"Die Japaner" hatte Noch-Festivalchef und Hobby-Ethnologe
Moritz de Hadeln vor drei Jahren einmal einen Film eingeleitet,
"die Japaner haben ja offenbar ein etwas anderes Verhältnis
zu Sex und Gewalt." Es gehört tatsächlich zu den schönsten
Dingen auf so einem Filmfestival, dass sich allerlei Gelegenheiten
zu spontanen völkerkundlichen Studien bieten, nicht nur beim
Gerangel auf den Pressekonferenzen, sondern eben auch im Berlinale-Wettbewerb.
Und nachdem Europa und die USA bereits an den Anfangstagen
ihr Pulver fürs erste verschossen hatten, durften zum Wochenbeginn
nun auch einmal die Asiaten versuchen, dem bislang unangefochtenen
Favoriten, Steven Soderberghs TRAFFIC die Stirn zu bieten.
Traditionell ist Berlin ein gutes Pflaster für asiatische
Filme. Im letzten Jahrzehnt vermochten es vor allem Asiaten,
dem übermächtigen Hollywood-Stil etwas Eigenes entgegenzusetzen,
nicht nur andere Bilder und willkommene Exotik, sondern auch
Geschichten, die - egal ob "klein" oder "groß" - durch eine
Intensität bestachen, die man in Europa zunehmend vermisst.
Masato Harada sucht sie abseits der Stadt mit ihren vermeintlichen
Flüchtigkeiten, in einem einsamen Bergdorf. Auf dem Land,
da gibt's viel Sünd', das ist auch in Japan nicht anders,
und sie scheint sich - so will es das Klischee - dort langsamer
und grundsätzlicher, eben mit archaischer Gewalt zu ereignen.
INUGAMI hat nichts Beiläufiges und auch Humor sucht man vergebens.
Der Titel bezeichnet die "Wilden Hunde-Götter", die die nur
vermeintlich in Frieden vor sich hin lebenden Menschen eines
Tages heimsuchen. Diese Götter müssen verrückt sein, sie bedrängen
eine Familie mit Alpträumen, Nebelwänden, Visionen von Blut
und Gewalt.
Dahinter steckt natürlich dann doch anderes: die unterbewusste
Erinnerung an ein traumatisches Ereignis, einen Inzest, und
ein geopfertes Baby. Mehr und mehr entfaltet sich der Psycho-Horror
und was als wirres Durcheinander beginnt, gewinnt allmählich
Kontur und mündet schließlich in ein großes Gemetzel. Blut
und Tod nur erlösen aus Schuldzusammenhängen - so behauptet
jedenfalls Haradas Film. Ein paar seiner Momente könnten von
Lynch stammen, der Rest allerdings ist viel Leerlauf, über
den auch schöne Bilder nicht hinwegtrösten können.
Genrefilme dieser Art sieht man im Wettbewerb trotzdem viel
zu selten. Dabei lehren die Beispiele aus anderen Reihen,
besonders dem Internationalen Forum, dass hier oft das Interessantere
zu finden ist: kleines schmutziges, aber eben mutiges Kino,
das auch dort, wo es zuhause als Mainstream gilt, experimentell
ist, und genau auf die Filme der Zukunft verweist, die man
im Wettbewerb so gern entdecken würde.
BETELNUT BEAUTY von Lin Cheng-shang deutet eine solche Herkunft
zumindest an. So sehr Harada das drückende Einerlei und die
Langsamkeit des Landlebens ins Zentrum stellte, so sehr taucht
der taiwanesische Regisseur in Atmosphären aus Temporausch
und immerwährendem Tag der Großstadt ein. Als letzter Teil
eines "Three Cities"-Zyklus schildert der Film in matten Farben
und zügig geschnittenen Bildern die Geschichte eines jungen
Paares in der taiwanesischen Hauptstadt Taipeh. Alles geht
schnell bei diesen orientierungslosen Großstadtkindern. Am
Anfang steht die Zufallsbegegnung von Xiao-Feng (Chang Chen)
und Fei-fei (Sinje), aus der rasch Liebe wird. Doch Einsamkeit
und Perspektivlosigkeit lassen sich hier auch durch kurzes
Glück nicht kurieren. Gleichgültig, ohne Hoffnung leben sie
in den Tag hinein und träumen davon, der Normalität zu entfliehen.
