." - "Der schlechteste
aber auch." So ähnlich ließ sich das Gerede nach dem Eröffnungsfilm
an. Immerhin hat Jean-Jacques Annauds ENEMY AT THE GATES 180
Millionen gekostet, dafür allein könnte man also schon fast
zwei Mal Berlinale spielen. Das Geld für den Film hätte mit
Sicherheit besser investiert werden können. Ein ziemlicher
Schinken ist er geworden, stilistisch von der Art, die heute
gerne als episch bezeichnet wird, mit schmutzigen Bildern
von Stalingrad in Chor-Musik-Soße. Der Krieg, der zu Beginn
kurz als Massenereignis eingeleitet wird, ist schnell auf
den heldenhaften Zweikampf zweier Männer reduziert. Zu Dutzenden
fallen die Statisten links und rechts neben Jude Law in den
Dreck. Über sein siegreiches Ende kommen zu keiner Zeit Zweifel
auf. Ed Harris als Gegenspieler ist ein ebenbürtiger Gegner,
weitaus zwielichtiger die von Joseph Fiennes gespielte Figur,
ein politisch-rassistisches Stereotyp: Der jüdische Intellektuelle
als Stalinist mit Nickelbrille, ein Propagandist, feige, neidisch
und korrupt. Man freut sich nicht, dass dies alles auch noch
in Deutschland entstand.
Mit seinem dumpf-bombastischen Kriegspathos ist Annaud meilenweit
entfernt von stilistisch guten Kriegsfilmen wie vor zwei Jahren
THE THIN RED LINE, der zu Recht den Wettbewerb gewann.
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Da lobt man sich doch das gute alte Hollywood. Zwei Filme
mit dem sagenhaften Kirk Douglas: YOUNG MAN WITH A HORN, ein
Musikfilm von Michael Curtiz. Hier erscheint Douglas als Musiker,
der erst durch einen Vamp (Lauren Bacall) auf die falsche
Bahn gebracht wird, säuft, und à la James Dean avant la lettre
mit offenem Kragen durch ein wunderbar schmuddeliges Manhattan
flaniert. Dann rettet ihn Doris Day, pausbäckig und uninteressant
wie immer - aber dieser Schluss, ist wie Kollege Oehmann sogleich
treffend feststellte "der Zensur geschuldet."
In William Wylers DETECTIVE STORY, der nur ein Jahr später,
1951 entstand, geht es abgründiger zu. Ein allzu selbstbewusster
Cop verstrickt sich in der eigenen Moral. Hier zeigt der wunderbare
Douglas alle seine Facetten: Immer etwas zu viel Pathos und
Leiden, Selbstgerechtigkeit und Askese - einer, dem man nie
ganz über den Weg und darum alles zutraut. Und weil es ein
Wyler-Film ist, hat DETECTIVE STORY natürlich auch sonst alle
Qualitäten eines - in diesem Fall kleineren, weil eine Bühnenverfilmung
- Meisterwerks.
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So erholt man sich hier schnell von kleinen Schocks wie dem
Eröffnungsreinfall, und ist sich wieder gewiss: Es gibt ein
richtiges Leben im falschen. Es heißt Kino.
Rüdiger Suchsland
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