Die Tasche ist schon ganz schwer, und die Schulter schmerzt,
wenn der Berlinale-Gucker so durch Berlin flaniert, Benjamin
und Kracauer im Gepäck. Diesmal ist das Ding, das den akkreditierten
Besuchern zu Beginn überreicht wird, quadratisch, also ungeeignet
für größere Werkausgaben. Und in das Zusatz-Täschchen am Gurt
geht noch nicht einmal ein Reclam-Band rein, sondern wirklich
nur ein Handy, aber das sieht dann blöd aus, also bleibt sie
leer. Der Rest wird dafür umso voller. Kiloweise purzeln einem
hier die Prospekte entgegen, und die vielen mittelgroßen Berliner
Tageszeitungen gleich dazu. Das meiste wandert sofort in den
Müll, der Rest reicht aber immer noch für Kreuzschmerzen.
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Wohin geht das Kino der Zukunft? Von Festivals wie der Berlinale
sollte man Antwort auf solche Fragen erhoffen können. Unabhängig
von den Marktzwängen, denen das Alltagsgeschäft unterworfen
ist, kann man hier einmal Experimente wagen, der Lust am Besonderen
frönen, etwas mutig ausprobieren, Filmen und Regisseuren ein
Forum bieten, die es unter normalen Bedingungen schwer haben,
und trotzdem Aufmerksamkeit verdienen. Manchmal wird man damit
tief fallen, aber dafür auch wegweisende Zeichen setzen. Soweit
die Theorie.
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In der Praxis sieht es leider anders aus. Nimmt man die renommierteste
und wichtigste Reihe der diesjährigen Berlinale, den Wettbewerb
um den Goldenen Bären, zum Maßstab, muss man eine eher enttäuschende
Zwischenbilanz ziehen. Es gibt zwar kaum wirklich schlechte
Filme, aber auch nicht viele wirklich gute. Vom einzigen Highlight,
der Ausnahme, die stilistisch wie künstlerisches Top-Niveau
hat, wusste man schon vorher: TRAFFIC, vom US-Außenseiter
Steven Soderbergh, seit seinem 89-er Cannes-Sieg im Alter
von 26 ein weltbekannter Geheimtip unter Cineasten.
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Wir stellen uns vor: Sepp "Blubo" Vilsmayr drehte seinen
neuen Film: "Lena". Der spielt in den bayerischen Bergen,
und handelt von einem pubertierenden und in jeder Hinsicht
unbescholtenen Hitlerjungen, der sich in eine erheblich ältere
Frau verguckt. Gespielt wird sie von Veronica Ferres, die
im ledernen Dirndl über grüne Almwiesen wippt. Während ihr
die Kühe notgeil nachglotzen, tönt's im Hintergrund aus dem
Radio: zum Beispiel "Lili Marleen" oder auch mal eine Führerrede.
Der Bub träumt sich dafür politisch korrekt in einen Marlene-Dietrich-Film
hinein. Und der Regisseur, klar Sepp, erklärt: "Des is ois
original!"
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So ungefähr ist das mit MELENA von Guiseppe Tornatore, übertragen
auf italienische Verhältnisse. Dabei hatte man sich gerade
vom Macher des Welterfolges CINEMA PARADISO mehr versprochen,
als die feuchten Träume eines Pubertierenden, mit denen sich
Tornatore in eigene Jugendzeiten zurückschwärmt. Nicht ganz
so kitschig, aber völlig belanglos war auch der neueste Film
von Patrice Leconte. "Felix et Lola" besticht zwar durch die
Hauptdarstellerin Charlotte Gainsbourg, dehnt aber einen Stoff,
der allenfalls für einen Kurzfilm gereicht hätte, auf 90 Minuten,
und sorgte so für gähnende Langeweile und spontane Fluchtbewegungen
im Berlinale-Palast.
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Ansonsten war Frankreich wieder einmal für diejenigen Filme
zuständig, die noch am ehesten Überdurchschnittliches boten.
Eine radikale Liebesgeschichte in zum Teil drastischen, aber
trotzdem nie exhibitionistischen Sex-Darstellungen erzählt
Patrice Chéreau in seinem neuen Film INTIMACY. Dort geht es
um ein Paar, das sich nur einmal pro Woche sieht, um fast
ohne Worte miteinander zu schlafen, und sich dann wieder zu
trennen. Doch allmählich wächst das Interesse füreinander.
