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Lieber Stiefneffe,
danke für Deine Frage nach meinem Befinden. Wie der
Erhalt dieses Briefes Dir wohl schon verraten haben dürfte,
bin ich gut in Berlin angekommen und nun auch schon mitten
in der Berlinale-Routine.
Ich verstehe, dass Du neidisch bist auf meinen Aufenthalt
hier, aber sei beruhigt, ich werde, so gut es in meinen Kräften
steht, Dich an dem Geschehen hier wenigstens schriftlich teilhaben
lassen.
Ob sich viel geändert hat, jetzt, mit der neuen Festivalleitung,
wolltest Du wissen, und ich kann nur sagen: Selbstverständlich!
Denn wie Du bekanntlich weißt, ist seit dem 11. September
2001 ja sowieso nichts mehr wie vorher. Und also auch hier.
Zum Beispiel tragen die Akkreditierten ihre Ausweise jetzt
nicht mehr an Clips am Revers, sondern an bunten Bändeln
um den Hals gehängt. Und das Pressezentrum ist nicht
mehr im Untergeschoss des Berlinale Palastes, sondern im 1.
Stock des Hyatts. Auch sind die Plakate nach Jahren erstmals
nicht vom Stamm-Designer und der Trailer tut etwas moderner.
Weil aber auch der Journalist ein Gewohnheitstier ist, heißt
das, dass er sich von Anfang an gleich so fühlte, als
wäre alles ganz neu. Und die Berlinale ein anderes Erlebnis.
Filme werden aber immer noch gezeigt.
Vielleicht hast Du es ja auch schon mitbekommen - das Motto,
unter dem das geschieht, heißt dieses Jahr "Accept
diversity". Das hat auch mit dem 11. September zu tun.
Der Gedanke ist quasi folgender: Wenn wir Bewohner aufgeklärt-abendländischer,
kapitalistischer Länder uns unvoreingenommen und offen
mit den Eigenheiten ganz anderer Menschen beschäftigen,
dann werden letztere nicht so schnell böse auf uns und
tun weniger schlimme Sachen. Also - etwas verkürzt dargestellt
- zum Beispiel wenn wir uns Dokumentationen über analphabetische
usbekische Yakhirten mit Fußpilz anschauen, dann fühlt
sich der analphabetische usbekische Yakhirte trotz orthopädischer
Probleme von uns verstanden und akzeptiert und kommt dann
nicht irgendwann später auf die Idee, Passagierflugzeuge
in Hochhäuser zu fliegen.
Das Schöne daran ist, dass wir davon mindestens soviel
haben wie die besagten Yakhirten (die möglicherweise
auch gar nicht so recht mitbekommen, wie sehr wie sie in ihrer
Andersartigkeit akzeptieren, weil sie vor lauter Yakhüten
weniger dazu kommen, die Berlinale zu verfolgen - zumal sie
ja nicht lesen können). Weil nach so einem Film fühlt
man sich zwar auch sehr betroffen und irgendwie traurig, dass
manche Menschen es so schwer haben. Aber dann auch wieder
sehr gut, weil man da oft das nicht unberechtigte Gefühl
davontragen kann, nicht zum Vergnügen im Kino gewesen
und also nicht einer dieser von unserer Spaßgesellschaft
verblendeten Problemleugner zu sein. Und man dann aber auch
wieder nicht in Gefahr kommt, mit den usbekischen Yakhirten
tatsächlich reden zu müssen, die ja am Ende dann
vielleicht noch so anders sind, dass man sich überhaupt
nichts zu sagen hätte, und man weiß ja auch nicht,
ob der Fußpilz nicht ansteckend und so
Aber da
eben: Bevor jetzt der Yakhirte ankommt und direkt von uns
was will außer, dass wir seine Andersheit akzeptieren,
da sind wir dann schon im nächsten Film und leiden mit
dem Schicksal klebstoffschüffelnder Straßenkinder
in Indonesien - schließlich will ja die "Diversity"
in ihrer ganzen Breite akzeptiert sein.
