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Lieber Stiefneffe,
ich muss Dich vielmals um Entschuldigung bitten, dass es
so lange gedauert hat, bis Dich dieser Brief nun hoffentlich
erreicht. Du weißt ja, wie das ist, mit unserer Post...
Jetzt aber hoffe ich, dass er, obgleich mit erheblicher Verspätung,
Dir doch noch immer ein wenig Gemütsergötzung verschafft
und wenigstens kursorisches Interesse erwecken kann.
Lass Dir an dieser Stelle zunächst gedankt sein für
Deine aufmunternden Worte und Deine guten Wünsche für
vermehrte Sichtung begeisternder Festival-Filme, die Du mir
nach meinem ersten Brief so vorbildlich umgehend zukommen
ließest. Und ich kann Dir auch glücklicherweise
berichten, dass zwar die begeisternden Filme auch in der zweiten
Woche rar blieben, es für Deinen Onkel dann aber tatsächlich
noch eine insgesamt befriedigende Berlinale wurde - mehr dazu
später.
Versöhnlich war ja schon allein die Entscheidung der
Jury: Das hätten wir uns doch nicht träumen lassen,
dass man sich wahrhaft traut, Qualität zu erkennen und
mit SPIRITED AWAY einem Anime den Goldenen Bären aufzubinden.
Klar, es scheint die Jury dann doch die Angst vor der eigenen
Courage gepackt zu haben, so dass durch die Preisteilung mit
BLOODY SUNDAY dafür Sorge getragen wurde, dass auch ja
schön brav der ach so politisch relevante und mit den
Problemen der Welt befasste und unseren Betroffenheitsstolz
bauchpinselnde Film mal wieder als wichtig und ausgezeichnet
hochgehalten wurde. Damit quasi auch ein Oberstudienrat mit
der Entscheidung zufrieden sein kann.
Aber sei's drum, Hauptsache japanischer Zeichentrick auf dem
Siegertreppchen! Yippieh! Und einer der wenigen Filme damit
der Berlinale, der seine Aufgabe darin gesehen hat, eine ganz
eigene, visionäre, künstliche Welt zu schaffen.
(Und nur um's mal klar gesagt zu haben: Wen der Nordirland-Konflikt
wirklich berührt und bewegt, und wer dort seinerseits
etwas bewegen und zum Besseren verändern will, engagiert
sich politisch, geht auf die Straße, macht Parteiarbeit,
was immer, sitzt jedenfalls nicht bei BLOODY SUNDAY im Kino.
Film IST Weltflucht. Punkt.) Fast möchte man da auch
meinen, dass hier sogar das letzthin von mir so bekrittelte
"Accept Diversity"-Motto eine gewisse Erfüllung
gefunden hat - denn Hayao Miyazakis Film biedert sich keineswegs
westlicher Fantasy (und erst recht nicht diesen überlangen
Spielzeug-Werbespots, die derzeit in unseren Kinos als solche
verkauft werden) an. Das ist Nippon durch und durch, lässt
den hiesigen Betrachter nur ahnen, was da alles drinsteckt
an Bezügen zu Mythen, Märchen, Religion im Land
der aufgehenden Sonne. Mir kamen diese Abenteuer im Badehaus
der Götter ein bisschen so vor, als hätte Hieronymus
Bosch nach diversen Japanologie-Seminaren "Alice in Wonderland"
neu erfunden. Bestimmt auch, weil im Gegensatz zu den Disney-Appropriationen
von Märchen hier nichts auf simple Gut-Böse-Gegensätze
hinfrisiert, keine Heldengeschichte erzählt wird. Da
ist auch ein alles verschlingender, gesichtsloser Geist doch
eine eher traurige Gestalt, bewegt sich alles auf moralisch
vielschichtigem und wandelbarem Boden, fühlt man sich
wirklich manchmal wie in eine Welt geworfen, in der nichts
a priori Sicherheit bietet. Die Entdeckungsreise ins Fremdartige
ist mithin, wie eben bei Alice, wie oft auch in unseren Märchen,
wenn man sich wirklich einmal ihre Urgestalt ansieht, eine,
die sich nicht nur in den (hier wirklich beträchtlichen)
optischen Schauwerten erschöpft.
