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Berlinale 2002 14.02.2002
 
 

Briefe von der Berlinale
Teil 1

Uncle Frank
 
 
 
  Lieber Stiefneffe,

danke für Deine Frage nach meinem Befinden. Wie der Erhalt dieses Briefes Dir wohl schon verraten haben dürfte, bin ich gut in Berlin angekommen und nun auch schon mitten in der Berlinale-Routine.
Ich verstehe, dass Du neidisch bist auf meinen Aufenthalt hier, aber sei beruhigt, ich werde, so gut es in meinen Kräften steht, Dich an dem Geschehen hier wenigstens schriftlich teilhaben lassen.
Ob sich viel geändert hat, jetzt, mit der neuen Festivalleitung, wolltest Du wissen, und ich kann nur sagen: Selbstverständlich! Denn wie Du bekanntlich weißt, ist seit dem 11. September 2001 ja sowieso nichts mehr wie vorher. Und also auch hier. Zum Beispiel tragen die Akkreditierten ihre Ausweise jetzt nicht mehr an Clips am Revers, sondern an bunten Bändeln um den Hals gehängt. Und das Pressezentrum ist nicht mehr im Untergeschoss des Berlinale Palastes, sondern im 1. Stock des Hyatts. Auch sind die Plakate nach Jahren erstmals nicht vom Stamm-Designer und der Trailer tut etwas moderner. Weil aber auch der Journalist ein Gewohnheitstier ist, heißt das, dass er sich von Anfang an gleich so fühlte, als wäre alles ganz neu. Und die Berlinale ein anderes Erlebnis. Filme werden aber immer noch gezeigt.

Vielleicht hast Du es ja auch schon mitbekommen - das Motto, unter dem das geschieht, heißt dieses Jahr "Accept diversity". Das hat auch mit dem 11. September zu tun. Der Gedanke ist quasi folgender: Wenn wir Bewohner aufgeklärt-abendländischer, kapitalistischer Länder uns unvoreingenommen und offen mit den Eigenheiten ganz anderer Menschen beschäftigen, dann werden letztere nicht so schnell böse auf uns und tun weniger schlimme Sachen. Also - etwas verkürzt dargestellt - zum Beispiel wenn wir uns Dokumentationen über analphabetische usbekische Yakhirten mit Fußpilz anschauen, dann fühlt sich der analphabetische usbekische Yakhirte trotz orthopädischer Probleme von uns verstanden und akzeptiert und kommt dann nicht irgendwann später auf die Idee, Passagierflugzeuge in Hochhäuser zu fliegen.
Das Schöne daran ist, dass wir davon mindestens soviel haben wie die besagten Yakhirten (die möglicherweise auch gar nicht so recht mitbekommen, wie sehr wie sie in ihrer Andersartigkeit akzeptieren, weil sie vor lauter Yakhüten weniger dazu kommen, die Berlinale zu verfolgen - zumal sie ja nicht lesen können). Weil nach so einem Film fühlt man sich zwar auch sehr betroffen und irgendwie traurig, dass manche Menschen es so schwer haben. Aber dann auch wieder sehr gut, weil man da oft das nicht unberechtigte Gefühl davontragen kann, nicht zum Vergnügen im Kino gewesen und also nicht einer dieser von unserer Spaßgesellschaft verblendeten Problemleugner zu sein. Und man dann aber auch wieder nicht in Gefahr kommt, mit den usbekischen Yakhirten tatsächlich reden zu müssen, die ja am Ende dann vielleicht noch so anders sind, dass man sich überhaupt nichts zu sagen hätte, und man weiß ja auch nicht, ob der Fußpilz nicht ansteckend und so… Aber da eben: Bevor jetzt der Yakhirte ankommt und direkt von uns was will außer, dass wir seine Andersheit akzeptieren, da sind wir dann schon im nächsten Film und leiden mit dem Schicksal klebstoffschüffelnder Straßenkinder in Indonesien - schließlich will ja die "Diversity" in ihrer ganzen Breite akzeptiert sein.