Diversität folglich auch in der Auswahl der Filme. So
gibt es Filme über Tschernobyl-Opfer beispielsweise gleich
aus drei Ländern. Das ist sehr abwechslungsreich. Nur
das Genre-Kino findet ein bisserl wenig statt - zugegeben,
zwei Animes laufen, einer davon sogar im Wettbewerb, und wenn
man lang genug sucht, findet man sogar Thriller und Horrofilme.
Dass die ganze Sache insgesamt aber doch ein wengerl Sozialdramen-lastig
ist, fällt einem wahrscheinlich nur deswegen so auf,
weil dieses Jahr statt Retro und Hommage nur eine große
"European 60s"-Reihe läuft. In den Retros kann
man sich ja sonst für gewöhnlich seine zwei, drei
sicheren Klassiker täglich abholen und dort auch dem
prallen Kino huldigen, weil wenn ein Film erst mal ein paar
Jahrzehnte auf dem Buckel hat und die Beteiligten mit mindestens
einem Bein im Grab stehen, dann ist ja auch ein Western, ein
B-Picture, ein Musical ganz offiziell wichtig und wertvoll
und Kunst, weil museal.
Jetzt wirst Du, lieber Stiefneffe, in Deiner mir so lieben
Naivität ausrufen, "Oh, Onkel, sprich', wo ist dann
dieses Jahr das Problem?" und sagen: Europäische
60er - wunderbar! Mario Bava, Harald Reinl, Sergio Leone,
James Bond, Mabuse und Fu Manchu, Eddie Constantine, Peter
Alexander, Lilo Pulver. Da nun aber muss ich leider antworten:
Eben nein. Weil zwar über 100 Filme laufen in der Reihe,
da aber selbst unter der Rubrik POP fast nur Pop mit Studienabschluss,
und der einzige Italowestern, IL GRANDE SILENZIO, unter "Protest"
firmiert. Viel Studienerats- und Bildungsbürgerkino kommt
da, viel ästhetischer und politischer Aufbruch - was
ja nicht grundverkehrt, aber in dieser Ausschließlichkeit
Deinem Onkel nicht zum Gefallen gereichend ist.
Vor allem aber ist es eben keine Folie, vor der man leichter
übersehen kann, wie voll auch Wettbewerb, Panorama, Forum
mit Filmen sind, die Bildungs- und Bedeutungsabsicht offen
herumtragen. Höchstens zeigt das, wie wenig in diesem
Genre "Film mit Anspruch" (und es IST eben auch
ein Genre) noch von der wahren Energie des Aufbruchs und des
Neuen zu spüren ist, die in den Sechzigern tatsächlich
noch aus den Filmen sprechen.
Dein Onkel muss sich langsam ernsthaft überlegen, sich
demnächst nicht mehr für das reguläre Festival,
sondern für den Filmmarkt zu akkreditieren. Weil 1) der
sowieso das wahre und echte Festival ist - das öffentliche
Schaufenster mag auf Kunst, Glamour, Preisverleihungen machen,
aber in den Hinterzimmern geht es selbstverständlich
um nichts anderes als den Kauf und Verkauf von Filmrechten;
und 2) man folglich dort auch die wahre und echte "Diversity"
zu sehen bekommt - da darf jeder anbieten, was er hat, und
da sind dann Martial Arts-Filme aus ehemaligen Sowjetrepubliken
ebenso dabei wie italienischer Trash mit so schönen Titeln
wie DANGEROUS SEX DATE (dessen Plakat ich Dir aus Rücksicht
auf Deine unschuldige, zarte Jugend jetzt nicht näher
beschreiben möchte). Mithin also doch ein deutlich größerer
Anteil an potentiell Onkelerfreuendem.