Weil wir's gerade von den vergebenen Preisen haben: Über
einen mussten wir doch alle sehr herzlich lachen - den Alfred-Bauer-Preis
"für einen Spielfilm, der neue Perspektiven der
Filmkunst eröffnet," an BAADER. Die bisher plausibelste
These, was damit wohl gemeint sei, ist, dass der Film bisher
unerschlossene Dimensionen der Belanglosigkeit sichtbar gemacht
hat. Wenn Du, lieber Stiefneffe, wie es so Deine Art ist,
Dich bereits vorab ein wenig schlau gemacht hast, dann wirst
Du nun Deinem Onkel gewiss wieder mit dem Vorwurf selbstverschuldeter
Kinoqual kommen, weil man ja bei einem Film, bei dem einer
der beiden Autoren Moritz von Uslar ist, als vernünftiger
Mensch einfach gleich daheim bleiben sollte. Nun, Recht hast
Du, aber ich vorher eben auch nicht nach den Autoren geguckt
und also dann zwei Stunden wertvollen Morgenschlafs für
eine dieser gnadenlosen 9:00 Uhr-Pressevorführungen verschenkt.
Wobei aber nur der nachträgliche Gedanke an die vertane
Gelegenheit wonnigen Weiterschlafens wirklich dazu geneigt
war, onkelschen Grimm zu erwecken - der Film an sich war nicht
einmal richtig ärgerlich, er war nur überflüssig
wie eine Kropfprothese. Kaum ein anderes Zelluloidwerk ist
dermaßen eingeöltem Klopapier gleichend am Arsch
Deines Stiefonkels vorbeigegangen.
Du kannst Dir das Ganze in etwa vorstellen als zwanglose Verbindung
von Schulfernsehen und H & M-Werbung. Die Stoffentwicklung
muss bei Regisseur Christoph Roth und Herrn von und zu Uslar
in etwa so vonstatten gegangen sein: "Hey, der Baader,
das war schon ein ziemlich cooler Typ." "Yo, aber
irgendwie doch auch voll ambivalent." "Wahr! Hey,
wir sind doch auch total cool, oder?" "Klar! Lass
uns doch einen total coolen Film machen über den Baader!"
"Geil! Aber der muss irgendwie halt auch so voll ambivalent
sein." Weiter kann die geistige Durchdringung des Materials
nicht gediehen sein.
Ein bisschen heiße Luft gab's auf der Berlinale um den
recht freien Umgang mit den "historischen Tatsachen",
was dem Film mancherorts das Prädikat "kontrovers"
eintrug. Aber um kontrovers zu sein, müsste das alles
einen Sinn und Zweck, müsste einen dezidierten Standpunkt
haben. Den Heldentod im Shootout mit der Polizei am Ende aber
gibt's doch wohl nur, weil die Macher einerseits keinen Bock
hatten auf Stammheim, zu kompliziert, zu uncool, und andererseits
gern mal ein bisschen Action-Kino spielen wollten. Eine der
Hauptmotivationen scheint überhaupt ganz unpolitisch
gewesen zu sein, dass die Herren auch mal wieder nackte Frauen
sehen wollten und also alle Darstellerinnen früher oder
später, stets aber bar jeden Kontextes, barbusig auftreten.
Dreharbeiten wohl in etwa so vorzustellen: "Hey, ihr
beiden, ward ihr eigentlich schon nackt? Nee? Na gut, dann,
ääähhh... stellt Euch da mal vor den Badezimmerspiegel
und frisiert Euch. Aber zieht die Oberteile aus!" Und
gerade sozusagen ex negativo von Kostümen sprechend:
Der Zugang zu den 70ern kommt eigentlich nie über's Dekorative
hinaus; mehrfach fühlte sich Dein Onkel an das "Sabotage"-Video
der Beastie Boys erinnert, von wegen: Wir pappen uns Kotletten
an und spielen Seventies, nur dass im Gegensatz zu Spike Jonez'
großartigem Clip halt weder Ironie noch Freude aufkommt.