Fei-fei, die mit ihrer Freundin im Minirock am Straßenrand
steht und Betelnüsse an Autofahrer verkauft, hat immerhin
Grund zu träumen, als sie ein Regisseur in einem Film mitspielen
lässt, und ihr daraufhin ein Vertrag als Sängerin winkt. Für
Xiao-Feng aber ist die Zukunft nicht mehr als ein dicker Teig.
In seinen Bäckerberuf will er nicht zurück, schon weil er
dafür zu früh aufstehen muss. Etwas anderes hat er nicht.
Wenn einen die Arbeit anödet, und man kein Künstler ist, kann
man nur noch kriminell werden. Doch wer schöner leben will,
kann oft nur schöner sterben, gerade im Kino.
Man könnte von einem ethnologischen Blick sprechen, mit dem
Cheng-shang seine beiden Figuren ein paar Tage lang begleitet,
und tatsächlich eine recht authentische Momentaufnahme vom
Lebensgefühl des jungen Taiwan bietet. Doch zu oft verliert
sich diese Perspektive im Privaten und ist darum nicht so
grundsätzlich wie sie sein könnte (und müsste). Was letztlich
bleibt von dieser Mischung aus Liebesdrama und Großstadtthriller
ist darum nur das Bild der jungen Sinje, die in ihrer Heimat
tatsächlich ein Star ist. Wie sie ganz am Anfang strahlend-trotzig
im strömenden Regen steht und einfach schreit - das hat mehr
Kraft als die ganzen 100 Minuten, die folgen.
Einblicke in eine fremde Welt ganz anderer Art bietet Roger
Donaldsons THIRTEEN DAYS, der außer Konkurrenz gezeigt wurde.
Berühmte Präsidentenfilme von John Frankenheimer bis Oliver
Stone lassen grüßen in diesem Polit-Drama, dass den Anspruch
hat, ein historisch zutreffendes Bild jener zweiwöchigen Cuba-Krise
zu bieten, in der die Erde am Rand des Dritten Weltkriegs
stand. Kevin Costner gibt den Präsidentenberater, und leiht
den Glanz seines Starstatus den No-Names Bruce Greenwood und
Steven Culp, denen vor allem ihre Ähnlichkeit mit John F.Kennedy
und seinem Bruder Robert hier einmal zu einer Hauptrolle verhalf.
Dabei bleibt das Bild des Präsidenten verwaschen zwischen
der Verklärung des amerikanischen Jahrhundert-Mythos und dem
Bild eines unsicheren Zauderers, der bereit war den Atomkrieg
zu führen.
Interessanter ist, dass der Film es wagt, zweieinhalb Stunden
lang graugekleidete, ständig redende Herren in weißen Räumen
zu zeigen. Unterbrochen nur durch wenige kurze "Action"-Sequenzen
wird hier ein Bild von Politik gezeichnet, das realistischer
sein dürfte, als das manch anderer US-Filme. Die Handlung
ist geprägt durch den Verdacht einer Konspiration des Militärs
gegen die politische Führung. Historisch ist das korrekt dargestellt,
und wenn Frankenheimers Film FÜNF TAGE IM MAI da auch vor
35 Jahren eine deutlichere Sprache fand, setzt THIRTEEN DAYS
doch ein paar andere Akzente in Bezug auf die Frage, was einen
guten Politiker auszeichnet.
Eine Chance, TRAFFIC zu schlagen, hätte dieser Film freilich
genauso wenig wie die beiden anderen. So wartet man weiter,
hofft, und lenkt sich einstweilen ab. Ethnologie ist da nicht
der schlechteste Weg.
Rüdiger Suchsland
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