Und wohl geht es nicht nur Deinem Onkel so, der hier als
Banause weilte unter lauter den wahren Freuden des Kinos als
moralischer Anstalt restlos Zugetanen. Geradezu befremdlich
mutete es selbst mir schon an, wie sich alle, Presse wie Publikum,
auf die wenigen Filme stürzen, die anderes versprechen
als explizite Problembewältigung. In François
Ozons 8 FEMMES war kaum reinzukommen, so strömten die
Massen, und ebenso üppig floss im Anschluss das Lob aus
aller Munde. Dabei muss ich Dir ehrlich gestehen (allerdings
mit dem vorgeschalteten Eingeständnis, dass mich bei
der Vorführung schon die Müdigkeit recht fest in
ihrem Griff hatte): So toll fand ich den nicht. Der ist doch
erstaunlich langsam auf den Beinen und kreist letztlich ziemlich
lange um ziemlich wenig. Aber eben: Ein Film, der sich geradezu
suhlt in seiner Künstlichkeit, der stolz ist auf die
offensichtliche Studiodekoration, auf die satten Farben; ein
Musical noch dazu (wenngleich kein sehr bewegungsfreudiges).
Und eine Parade weiblicher französischer Star-Schauspielkunst,
von Darieux über Deneuve, Ardant und Huppert bis Béart
und Ledoyen, in der die Actricen ihr Können quasi zweckfrei,
oder (keineswegs negativ gemeint) ganz selbstzweckhaft feiern
dürfen. (Und als am Ende Danielle Darrieux - die Älteste
im Ensemble - mit der Jüngsten, Lydie Sagnier, davon
sang, dass es keine glückliche Liebe gibt, da wurden
dem Onkel die Augen doch ein wenig feucht.) Also so ziemlich
das genaue Gegenteil von dem, was hier dieses Jahr sonst so
als wichtiges, bedenkens- und preiswürdiges Kino präsentiert
wird. Und prompt bisher der größte Erfolg.
Dabei ist es jetzt keineswegs so, dass Dein bedauernswerter
Onkel hier nur in ganz schrecklich schlechten und grundüblen
Filmen säße (über die unrühmliche Ausnahme
werde ich Dir gleich berichten) - das meiste, was er bisher
gesehen hat, war durchaus akzeptabel, in vielen Momenten erquicklich
und das onkelische Wohlwollen erregend. Aber dann eben auch
nicht mehr. Da sitzt der Onkel dann beispielsweise drei Stunden
im neuen Bertrand Tavernier, LAISSEZ-PASSER, amüsiert
sich gut, ist erfreut über den unerwartet flotten Rhythmus
und komödiantischen Ton, lernt manches über die
französische Filmindustrie während der deutschen
Besatzung - und verlässt das Kino dann doch wieder mit
diesem seltsamen Gefühl der Leere, mit der Gewissheit,
sich (und das nicht nur wegen des zunehmend hinfälligen
Onkel-Gedächtnisses) in ein paar Jahren bestenfalls an
ein, zwei Szenen erinnern zu können, im sicheren Bewusstsein
dessen, dass sich dem Leben nichts hinzugefügt hat durch
diesen Film, dass dieser in den Tiefen des Onkelschen Seins
nichts bewegt und nichts berührt hat. Was ja auch fairerweise
nicht von jedem Stück Kino verlangt werden kann - aber
wenn sich Erlebnisse dieser Art Film auf Film, Tag auf Tag
häufen und eben alles immer nur ganz nett, ganz interessant
ist und sich aber kaum je etwas wirklich Großes tut...
Tja, dann wird dem Onkel das Festival nicht gerade zum Fest,
dann drängt sich immer häufiger und heftiger die
S-Frage, die nach dem Sinn des Ganzen auf, dann kommt man
ins Grübeln, warum all diese Leute soviel Energie und
Zeit und Aufwand in Filme stecken, die immer nur GANZ NETT
sind und gar nicht versuchen, etwas anderes zu sein, und dann
fragt sich der Onkel, warum er sich all diese Filme überhaupt
anschaut. Und hört als Antwort nur eine unheimliche Stille.