Eine Szene nur gab's, die gefiel und ließ ahnen, was
drin gewesen wäre, wenn da hin und wieder über die
produktivste Perspektive nachgedacht worden wäre: Da
sitzen die selbsternannten Revolutionäre ratzedicht und
brezenbreit trippend um den Küchentisch, fast bewegungslos,
nur Baader stochert, alle gucken fasziniert zu, mit dem Besteck
im Toaster rum. Bewegunslose Totale, keine Musik, einmal wenigstens
in einem ganz einfachen Bild die Distanz zwischen den Visionen
in diesen Köpfen und der Außenansicht eingefangen.
Sonst aber fasst es vielleicht am besten einer der grandiosen
Dialogsätze zusammen: "Ich will auch zur Guerilla."
Genau so hat's gewirkt.
Spätestens dieses Jungfilmer-Armutszeugnis hat dann auch
vollends offenbart, wie verzweifelt inszeniert der Versuch
war, Kosslicks erste Berlinale zu so einer Art Wiedergeburtstunde
des deutschen Kinos zu stilisieren. Nichts gegen vier heimische
Filme im Wettbewerb, nichts gegen eine "German Cinema"-Sonderreihe.
(Na ja, vielleicht ein wenig unheilahnendes Zähneknirschen
des zugegebenermaßen in dieser Richtung vorurteilsbelasteten
Onkels, doch das gepaart durchaus mit der Bereitschaft, sich
eines Besseren belehren zu lassen...) Aber wenn halt so offensichtlich
wird, dass nicht erst vier überzeugende deutsche Filme
da gewesen waren, sondern der erklärte Wille, eine entsprechende
Anzahl bundesrepublikanische Streifen ins Rennen zu schicken,
ganz egal welcher Qualität - dann entblößt
sich die Sache doch wieder als großer Krampf. Einfach
mal so das deutsche Kino zur Chefsache auszurufen und es für
auf dem Sprung zu internationaler Bedeutung zu definieren,
damit tut man doch auch niemandem einen Gefallen, wenn dann
solch armselige Lächerlichkeiten sofort den offensichtlichen
Gegenbeweis zur These liefern.
Wobei, soweit jedenfalls von Deinem Onkel gesichtet, sich
der europäische Film generell diesmal nicht so rasend
spannend herausgeputzt hatte. Gut, die Finnen hatten mit ON
THE ROAD TO EMMAUS (EMMAUKSEN TIELLÄ) einen der vergnüglicheren
und gspinneteren Beiträge am Start, der zumindest dem
für (alkoholisierte?) Albernheiten empfänglichen
Menschen (also mir) manch Freude bereiten konnte. Aber dann?
Was war los mit den Franzosen? Warum immer noch und immer
wieder diese Filme über Beischlaf, verbrämt mit
viel Zigaretten und raunenden Diskussionen über Philosophie.
Dieses esentiell französische Grundmuster lugte selbst
bei jungen Filmemachern dauernd hervor, ob aus dem 60s-Teenie-Zeitbild
LA BANDE DU DRUGSTORE oder dem verquast intellektuellen, semi-experimentellen,
spukromantischen (und seltsamerweise trotz aller extremen,
schwerfälligen Bedeutungshuberei doch recht einnehmenden)
FANTÔMES. Und wo es einmal nicht griff, da schien der
Film dann gleich etwas verloren, wie bei dem von vielen zum
grandiosen Meisterwerk ausgerufenen SUR MES LÈVRES.
Das fängt noch sehr schön an, mit Vincent Cassel
als Kackspecht, auf Bewährung aus dem Knast, und jetzt
gezwungen, als Bürohilfe zu arbeiten; und mit Emanuelle
Devos als schwerhöriger, leicht dotscherter Sekretärin.
Bis zum Beischlaf bringen sie's schon, und das mit dem Rauchen
kriegt Cassel, soweit ich mich erinnere, auch noch hin. Aber
schon weil die beiden nicht mehr über Philosophie diskutieren
können, wird's schwierig. Da verrudert sich der Film
in einen Krimi-Plot, der weder sonderlich interessant noch
glaubhaft oder den Charakteren recht angemessen ist, weil
er mit ihnen anscheinend über die Länge eines Spielfilms
sonst nichts anzufangen weiß. Das war dann einer jener
überaus seltenen Momente auf der Berlinale, wo Dein Onkel
sich bei einem Film mal WENIGER Genre-Anleihen gewünscht
hätte.