Diversität folglich auch in der Auswahl der Filme. So gibt es Filme über Tschernobyl-Opfer beispielsweise gleich aus drei Ländern. Das ist sehr abwechslungsreich. Nur das Genre-Kino findet ein bisserl wenig statt - zugegeben, zwei Animes laufen, einer davon sogar im Wettbewerb, und wenn man lang genug sucht, findet man sogar Thriller und Horrofilme. Dass die ganze Sache insgesamt aber doch ein wengerl Sozialdramen-lastig ist, fällt einem wahrscheinlich nur deswegen so auf, weil dieses Jahr statt Retro und Hommage nur eine große "European 60s"-Reihe läuft. In den Retros kann man sich ja sonst für gewöhnlich seine zwei, drei sicheren Klassiker täglich abholen und dort auch dem prallen Kino huldigen, weil wenn ein Film erst mal ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat und die Beteiligten mit mindestens einem Bein im Grab stehen, dann ist ja auch ein Western, ein B-Picture, ein Musical ganz offiziell wichtig und wertvoll und Kunst, weil museal.
Jetzt wirst Du, lieber Stiefneffe, in Deiner mir so lieben Naivität ausrufen, "Oh, Onkel, sprich', wo ist dann dieses Jahr das Problem?" und sagen: Europäische 60er - wunderbar! Mario Bava, Harald Reinl, Sergio Leone, James Bond, Mabuse und Fu Manchu, Eddie Constantine, Peter Alexander, Lilo Pulver. Da nun aber muss ich leider antworten: Eben nein. Weil zwar über 100 Filme laufen in der Reihe, da aber selbst unter der Rubrik POP fast nur Pop mit Studienabschluss, und der einzige Italowestern, IL GRANDE SILENZIO, unter "Protest" firmiert. Viel Studienerats- und Bildungsbürgerkino kommt da, viel ästhetischer und politischer Aufbruch - was ja nicht grundverkehrt, aber in dieser Ausschließlichkeit Deinem Onkel nicht zum Gefallen gereichend ist.
Vor allem aber ist es eben keine Folie, vor der man leichter übersehen kann, wie voll auch Wettbewerb, Panorama, Forum mit Filmen sind, die Bildungs- und Bedeutungsabsicht offen herumtragen. Höchstens zeigt das, wie wenig in diesem Genre "Film mit Anspruch" (und es IST eben auch ein Genre) noch von der wahren Energie des Aufbruchs und des Neuen zu spüren ist, die in den Sechzigern tatsächlich noch aus den Filmen sprechen.

Dein Onkel muss sich langsam ernsthaft überlegen, sich demnächst nicht mehr für das reguläre Festival, sondern für den Filmmarkt zu akkreditieren. Weil 1) der sowieso das wahre und echte Festival ist - das öffentliche Schaufenster mag auf Kunst, Glamour, Preisverleihungen machen, aber in den Hinterzimmern geht es selbstverständlich um nichts anderes als den Kauf und Verkauf von Filmrechten; und 2) man folglich dort auch die wahre und echte "Diversity" zu sehen bekommt - da darf jeder anbieten, was er hat, und da sind dann Martial Arts-Filme aus ehemaligen Sowjetrepubliken ebenso dabei wie italienischer Trash mit so schönen Titeln wie DANGEROUS SEX DATE (dessen Plakat ich Dir aus Rücksicht auf Deine unschuldige, zarte Jugend jetzt nicht näher beschreiben möchte). Mithin also doch ein deutlich größerer Anteil an potentiell Onkelerfreuendem.

Und wohl geht es nicht nur Deinem Onkel so, der hier als Banause weilte unter lauter den wahren Freuden des Kinos als moralischer Anstalt restlos Zugetanen. Geradezu befremdlich mutete es selbst mir schon an, wie sich alle, Presse wie Publikum, auf die wenigen Filme stürzen, die anderes versprechen als explizite Problembewältigung. In François Ozons 8 FEMMES war kaum reinzukommen, so strömten die Massen, und ebenso üppig floss im Anschluss das Lob aus aller Munde. Dabei muss ich Dir ehrlich gestehen (allerdings mit dem vorgeschalteten Eingeständnis, dass mich bei der Vorführung schon die Müdigkeit recht fest in ihrem Griff hatte): So toll fand ich den nicht. Der ist doch erstaunlich langsam auf den Beinen und kreist letztlich ziemlich lange um ziemlich wenig. Aber eben: Ein Film, der sich geradezu suhlt in seiner Künstlichkeit, der stolz ist auf die offensichtliche Studiodekoration, auf die satten Farben; ein Musical noch dazu (wenngleich kein sehr bewegungsfreudiges). Und eine Parade weiblicher französischer Star-Schauspielkunst, von Darieux über Deneuve, Ardant und Huppert bis Béart und Ledoyen, in der die Actricen ihr Können quasi zweckfrei, oder (keineswegs negativ gemeint) ganz selbstzweckhaft feiern dürfen. (Und als am Ende Danielle Darrieux - die Älteste im Ensemble - mit der Jüngsten, Lydie Sagnier, davon sang, dass es keine glückliche Liebe gibt, da wurden dem Onkel die Augen doch ein wenig feucht.) Also so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was hier dieses Jahr sonst so als wichtiges, bedenkens- und preiswürdiges Kino präsentiert wird. Und prompt bisher der größte Erfolg.