Zugegebenermaßen aber ist die in den Anfangstagen darob
heraufkriechende Gefahr einer Cineasten-Depression gebannt,
seit Dein Onkel erkannt hat, dass man wirklich nicht alles
anschauen muss, was im Katalog so klingt, als könnte
es unter Umständen was sein, und ihm klar wurde, dass,
wenn tatsächlich so wenige Filme im Angebot sind, die
einem gepflegten Rausch das Wasser reichen können, er
daraus auch die naheliegende Konsequenz ziehen kann. Seither
lautet die Losung: Weniger Filme, mehr Bier. Und der Onkel
ist schon viel fröhlicher.
Aber Du, mein lieber Stiefneffe, möchtest ja doch gewiss
informiert werden über jene Filme, die ich trotz eben
erwähntem und erläutertem Motto gesehen habe. Und
da fangen wir doch am Besten einfach da an, wo es sich anbietet:
Am Anfang.
Die "Diversity" akzeptieren bedeutete zum Beispiel
auch, hinzunehmen, dass zur Eröffnungsgala mit Tom Tykwers
HEAVEN vor dem Berlinale Palast nicht nur Metalldetektor-Schleusen
sondern - Vielfalt! - auch Gepäckdurchleuchtungsanlagen
aufgebaut wurden. Weil, es hätte ja sein können,
dass wir irgendjemanden zwar in seiner Andersheit ganz toll
akzeptieren, der aber jetzt quasi weniger offen eingestellt
ist gegenüber unserer reziproken Andersheit und beispielsweise
partout keine Tom Tykwer-Filme mag und ein Passagierflugzeug
im Rucksack gehabt hätte.
Leute, die keine Tom Tykwer-Filme (mehr) mögen schien
es nach HEAVEN hier plötzlich gar nicht so wenige zu
geben - aber lass Dir von Deinem Onkel (dessen Urteil Du doch
hoffentlich traust) gesagt sein: Verblendete Narren jene allesamt!
Sicher kein sehr gefälliger Film, wohl auch keiner, dessen
Qualitäten so ganz offen auf der Hand liegen. Aber doch
auf unzähligen Ebenen eine äußerst beeindruckende
Leistung - und vor allem einer der wenigen Filme bisher, die
auch nach Tagen und nach etlichen anderen Streifen nicht einfach
verschwanden und kleiner wurden in meinem Kopf, sondern der
nachwirkt, der, wenn ich ihn in der Erinnerung wieder begucke,
stets gewinnt, immer mehr Facetten zeigt und immer neugieriger
darauf macht, ihn noch einmal zu sehen. Da der Film ja aber
sehr bald auch für Dich ganz regulär auf einer Leindwand
Deines Vertrauens zu sehen sein wird, gestatte mir, mich bald
in einem gesonderten Epistel dazu näher auszulassen und
Dir jetzt erstmal weiter zu berichten von Sachen, die Du so
bald (oder vielleicht überhaupt) nicht zu Gesicht bekommen
wirst.
Du weißt, wie sehr ich immer um Dein Wohlergehen besorgt
bin, und deshalb kann ich nicht umhin, Dir inständig
zu wünschen, dass zu jenen Filmen, die Du (freiwillig
oder unfreiwillig) nicht zu sehen bekommst, DER FELSEN gehören
wird. Hör' auf Deinen Onkel, der seiner inneren Stimme
dummerweise den Gehorsam versagt hat und es bitterlich bereut.
Zu Recht wirst Du sagen: Lieber Onkel, sei mir nicht böse,
aber wer sich nach dem großunsäglichen MÜNCHEN
- GEHEIMNISSE EINER STADT noch freiwillg in einen Dominik
Graf-Film begibt, der ist nun wirklich so etwas von selber
schuld und sollte gefälligst danach nicht auch noch rummosern.