Immerhin hatte ich so beim französischen Film beruhigenderweise
stets vertraute Bezugsrahmen parat und wenigstens das Gefühl,
das Ganze einigermaßen einordnen zu können. Das
war bei meinem einen Abenteuertrip ins Filmland Ukraine dann
deutlich anders. So etwas wie das Nationalepos EIN GEBET FÜR
HETMAN MAZEPA (MOLITVA ZA GETMANA MAZEPU), mein lieber Stiefneffe,
hat auch Dein Onkel noch nicht gesehen. Immerhin! (Ob er so
etwas so schnell wieder sehen möchte, ist dann eine ganz
andere Frage.) Seit ich dieses hysterische, delirierende..
äähhh... Dings gesehen habe, mache ich mir jedenfalls
ernsthafte Sorgen, was man den armen Ukrainern so ins Trinkwasser
kippt. Ich weiß gar nicht, wie meine armseligen Worte
Dir einen angemessenen Eindruck vermitteln sollen von diesem,
tja, "Film" (oder doch eher Happening). Stell Dir
vielleicht vor: Greenaway nach einer Lobotomie. Oder Fellini
als Kasperltheater-Intendant. Oder Schlingensieff mit zuviel
Geld, und Julian Nieda-Rühmelin als Darsteller. MAZEPA
ist nämlich nicht nur der teuerste ukrainische Film aller
Zeiten, einen Teil der Titelrolle (erklär ich gleich!)
spielt auch noch der ukrainische Kulturminister Bohdan Stupka
(der zugegebenermaßen schon vorher ein bekannter Schauspieler
war). Was mich so ratlos machte war vor allem die Ungewissheit,
ob da völlige Dilletanten am Werk sind, denen es an allen
Fähigkeiten und Möglichkeiten mangelt, ihre zweifelsohne
grandiosen Visionen irgendwie nachvollziehbar auf die Leinwand
zu bringen, oder um dezidierte Avantgardisten, die sich (sowas
gibt's ja) ganz bewusst gegen jede technische Glätte
und Konvention verhielten und also quasi absichtlich alle
Außenaufnahmen überbelichteten und den Ton komplett
nach(un)synchronisierten und dergleichen Späßle
mehr. Und ob's am mangelnden Filmmaterial oder am Kunstwillen
lag, dass es schien, als wäre jeder Take (alles lange,
wilde Handkameraeinstellungen) definitiv nur einmal gedreht
und komplett verwendet worden, egal, was dabei alles schieflief.
Es gab jedenfalls vermehrte Anzeichen, dass die Macher das
ein oder andere Seminar zur Postmoderne hinter sich hatten,
z.B. (weil quasi Auflösung von Identitäten und Chronologien,
holla!) dass Mazepa in unterschiedlichen Darstellern in unterschiedlichen
Lebensaltern verkörpert wurde, die aber dauernd innerhalb
ein und der selben Szene wechselten. Oder dann auch Selbstreflexivität
und Illusionsdurchbrechung dadurch, dass die historischen
Figuren selbst anfangen, von der dereinstigen Verfilmung ihres
Lebens zu reden, und so... Auch die Einbeziehung populärkultureller
Elemente (sprich: immer mal wieder eher unmotivierte Softporno-
und Splatter-Einlagen) ließe sich so oder so deuten.
Und dito die fast komplette Unverständlichkeit des Ganzen
in narrativer Hinsicht. (Zu der allerdings gewiss die Untertitel
mehr als ein Quentlein beitrugen - "Meine Quall hat ein
Ende," hieß es da z.B., obwohl weit und breit keine
Qualle zu sehen war.)
Es hätte zumindest einer der rauschhaftesten und wirklich
divergierendsten Filme des Festivals sein können, wenn...