Dabei ist es jetzt keineswegs so, dass Dein bedauernswerter Onkel hier nur in ganz schrecklich schlechten und grundüblen Filmen säße (über die unrühmliche Ausnahme werde ich Dir gleich berichten) - das meiste, was er bisher gesehen hat, war durchaus akzeptabel, in vielen Momenten erquicklich und das onkelische Wohlwollen erregend. Aber dann eben auch nicht mehr. Da sitzt der Onkel dann beispielsweise drei Stunden im neuen Bertrand Tavernier, LAISSEZ-PASSER, amüsiert sich gut, ist erfreut über den unerwartet flotten Rhythmus und komödiantischen Ton, lernt manches über die französische Filmindustrie während der deutschen Besatzung - und verlässt das Kino dann doch wieder mit diesem seltsamen Gefühl der Leere, mit der Gewissheit, sich (und das nicht nur wegen des zunehmend hinfälligen Onkel-Gedächtnisses) in ein paar Jahren bestenfalls an ein, zwei Szenen erinnern zu können, im sicheren Bewusstsein dessen, dass sich dem Leben nichts hinzugefügt hat durch diesen Film, dass dieser in den Tiefen des Onkelschen Seins nichts bewegt und nichts berührt hat. Was ja auch fairerweise nicht von jedem Stück Kino verlangt werden kann - aber wenn sich Erlebnisse dieser Art Film auf Film, Tag auf Tag häufen und eben alles immer nur ganz nett, ganz interessant ist und sich aber kaum je etwas wirklich Großes tut... Tja, dann wird dem Onkel das Festival nicht gerade zum Fest, dann drängt sich immer häufiger und heftiger die S-Frage, die nach dem Sinn des Ganzen auf, dann kommt man ins Grübeln, warum all diese Leute soviel Energie und Zeit und Aufwand in Filme stecken, die immer nur GANZ NETT sind und gar nicht versuchen, etwas anderes zu sein, und dann fragt sich der Onkel, warum er sich all diese Filme überhaupt anschaut. Und hört als Antwort nur eine unheimliche Stille.
Zugegebenermaßen aber ist die in den Anfangstagen darob heraufkriechende Gefahr einer Cineasten-Depression gebannt, seit Dein Onkel erkannt hat, dass man wirklich nicht alles anschauen muss, was im Katalog so klingt, als könnte es unter Umständen was sein, und ihm klar wurde, dass, wenn tatsächlich so wenige Filme im Angebot sind, die einem gepflegten Rausch das Wasser reichen können, er daraus auch die naheliegende Konsequenz ziehen kann. Seither lautet die Losung: Weniger Filme, mehr Bier. Und der Onkel ist schon viel fröhlicher.