Wo ich Dir leider vollkommen Recht und die Erlaubnis geben
muss, das Folgende zu überspringen und einfach weiter
unten weiterzulesen, wo es wieder um erfreulichere Dinge gehen
wird. Aber trotzdem: Ein bisschen Dampf ablassen muss Dein
Onkel da schon. Verzeih es ihm.
Nun gibt Dein Onkel gerne zu, dass er selbst auch schon Urlaubsfilme
mit der Videokamera gedreht hat, und dass davon auch nicht
jede Einstellung ins Museum gehört. Aber so einen undefinierten,
flachen orange-grau-braunen Pixel-Matsch wie Graf hat er dann
doch noch nicht produziert, und wenn, dann war er so anständig,
das Band zu löschen, anstatt es auch noch auf Film umzukopieren
und den Rest der Menschheit damit zu belästigen. Den
Budget-Ball flach halten, improvisieren können, nicht
dauernd so einen Riesenapparat im Nacken haben bei Drehen
- schön und gut. Aber es scheint, als hätte der
Herr Graf nicht nur die Lust auf großen Drehaufwand
verloren, sondern auch gleich noch auf jegliche Anstrengung,
die man sonst auf einen Film verschwenden könnte. Eine
einzige Bilderverweigerung ist das, freudlos in jedem Detail,
nicht nur in der unattraktiven Optik - als wäre Graf
zu faul geworden, filmisch zu erzählen, muss uns alle
paar Minuten eine weibliche Off-Stimme einfachste Aktionen,
Zusammenhänge, Gefühlseinblicke dahersalbadern.
(Vielleicht hält Graf das Publikum auch nur für
schwer von Begriff oder wahrnehmungsgestört.) Was bei
der (Publikums-)Vorführung, die ich gesehen habe, wenigsten
zu ein paar unbeabsichtigeten, herzhaften Lachern führte,
die gottseidank einige ZuschauerInnen irgendwann nicht mehr
verdrückt haben, wenn das schwurbelnde Gequase gar zu
unerträglich wurde. Zu der völligen Lust- und Freudlosigkeit
gesellt sich auch noch eine todfade, bleierne Schwere - und
anscheinend nicht nur bei Deinem Onkel das immer deutlichere
Gefühl, dass der Sinn und Zweck, das Sollen und Wollen
des Ganzen völlig unergründlich bleibt: Ein solch
konsterniertes, komplettes, apllausloses Schweigen habe ich
die ganze Berlinale vom Publikum am Ende bei keinem anderen
Film erlebt.
Nun kennst Du ja Deinen Onkel und weißt, dass er gerne
sehr vehement eine Position predigt, nur um im nächsten
Moment das scheinbare Gegenteil zum Dogma zu erheben. Insofern
wird es Dich nicht verwundern, wenn ich Dir nun erzähle,
dass die drei herausragendsten Filme, die ich bisher gesehen
habe, zwei Dokus (allerdings nicht über usbekische Yakhirten)
und ein deutscher, mit Handvideokamera gedrehter, improvisierter
Film waren.
Aber hör zu: HALBE TREPPE (initiiert von Regisseur Andreas
Dresen, insgesamt aber ein Ensembleprodukt, ohne Drehbuch
vor Ort in zwei Monaten im Team entwickelt) macht genau alles
richtig, was DER FELSEN so aufdringlich vergeigt. So wahnsinnig
schön sind die Digital-Bilder da auch nicht (wenngleich
schon viel ansehnlicher als Grafs Soße) - aber der Film
spielt auch in Frankfurt an der Oder und nicht auf Korsika,
und schwuppdich passt das doch gleich viel besser. Und da
wird's dann auch gleich viel interessanter, wenn von Seitensprung
und Gefühlsverwirrung erzählt wird. HALBE TREPPE
ist ein großartiger Film über die Liebe in den
Zeiten der Einbauküche. Da tanzen keine Architekten zur
Selbstfindung auf Urlaubsinseln rum, werden keine Pistolen
gezückt und keine Autos die Klippe runtergefahren, wird
kein narratives Ringelpiez mit Anöden gespielt, da gibt
es nicht so leicht den ach so poetischen Fluchtraum. Weil,
das mit der Größe der Gefühle ist ja von außen
gesehen meist ohnehin schon fraglich, und wenn dann eben erstmal
eine Wohnung, ein Job, ein Wellensittich und zwei Kinder da
sind, dann wird's so richtig schwierig.