- ja, wenn er nicht sagenhafte 154 Minuten gedauert hätte,
was ihn dann doch nicht nur für mich zur in dieser Länge
nicht durchstehbaren "Quall" machte. Dass Dein Onkel
zu jener Minderheit gehörte, die am Schluss des Filmes
noch im Kino saß, lag nur daran, dass ihn zwischendurch
Morpheus für ein gutes Stündlein in seine starken
Arme genommen hatte...
Und so war es dann doch mal wieder an den Asiaten, mit einer
gewissen Verlässlichkeit für die cineastischen Glücksmomente
des Onkels zu sorgen.
Nicht, dass da von vornherein alles Gold war, was mit Vorspännen
in chinesischen Schriftzeichen glänzte:
Beim zweiten Anime im Programm ging's beispielsweise (nicht
nur) dem Onkel so, dass tatsächlich fast nur die fantastische
Optik ihn erreichte und erfreute; die Geschichte, die Zusammenhänge
blieben (es mag wiederum die etwas suspekt erscheinenden Untertitel
eine Mitschuld treffen) bei A TREE OF PALME (PALUMU NO KI)
seinem abendländisch strukturierten Hirn doch relativ
unverständlich. Und das, obwohl ihm vom Videospielen
doch irgendwelche Kämpfe um Lebensenergien, Questen um
zaubertätige Kapseln und dergleichen nicht ganz unvertraut
sind, und eines der Vorbilder des Films ganz unzweifelhaft
unser europäischer Pinocchio war. Womit wenigstens die
Grundzüge sich klärten, von wegen Roboter-Bub, der
aber auch irgendwie ein Baum ist (da wurde es schon schwierig!),
will Mensch werden. Aber das genauere wie, wer, wo, was und
warum... Und wenn Du jetzt denkst: Na ja, der Onkel hat dann
bestimmt zum Presseinfo gegriffen, und das hat ihn erhellt,
dann muss ich sagen - gegriffen hat er, und erheitert hat
es, aber erleuchtet, das nicht. Weil also schon die Kurzbio
des Regisseurs sprachliche Kunstwerke folgenden Kalibers enthielt
(alle Zitate "sic!"): "As the animator his
carrier of involving in the original picture of 'Warriors
of the Wind' led to him great performance as an chief animation
director in 'AKIRA', having shown his overwhelming existence."
Wo man aber wenigstens noch draufkommt, was gemeint ist. Wie
eigentlich auch bei der Synopsis, die nur sehr knapp gehalten
war und nicht viel mehr verriet als eben oben angesprochene
Menschwerdungswünsche des Holzroboters. (Warum der etwas
infantiler veranlagte deutschsprechende Zuschauer - also Leute
wie Dein Onkel - während des Films des öfteren unangemessene
Heiterkeit befiel, wird Dir übrigens folgendes Zitat
aus der Synopsis erhellen, verbunden mit der Information,
dass überwiegende Teile des Dialogs daraus bestanden,
dass die Charaktere gegenseitig verzweifelt ihre Namen riefen:
"PALME is determined to get there even more strongly
due to his love to POPO, thinking, 'I will become a human
being for POPO.'" Ähem, nun ja...)
Was die Botschaft des Ganzen anbelangt aber: Da befiel mich
doch der Verddacht, dass eher einer den Stoiber bei Christiansen
versteht als die "Director's message", die ich,
weil sie gar so schön ist, hier in ihrer Gänze zu
Deiner Ergötzung hinzitiere. "A robot called PALME
is frightened of the transience of its existence. But, he
is still going to travel in the inside of people's painful
souls and minds and is going to hold a clear thing. That figure
might be also same as us who live now. Our figure asks for
a spiritual whereabouts also as a man. Therefore, it is sure
that this tale is now required one. I believe that the values
of this film will be born with the depth of the mirror of
each people's mind, which this film watches." Na, wenn
das mal kein clear thing ist.
(Übrigens, weil wir's gerade haben mit erheiternden Übersetzungen
aus asiatischen Sprachen - hier, völlig außerhalb
jedes cineastischen Kontexts, des Onkels Lieblingsfundstück
seines Berlinaufenthalts, entdeckt auf der Stäbchen-Verpackung
beim Asia-Imbiss in den Potsdamer Platz-"Arkaden":
"Welcome to Chinese Restaurant. Please try your Nice
Chinese Food With Chopsticks the traditional and typical of
Chinese glonous history and cultual.")