Aber Du, mein lieber Stiefneffe, möchtest ja doch gewiss informiert werden über jene Filme, die ich trotz eben erwähntem und erläutertem Motto gesehen habe. Und da fangen wir doch am Besten einfach da an, wo es sich anbietet: Am Anfang.
Die "Diversity" akzeptieren bedeutete zum Beispiel auch, hinzunehmen, dass zur Eröffnungsgala mit Tom Tykwers HEAVEN vor dem Berlinale Palast nicht nur Metalldetektor-Schleusen sondern - Vielfalt! - auch Gepäckdurchleuchtungsanlagen aufgebaut wurden. Weil, es hätte ja sein können, dass wir irgendjemanden zwar in seiner Andersheit ganz toll akzeptieren, der aber jetzt quasi weniger offen eingestellt ist gegenüber unserer reziproken Andersheit und beispielsweise partout keine Tom Tykwer-Filme mag und ein Passagierflugzeug im Rucksack gehabt hätte.
Leute, die keine Tom Tykwer-Filme (mehr) mögen schien es nach HEAVEN hier plötzlich gar nicht so wenige zu geben - aber lass Dir von Deinem Onkel (dessen Urteil Du doch hoffentlich traust) gesagt sein: Verblendete Narren jene allesamt! Sicher kein sehr gefälliger Film, wohl auch keiner, dessen Qualitäten so ganz offen auf der Hand liegen. Aber doch auf unzähligen Ebenen eine äußerst beeindruckende Leistung - und vor allem einer der wenigen Filme bisher, die auch nach Tagen und nach etlichen anderen Streifen nicht einfach verschwanden und kleiner wurden in meinem Kopf, sondern der nachwirkt, der, wenn ich ihn in der Erinnerung wieder begucke, stets gewinnt, immer mehr Facetten zeigt und immer neugieriger darauf macht, ihn noch einmal zu sehen. Da der Film ja aber sehr bald auch für Dich ganz regulär auf einer Leindwand Deines Vertrauens zu sehen sein wird, gestatte mir, mich bald in einem gesonderten Epistel dazu näher auszulassen und Dir jetzt erstmal weiter zu berichten von Sachen, die Du so bald (oder vielleicht überhaupt) nicht zu Gesicht bekommen wirst.

Du weißt, wie sehr ich immer um Dein Wohlergehen besorgt bin, und deshalb kann ich nicht umhin, Dir inständig zu wünschen, dass zu jenen Filmen, die Du (freiwillig oder unfreiwillig) nicht zu sehen bekommst, DER FELSEN gehören wird. Hör' auf Deinen Onkel, der seiner inneren Stimme dummerweise den Gehorsam versagt hat und es bitterlich bereut.
Zu Recht wirst Du sagen: Lieber Onkel, sei mir nicht böse, aber wer sich nach dem großunsäglichen MÜNCHEN - GEHEIMNISSE EINER STADT noch freiwillg in einen Dominik Graf-Film begibt, der ist nun wirklich so etwas von selber schuld und sollte gefälligst danach nicht auch noch rummosern. Wo ich Dir leider vollkommen Recht und die Erlaubnis geben muss, das Folgende zu überspringen und einfach weiter unten weiterzulesen, wo es wieder um erfreulichere Dinge gehen wird. Aber trotzdem: Ein bisschen Dampf ablassen muss Dein Onkel da schon. Verzeih es ihm.
Nun gibt Dein Onkel gerne zu, dass er selbst auch schon Urlaubsfilme mit der Videokamera gedreht hat, und dass davon auch nicht jede Einstellung ins Museum gehört. Aber so einen undefinierten, flachen orange-grau-braunen Pixel-Matsch wie Graf hat er dann doch noch nicht produziert, und wenn, dann war er so anständig, das Band zu löschen, anstatt es auch noch auf Film umzukopieren und den Rest der Menschheit damit zu belästigen. Den Budget-Ball flach halten, improvisieren können, nicht dauernd so einen Riesenapparat im Nacken haben bei Drehen - schön und gut. Aber es scheint, als hätte der Herr Graf nicht nur die Lust auf großen Drehaufwand verloren, sondern auch gleich noch auf jegliche Anstrengung, die man sonst auf einen Film verschwenden könnte. Eine einzige Bilderverweigerung ist das, freudlos in jedem Detail, nicht nur in der unattraktiven Optik - als wäre Graf zu faul geworden, filmisch zu erzählen, muss uns alle paar Minuten eine weibliche Off-Stimme einfachste Aktionen, Zusammenhänge, Gefühlseinblicke dahersalbadern. (Vielleicht hält Graf das Publikum auch nur für schwer von Begriff oder wahrnehmungsgestört.) Was bei der (Publikums-)Vorführung, die ich gesehen habe, wenigsten zu ein paar unbeabsichtigeten, herzhaften Lachern führte, die gottseidank einige ZuschauerInnen irgendwann nicht mehr verdrückt haben, wenn das schwurbelnde Gequase gar zu unerträglich wurde. Zu der völligen Lust- und Freudlosigkeit gesellt sich auch noch eine todfade, bleierne Schwere - und anscheinend nicht nur bei Deinem Onkel das immer deutlichere Gefühl, dass der Sinn und Zweck, das Sollen und Wollen des Ganzen völlig unergründlich bleibt: Ein solch konsterniertes, komplettes, apllausloses Schweigen habe ich die ganze Berlinale vom Publikum am Ende bei keinem anderen Film erlebt.