Zwei Ehepaare zeigt HALBE TREPPE, Mittelstand, Tendenz nach
unten, die eine Frau fängt was an mit dem anderen Mann,
beide halten's für große Liebe, aber eben s.o.
...
Wo Graf (und die meisten anderen von Liebesdingen handelnden
Filme des Festivals) ganz im Privaten, im Einzelnen und Romantisch-Poetischen
bleibt, fließt hier fast von selbst auch der gesellschaftliche
Kontext ein: Es gibt ganz großartige Momente, wo aufblitzt,
welch Diskrepanz ist zwischen den Glücksversprechungen
unseres Global-Kapitalismus und dem Erleben der "Verbraucher"
- wie Ehemann Uwe da beim geplanten Küchenkauf mit leerem
Blick auf einem Stuhl sitzt, wie müde der Radiomoderator
guckt, sobald das Mikro wieder zu ist, in das er von der "Power-Hour
aus dem Power Tower" enthusiasmiert. Aber das bleibt,
wie fast alles an HALBE TREPPE, ganz unforciert; überlässt
es einem selbst, das so zu sehen und zu empfinden.
Es gibt keine Schwere in diesem Film, nichts Zerknirschtes.
Der Film kennt wenig Gnade mit seinen Charakteren, aber er
bewahrt sich stets Respekt vor ihnen; sein Blick ist gewiss
nicht der auf Menschen, die er für glücklich oder
sehr reif hält, aber er hat nichts Mitleidiges, nichts
Besserwisserisches. Vor allem könnte er kaum weiter entfernt
sein von jeglicher Elends-Suhlerei. Bei keinem der Filme,
die ich bisher hier gesehen habe, wurde während der Vorführung
so viel, so stark und so spürbar von Herzen gelacht,
obwohl man nie auf die Idee käme, ihn eine Komödie
zu nennen.
Und bei aller Genauigkeit, bei allem Wahrhaftigen, bei allen
"So ist es!"-Gefühlen schert sich HALBE TREPPE
dann gottseidank aber auch gern hin und wieder einen gemütlichen
Scheißdreck um die Konventionen des "Realistischen",
gönnt Uwe das surreale Erlebnis, den ganzen Film hindurch
von einer immer größer werdenden Schar von Musikern
(Die Gruppe "17 Hippies", von der auch der wunderbare
Soundtrack stammt) geradezu verfolgt zu werden.
Auf der Pressekonferenz hat Andreas Dresen dann von jenen
Momenten im Kino gesprochen, wo man sich peinlich ertappt
fühlt, wo man, wenn man mit Partner oder Partnerin im
Film sitzt, hofft, dass er oder sie nicht gerade sich an das
gleiche erinnert fühlt wie man selbst, wo man anschließend
ganz schnell das Gespräch auf etwas anderes bringt, um
dem auzuweichen. Und er sagte, er wollte einen Film machen,
der voll ist von solchen Momenten. Er hat's geschafft - Chapeau!