Es ist halt doch nicht so leicht mit den kulturellen Differenzen,
wenn man mehr soll, als sie einfach nur akzeptieren. Den anderen
verstehen, das kann glatt in Arbeit ausarten. Ging mir beispielsweise
auch so beim Wettbewerbsfilm KT von Junji Sakamoto. Saß
ich drin und merkte einfach: Du hast nicht annähernd
genug Ahnung von den politischen Vorgängen in Japan und
Korea Anfang der '70er, um damit wirklich was anfangen zu
können. Da müsstest Du Dich erstmal schlau machen.
Und bin dann auch nach einer langen Weile gegangen.
Oder wenn Du jetzt meinst: Wenn beispielsweise Chinesen selbst
sich mit kulturellen Differenzen zum Westen auseinandersetzen,
dann haben sie was Spannendes zu erzählen - tja, dann
bist Du da auch nur der romantischen Illusion aufgesessen,
dass die "Anderen" (so man denn aufgeklärt
genug ist, sie nicht einfach für böse zu halten)
immer entweder hilfsbedürftig oder ganz voll toller poetischer
Lebensweisheit sein zu haben. Und man ihnen nicht zugesteht,
ganz einfach genauso blöde Langweiler sein zu können
wie wir. Case in point: BIG SHOT'S FUNERAL von Feng Xiaogang.
Ließ sich so vielversprechend an - Komödie um einen
amerikansichen Regisseur (Donald Sutherland, no less!), der
in China grade an einem Remake von THE LAST EMPEROR dreht,
dabei zusammenbricht und sich vom Totenbett aus eine richtig
schön chinesische, fröhliche Trauerfeier ausbittet.
Was dann sofort eine riesige Vermarktungsmaschine in Gang
bringt. Aber nun: Der Witz ist eben, dass alle versuchen,
diese Totenfeier zu vermarkten. Und das ist der GANZE Witz.
100 Minuten lang. Sonst nix. Immer wieder und wieder: Alle
versuchen, den Tod dieses großen Mannes zu vermarkten,
ha ha! Und wieder und wieder. Und auf Dauer kann man da dann
irgendwann nicht mehr ganz so schallend drüber lachen...
Trotzdem, bei asiatischen Filmen war generell die Trefferquote
die durchschnittlich höchste. Da gab's reichlich, was
zwar vielleicht den oheimschen Erwartungen nicht bis zum Füllstrich
entsprach, aber doch die investierte Zeit maßvoll entlohnte.
Was soll's, wenn PRINCESS BLADE die intendierte Großkurve
von actionreichem Beginn zu ruhigem Mittelteil zu wieder explodierendem
Finale nicht so recht hinbekommt, weil ihm gerade in der Ruhe
schlicht die Kraft fehlte - wenn die Actionchoreographien
von Donnie Yen dafür ordentlich kickten. Was, wenn Shinji
Aoyama mit HAMA MIKU - NAMAE NO NAI MORI nicht das Gewicht
eines EUREKA auf die Waage brachte, wenn's doch so schön
verspielt, so verschroben, mit so einer schönen Titelmusik
war - und genau wusste, wie lang (bzw. kurz) das Ganze trägt.
Und (fast) egal, wenn Shunji Iwai mit ALL ABOUT LILY CHOU
CHOU den Nerv des Onkels deutlich weniger getroffen hat als
mit seinem SWALLOWTAIL BUTTERFLY (zu deutsch YENTOWN), wo
der Film es dennoch geschafft hat, genug Momente fest in der
Erinnerung zu verankern. Und klar hatten wir alle (na ja,
viele zumindest) nach seinem THE ISLE darauf gehofft gehabt,
dass Kim Ki-Duk mit BAD GUY (NA-BBUN-NAM-JA) im Wettbewerb
was hinklotzt, wo die anderen danach einfach einpacken und
heimfahren hätten können. Und mussten dann zugeben,
dass er DAS dann doch nicht geschafft hat. (Wobei die Wellen
des Hasses, die dieser Film bei nicht wenigen hat hochbranden
lassen, dann doch ebenso unberechtigt wie bezeichnend waren.