Nun kennst Du ja Deinen Onkel und weißt, dass er gerne sehr vehement eine Position predigt, nur um im nächsten Moment das scheinbare Gegenteil zum Dogma zu erheben. Insofern wird es Dich nicht verwundern, wenn ich Dir nun erzähle, dass die drei herausragendsten Filme, die ich bisher gesehen habe, zwei Dokus (allerdings nicht über usbekische Yakhirten) und ein deutscher, mit Handvideokamera gedrehter, improvisierter Film waren.
Aber hör zu: HALBE TREPPE (initiiert von Regisseur Andreas Dresen, insgesamt aber ein Ensembleprodukt, ohne Drehbuch vor Ort in zwei Monaten im Team entwickelt) macht genau alles richtig, was DER FELSEN so aufdringlich vergeigt. So wahnsinnig schön sind die Digital-Bilder da auch nicht (wenngleich schon viel ansehnlicher als Grafs Soße) - aber der Film spielt auch in Frankfurt an der Oder und nicht auf Korsika, und schwuppdich passt das doch gleich viel besser. Und da wird's dann auch gleich viel interessanter, wenn von Seitensprung und Gefühlsverwirrung erzählt wird. HALBE TREPPE ist ein großartiger Film über die Liebe in den Zeiten der Einbauküche. Da tanzen keine Architekten zur Selbstfindung auf Urlaubsinseln rum, werden keine Pistolen gezückt und keine Autos die Klippe runtergefahren, wird kein narratives Ringelpiez mit Anöden gespielt, da gibt es nicht so leicht den ach so poetischen Fluchtraum. Weil, das mit der Größe der Gefühle ist ja von außen gesehen meist ohnehin schon fraglich, und wenn dann eben erstmal eine Wohnung, ein Job, ein Wellensittich und zwei Kinder da sind, dann wird's so richtig schwierig.
Zwei Ehepaare zeigt HALBE TREPPE, Mittelstand, Tendenz nach unten, die eine Frau fängt was an mit dem anderen Mann, beide halten's für große Liebe, aber eben s.o. ...
Wo Graf (und die meisten anderen von Liebesdingen handelnden Filme des Festivals) ganz im Privaten, im Einzelnen und Romantisch-Poetischen bleibt, fließt hier fast von selbst auch der gesellschaftliche Kontext ein: Es gibt ganz großartige Momente, wo aufblitzt, welch Diskrepanz ist zwischen den Glücksversprechungen unseres Global-Kapitalismus und dem Erleben der "Verbraucher" - wie Ehemann Uwe da beim geplanten Küchenkauf mit leerem Blick auf einem Stuhl sitzt, wie müde der Radiomoderator guckt, sobald das Mikro wieder zu ist, in das er von der "Power-Hour aus dem Power Tower" enthusiasmiert. Aber das bleibt, wie fast alles an HALBE TREPPE, ganz unforciert; überlässt es einem selbst, das so zu sehen und zu empfinden.
Es gibt keine Schwere in diesem Film, nichts Zerknirschtes. Der Film kennt wenig Gnade mit seinen Charakteren, aber er bewahrt sich stets Respekt vor ihnen; sein Blick ist gewiss nicht der auf Menschen, die er für glücklich oder sehr reif hält, aber er hat nichts Mitleidiges, nichts Besserwisserisches. Vor allem könnte er kaum weiter entfernt sein von jeglicher Elends-Suhlerei. Bei keinem der Filme, die ich bisher hier gesehen habe, wurde während der Vorführung so viel, so stark und so spürbar von Herzen gelacht, obwohl man nie auf die Idee käme, ihn eine Komödie zu nennen.
Und bei aller Genauigkeit, bei allem Wahrhaftigen, bei allen "So ist es!"-Gefühlen schert sich HALBE TREPPE dann gottseidank aber auch gern hin und wieder einen gemütlichen Scheißdreck um die Konventionen des "Realistischen", gönnt Uwe das surreale Erlebnis, den ganzen Film hindurch von einer immer größer werdenden Schar von Musikern (Die Gruppe "17 Hippies", von der auch der wunderbare Soundtrack stammt) geradezu verfolgt zu werden.
Auf der Pressekonferenz hat Andreas Dresen dann von jenen Momenten im Kino gesprochen, wo man sich peinlich ertappt fühlt, wo man, wenn man mit Partner oder Partnerin im Film sitzt, hofft, dass er oder sie nicht gerade sich an das gleiche erinnert fühlt wie man selbst, wo man anschließend ganz schnell das Gespräch auf etwas anderes bringt, um dem auzuweichen. Und er sagte, er wollte einen Film machen, der voll ist von solchen Momenten. Er hat's geschafft - Chapeau!