Wenn ich Dir jetzt den Titel von meinem bisherigen Lieblingsfilm
des Festivals verrate, dann wirst Du, lieber Stiefneffe, mich
sofort mit dem Verdacht der Befangenheit und Parteilichkeit
strafen, was ich Dir nicht übelnehmen kann, wogegen ich
mich aber dennoch aufs Schärfste und Gründlichste
verwehren muss. Denn UNCLE FRANK hätte sich einen Platz
in meinem Herzen erobert, selbst wenn ich von Beruf Schwippschwägerin
wäre oder Frank nicht Onkel sondern Halbcousin. Vom weiter
oben von mir so lamentos eingeforderten Genre-Kino, von fantastischen,
aufwendigen Kinoträumen könnte UNCLE FRANK dabei
gar nicht weiter entfernt sein: Es ist eine auf Video gedrehte
Dokumentation von Matthew Ginsburg über seinen 85-jährigen
Onkel, der mit seinem Keyboard als Alleinunterhalter durch
die Altersheime in seinem New Yorker-Suburb-Wohnort tingelt.
Ginsburg begleitet Frank zur "Arbeit", zeigt ihn
daheim, bei einer Parade, beim Arzt, interviewt ihn und Tante
Tilly. Was, wenn man's so liest, nicht sonderlich groß
und spannend klingt. Aber die Liebe zu und zwischen diesen
Menschen ist so spürbar, und Frank selbst ist so ein
wunderbares Subjekt, dass man überhaupt nicht auf die
Idee käme, sich auch nur eine Sekunde zu langweilen oder
belehrt zu fühlen. Und auf seine komplett unspektakuläre,
unsentimentale und unbeschönte Art war's dann ausgerechnet
dieser Film, der zu all den "großen" Themen,
zu Liebe und Leben und Tod, zur Vergänglichkeit und zur
schäbigen Armseligkeit wie zur wundersamen Größe
des Menschseins (die hier irgendwie immer in ein und dem selben
Moment gleichzeitig aufgehoben scheinen) wirklich viel zu
sagen hatte, Schmerzhaftes und Wahres und Tröstliches
- und zum Glück nichts davon als "Botschaft"
aussprach. Außer man nimmt Uncle Franks Wunsch dafür,
dereinst mit dem Gesicht nach unten beerdigt zu werden - "so
the rest of the world can kiss my butt".
So langsam wird es für Deinen Onkel wieder Zeit, zum
nächsten Film (oder wahlweise Bier) zu schreiten. Und
Du musst bestimmt Dich einmal um Deine Hausaufgaben kümmern.
Da werde ich Dir wohl noch einen weiteren Brief schreiben
müssen, denn zu erzählen gäbe es noch manches.
Aber lasse mich für jetzt abschließen mit dem Bericht
vom definitv besten und größten und tollsten Film,
der NICHT zu sehen war (und damit auch mit dem Bericht von
oben bereits erwähnter zweiter Spitzen-Doku von Welt):
THE MAN WHO KILLED DON QUIXOTTE. Weder Böswillig- noch
Unfähigkeit der Berlinale-Veranstalter noch Termin- oder
Rechteschwierigkeiten haben verhindert, dass der hier läuft.
Das Problem ist schlicht: Der Film existiert (noch) nicht.
Um Terry Gilliams seit etwa einem Jahrzehnt gehegten Projekt
einer Quixotte-Verfilmung handelt es sich, das letztes Jahr
endlich in Produktion ging - nur um nach wenigen Tagen grandios
zu zerplatzen. Alles, was vorerst (Gilliam hat noch nicht
aufgegeben!) davon übrigblieb, ist die Doku LOST IN LA
MANCHA - das erste "Un-Making of"-eines Films.