Auch Catherine Breillats A MA SOEUR gehört zu den wenigen
Filmen, die sich angenehmerweise weder beim Publikum, noch
bei der Jury anbiederten. Die Regisseurin tritt nach dem umstrittenen
ROMANCE (im Vorjahr in den Kinos) nicht in ihre eigenen Fußstapfen,
sondern verwandelt die Geschichte zweier 15 und 12-jährigen
Schwestern in einen unangestrengtes, aber kühl zurückgenommenes
Drama über das Erwachsenwerden. Der Film ist auch eine präzise
Reflexion über die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen.
Und in ihrer Art, über Sexualität und Gewalt nachzudenken,
entdeckt man Verwandtschaften zwischen Breillats Filmen und
der jüngeren Literatur im Nachbarland.
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Ähnlich intensiv wie Breillats Film vom Leben handelt Mike
Nichols' WIT vom Tod. Nichols hat zusammen mit Hauptdarstellerin
Emma Thompson ein preisgekröntes Theaterstück adaptiert. Eine
krebskranke Professorin kämpft voller Ironie und Rationalität
gegen den Tod. Doch in der sterilen Hölle des Krankenhauses
muss sie sich der Ausweglosigkeit ihrer Lage stellen. Ein
packendes Melodrama, das mancher Auszeichnung würdig wäre,
könnte es sich nur von der Bühne lösen, der es entstammt,
und Bilder finden, die dem Potential des Themas und der Wucht
des Textes gerecht werden.
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Zwar könnten alle diese Filme mangels besserer Konkurrenz
Preise ergattern, echte Film-Offenbarungen sind sie nicht.
Für Lone Scherfigs neuesten "Dogma"-Film ITALIENISCH FÜR ANFÄNGER
gilt das genauso wenig. Bei vielen Zuschauern kam er gut an,
weil er wenigstens witzig ist. Ein Gruppe von einsamen dänischen
Seelen findet im Italienisch-Kurs zusammen, hinter dem Sprachinteresse
verbergen sich Sehnsüchte, Einsamkeit und Ausbruchsgelüste.
Das bietet Anlass zu einigen Scherzen. Doch fehlt ihnen gerade
der Biss, der die "Dogma"-Bewegung bisher ausgezeichnet hat.
So schaut man guten netten Menschen dabei zu, sich gegen alle
Wahrscheinlichkeit ein bisschen Glück zu erkämpfen - Sozialarbeiterpathos
ersetzt Filmkunst.
So muss man sich in den anderen Reihen umgucken, oder man
hofft einstweilen: auf das, was noch kommt, vor allem zwei
Filme aus Asien und Michael Winterbottoms "Claim" - vielleicht
winkt hier noch wahres Kinoglück.
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Mit dem Flanieren ist es also so eine Sache, jedenfalls auf
der Berlinale. Man würde ja gar zu gerne im schlendernden
Schmetterlingsschritt sich durch dunkle Säle, über rote Teppiche
und an üppigen Buffets vorbeitreiben lassen. Aber dann hat
man doch wieder mal ganz knapp den Bus verpasst, und erreicht
das Kino nicht gelassen freischwebend, sondern wie üblich
schweißgebadet.
Kommt man - inzwischen abgekühlt - wieder heraus, nachdem
man zwei Stunden lang versucht hat, Gefühle und Bilder nachzuempfinden,
Dialoge zu begreifen, die mal in Mandarin und mal auf usbekisch
formuliert sind, oder einmal mehr die längst bekannten Grenzen
unseres Schulfranzösisch belegen, dann hört man plötzlich
Wortfetzen des Publikums, die auch nicht viel verständlicher
sind: "Rod Steiger sollte vielleicht den Beruf wechseln";
"Geoffrey Rush als Sartre" - das wäre immerhin mal lustig.
Irgendwann, als die Nachbarn darüber reden, dass ja morgen
in der Fritz Lang Retro "Metropolis" gezeigt wird, fällt einem
dann auch wieder der Kinoflaneur Kracauer ein. Der hatte vor
langer Zeit über den Film, den sein Regisseur selbst bald
schon naiv fand, den aber heute alle mögen, ganz anderes geschrieben:
ein Film der die "Festigung totalitärer Autorität" feiere
und "ohne weiteres von Goebbels stammen" könnte.
Wirklich nachdenken können wir darüber aber jetzt leider nicht,
der nächste Film beginnt. Flanieren wir weiter!
Rüdiger Suchsland
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