Wenn ich Dir jetzt den Titel von meinem bisherigen Lieblingsfilm des Festivals verrate, dann wirst Du, lieber Stiefneffe, mich sofort mit dem Verdacht der Befangenheit und Parteilichkeit strafen, was ich Dir nicht übelnehmen kann, wogegen ich mich aber dennoch aufs Schärfste und Gründlichste verwehren muss. Denn UNCLE FRANK hätte sich einen Platz in meinem Herzen erobert, selbst wenn ich von Beruf Schwippschwägerin wäre oder Frank nicht Onkel sondern Halbcousin. Vom weiter oben von mir so lamentos eingeforderten Genre-Kino, von fantastischen, aufwendigen Kinoträumen könnte UNCLE FRANK dabei gar nicht weiter entfernt sein: Es ist eine auf Video gedrehte Dokumentation von Matthew Ginsburg über seinen 85-jährigen Onkel, der mit seinem Keyboard als Alleinunterhalter durch die Altersheime in seinem New Yorker-Suburb-Wohnort tingelt. Ginsburg begleitet Frank zur "Arbeit", zeigt ihn daheim, bei einer Parade, beim Arzt, interviewt ihn und Tante Tilly. Was, wenn man's so liest, nicht sonderlich groß und spannend klingt. Aber die Liebe zu und zwischen diesen Menschen ist so spürbar, und Frank selbst ist so ein wunderbares Subjekt, dass man überhaupt nicht auf die Idee käme, sich auch nur eine Sekunde zu langweilen oder belehrt zu fühlen. Und auf seine komplett unspektakuläre, unsentimentale und unbeschönte Art war's dann ausgerechnet dieser Film, der zu all den "großen" Themen, zu Liebe und Leben und Tod, zur Vergänglichkeit und zur schäbigen Armseligkeit wie zur wundersamen Größe des Menschseins (die hier irgendwie immer in ein und dem selben Moment gleichzeitig aufgehoben scheinen) wirklich viel zu sagen hatte, Schmerzhaftes und Wahres und Tröstliches - und zum Glück nichts davon als "Botschaft" aussprach. Außer man nimmt Uncle Franks Wunsch dafür, dereinst mit dem Gesicht nach unten beerdigt zu werden - "so the rest of the world can kiss my butt".