So gerne man anläßlich eines verhinderten Gilliam-Filmes
mal wieder über die Schlechtigkeit der Filmfinanciers,
der Produzenten, des Filmgeschäfts, des Kapitalismus
und der Welt an sich herziehen möchte - man kann es hier
nur bedingt. Freilich, eines der Grundprobleme war, dass Gilliam
von den hosenscheißenden Erbsenzählern in den Chefetagen
der großen Studios einfach keine angemessenen Budgets
und kreativen Freiheiten bekommen kann. Und deshalb bei Quixotte
mit einer (europäischen) Finanzierung loslegen musste,
die null Spielraum ließ für einen anders als reibungslosen
Produktionsablauf. Aber die Katastrophen, die man in LOST
IN LA MANCHA sich dann über den Dreh häufen sieht,
hätten womöglich auch Produktionen mit solideren
Cash-Standbeinen ins Straucheln gebracht: Hagelstürme,
weggeschwemmte Sets und Equipment, NATO-Fliegerlärm und
vor allem ein Hauptdarsteller, der nach zwei Drehtagen für
ungewisse Zeit erkrankt. Ich habe noch keine Dokumentation
über das Filmemachen gesehen, die so schön zeigt,
welch Wunder es jedesmal ist, wenn ein Film tatsächlich
fertiggestellt werden kann. Man bekommt ein Gefühl dafür,
dass Filmen tatsächlich nichts anderes heißt, als
dass sich ein paar Leute Bilder ausdenken, sich mit anderen
Leuten verabreden, diese Bilder auf Film zu bannen und dann
basteln und experimentieren und spielen, bis das irgendwie
geklappt hat. Dass da keine Magie, keine geheimen Ingredienzien,
keine esoterischen Rezepte dahitnerstecken. Und dass sich
am Ende doch (wenn es besser läuft als im gezeigten Fall)
aus tausenden Einzelstückchen, die trotzend der widerstrebenden
Realität abgerungen wurden, etwas zusammenfügen
kann, das Magie hat. Die wenigen abgedrehten Einstellungen
von Gilliams Film, die man in LOST IN LA MANCHA zu sehen bekommt,
haben es schon mehr als fast alle anderen Filme bisher geschafft,
Deinem Onkel dieses Gefühl von Zauber, von Größe,
von echtem, richtigen, wahren KINO zu schenken. Ich glaube
nicht, dass ich auch nur zehn Filme der gesamten Berlinale
finden würde, die ich nicht sofort und liebend gerne
herschenken würde, wenn ich dafür diesen einen als
vollendetes Werk sehen könnte. Ein radikaler, fantastischer,
gigantischer Träumer wie Gilliam - darauf wartet diese
Berlinale bisher noch vergeblich.
(Bzw. lügt Dich Dein Onkel da schon wieder an, denn auf
Gilliam hat die Berlinale gar nicht vergeblich gewartet -
der war, wenn auch ohne eigenen Film, zu LOST IN LA MANCHA
da! Und hat bei der Pressekonferenz genau diese visionäre
Begeisterung, diese enthusistische Fülle, diesen Willen
zum ganz Großen versprüht, die in dieser ganzen
höflichen Pupserei rundum so abgeht. Vor lauter Gestikulieren
hat er dann prompt auch sein Evian umgestossen - und das auslaufende
Wasser sofort für eine erfrischende Katzenwäsche
benutzt. Pressekonfernzmäßig dürfte dieses
Highlight schwer noch zu toppen sein...)
Nun aber läßt Dich Dein Onkel endlich wirklich
zu wichtigeren Taten denn der Lektüre seiner Berlinale-Korrespondenz
schreiten. Und wünscht sich selbst ein Restprogramm,
dass sicher nicht durch eine überragende Quantität
an noch zu schauenden Filmen geprägt sein wird, das dafür
aber hoffentlich qualitativ endlich kräftig anzieht.
Und wünscht Dir, lieber Stiefneffe (der mir bitte auch
seine werten Eltern ganz herzlich grüßt) einstweilen
eine schöne Zeit inner- wie außerhalb des Kinos,
daselbst allerweil schöne Träume und noch schöneres
Wachsein & bald ein freudiges Wiederlesen.
Mit besten Grüßen,
Dein Stiefonkel dritten Grades mütterlicherseits
Thomas Willmann
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