So langsam wird es für Deinen Onkel wieder Zeit, zum nächsten Film (oder wahlweise Bier) zu schreiten. Und Du musst bestimmt Dich einmal um Deine Hausaufgaben kümmern. Da werde ich Dir wohl noch einen weiteren Brief schreiben müssen, denn zu erzählen gäbe es noch manches. Aber lasse mich für jetzt abschließen mit dem Bericht vom definitv besten und größten und tollsten Film, der NICHT zu sehen war (und damit auch mit dem Bericht von oben bereits erwähnter zweiter Spitzen-Doku von Welt): THE MAN WHO KILLED DON QUIXOTTE. Weder Böswillig- noch Unfähigkeit der Berlinale-Veranstalter noch Termin- oder Rechteschwierigkeiten haben verhindert, dass der hier läuft. Das Problem ist schlicht: Der Film existiert (noch) nicht. Um Terry Gilliams seit etwa einem Jahrzehnt gehegten Projekt einer Quixotte-Verfilmung handelt es sich, das letztes Jahr endlich in Produktion ging - nur um nach wenigen Tagen grandios zu zerplatzen. Alles, was vorerst (Gilliam hat noch nicht aufgegeben!) davon übrigblieb, ist die Doku LOST IN LA MANCHA - das erste "Un-Making of"-eines Films.
So gerne man anläßlich eines verhinderten Gilliam-Filmes mal wieder über die Schlechtigkeit der Filmfinanciers, der Produzenten, des Filmgeschäfts, des Kapitalismus und der Welt an sich herziehen möchte - man kann es hier nur bedingt. Freilich, eines der Grundprobleme war, dass Gilliam von den hosenscheißenden Erbsenzählern in den Chefetagen der großen Studios einfach keine angemessenen Budgets und kreativen Freiheiten bekommen kann. Und deshalb bei Quixotte mit einer (europäischen) Finanzierung loslegen musste, die null Spielraum ließ für einen anders als reibungslosen Produktionsablauf. Aber die Katastrophen, die man in LOST IN LA MANCHA sich dann über den Dreh häufen sieht, hätten womöglich auch Produktionen mit solideren Cash-Standbeinen ins Straucheln gebracht: Hagelstürme, weggeschwemmte Sets und Equipment, NATO-Fliegerlärm und vor allem ein Hauptdarsteller, der nach zwei Drehtagen für ungewisse Zeit erkrankt. Ich habe noch keine Dokumentation über das Filmemachen gesehen, die so schön zeigt, welch Wunder es jedesmal ist, wenn ein Film tatsächlich fertiggestellt werden kann. Man bekommt ein Gefühl dafür, dass Filmen tatsächlich nichts anderes heißt, als dass sich ein paar Leute Bilder ausdenken, sich mit anderen Leuten verabreden, diese Bilder auf Film zu bannen und dann basteln und experimentieren und spielen, bis das irgendwie geklappt hat. Dass da keine Magie, keine geheimen Ingredienzien, keine esoterischen Rezepte dahitnerstecken. Und dass sich am Ende doch (wenn es besser läuft als im gezeigten Fall) aus tausenden Einzelstückchen, die trotzend der widerstrebenden Realität abgerungen wurden, etwas zusammenfügen kann, das Magie hat. Die wenigen abgedrehten Einstellungen von Gilliams Film, die man in LOST IN LA MANCHA zu sehen bekommt, haben es schon mehr als fast alle anderen Filme bisher geschafft, Deinem Onkel dieses Gefühl von Zauber, von Größe, von echtem, richtigen, wahren KINO zu schenken. Ich glaube nicht, dass ich auch nur zehn Filme der gesamten Berlinale finden würde, die ich nicht sofort und liebend gerne herschenken würde, wenn ich dafür diesen einen als vollendetes Werk sehen könnte. Ein radikaler, fantastischer, gigantischer Träumer wie Gilliam - darauf wartet diese Berlinale bisher noch vergeblich.
(Bzw. lügt Dich Dein Onkel da schon wieder an, denn auf Gilliam hat die Berlinale gar nicht vergeblich gewartet - der war, wenn auch ohne eigenen Film, zu LOST IN LA MANCHA da! Und hat bei der Pressekonferenz genau diese visionäre Begeisterung, diese enthusistische Fülle, diesen Willen zum ganz Großen versprüht, die in dieser ganzen höflichen Pupserei rundum so abgeht. Vor lauter Gestikulieren hat er dann prompt auch sein Evian umgestossen - und das auslaufende Wasser sofort für eine erfrischende Katzenwäsche benutzt. Pressekonfernzmäßig dürfte dieses Highlight schwer noch zu toppen sein...)

Nun aber läßt Dich Dein Onkel endlich wirklich zu wichtigeren Taten denn der Lektüre seiner Berlinale-Korrespondenz schreiten. Und wünscht sich selbst ein Restprogramm, dass sicher nicht durch eine überragende Quantität an noch zu schauenden Filmen geprägt sein wird, das dafür aber hoffentlich qualitativ endlich kräftig anzieht.
Und wünscht Dir, lieber Stiefneffe (der mir bitte auch seine werten Eltern ganz herzlich grüßt) einstweilen eine schöne Zeit inner- wie außerhalb des Kinos, daselbst allerweil schöne Träume und noch schöneres Wachsein & bald ein freudiges Wiederlesen.

Mit besten Grüßen,
Dein Stiefonkel dritten Grades mütterlicherseits
Thomas Willmann

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