Klar, ein sperriger, ein anstrengender Film - irgendwann wird's
wirklich zu viel, wenn die Charaktere allesamt keine andere
Ausdrucks-, keine andere Kommunikationsform haben als Gewalt.
Aber eben auch ein Film, der einem dabei wirklich auf die
Pelle rückte, bei dem das Gefühl des Unbehagens
nicht rein intellektuell blieb; der einem die Hölle der
gezeigten Welt unangenehm nah und intensiv erfahrbar machte.)
Zwei Funde gab's dann (bevor wir bald zum einen ÜBERRAGENDEN
Werk des Festivals kommen), die Deinen Onkel wirklich gänzlich
für sich einnehmen konnten. Zum einen THE RULE OF THE
GAME (WA DONG REN) von Ho Ping. Wo Du jetzt wahrscheinlich
unweigerlich an Tarantino denken würdest, wenn ich Dir
von der Handlung berichtete - von wegen mehrere miteinander
verwobene Geschichten von relativ glücklosen Kleinkriminellen
und so... Wo Du jetzt aber gar nicht auf Tarantino kommen
würdest, wenn Du den Film wirklich sehen könntest.
Das hatte eine so grandiose Beiläufigkeit, war so herrlich
unaufgeregt und fern jeder gehuberten Coolness angelegt, und
hat seine (nicht unerhebliche) Cleverness keine Sekunde vor
sich hergetragen, sondern einem damit lieber immer wieder
wirklich überrascht. Ganz groß!
Zum anderen DARK WATER (HONOGURAI MIZUNO SOKOKARA), der manchem,
der sich nachher furchtbar darüber ärgerte, glatt
durch die Lappen ging. Weil (und danach brauchte man wirklich
keinen Beweis mehr für die Studienratslastigkeit des
Festivals) im Berlinale Journal dazu einiges stand von wegen
Kampf einer Frau ums Sorgerecht für die Tochter, aber
nicht so recht erwähnt wurde, dass das nur ein kleiner
Nebenstrang ist und das Ganze schlicht und einfach ein lupenreiner
Horrorfilm. Wer da nicht wo anders nachlas oder drauf aufmerksam
wurde, dass man's bei Hideo Nakata mit dem Regisseur von THE
RING zu tun hatte... tja, Pech. Und wirklich Pech, weil das
Ding wirklich atemberaubend gut funktioniert hat. Klar, sonderlich
unvorhersehbar war der Gang der Ereignisse nicht gerade, auch
wenn manches, was lange schon zu erwarten war, noch als Überraschung
sich aufbauschte. Aber die Atmosphäre - meine Herren!
Da hat es dem Onkel sogar die Gänsehaut auf den Buckel
getrieben, und das passiert ihm im Kino mittlerweile nun wirklich
selten. Da saß manch gestandener Mann dann beim Finale
drin wie ein kleines Mädchen in der Geisterbahn.
Wenn man's drauf anlegt, dann holt man aus DARK WATER freilich
problemlos mindestens ebenso viel und ebenso tiefgehende Sozialkritik
heraus wie aus den dezidierten "Problemfilmen" (um
einmal dieses garstige Unwort zu verwenden). Aber da muss
man halt vielleicht eine kleine Ecke weiterdenken als nur
bis zur bloßen Oberfläche, und, na ja: schwierig!
Deswegen halt Genrefilm nicht so gern gesehen im Programm,
weil erstmal unter Trivialitätsverdacht und so, genau
wie halt vor weiß nicht viel Jahrzehnten - was man naiverweise
für längst überwunden und evident uralten Käse
hätte halten können. Nun musstest Du Dir ja schon
im letzten Brief des Oheims Lament über die Bildungsbürgerlastigkeit
des Filmangebots auf der diesjährigen Berlinale anhören,
und dazu hatte ich als einen Erklärungsversuch den Mangel
einer zünftigen Retro angeführt. Was aber auch den
Umstand der vielen zerknirschten Sozial- und Beziehungsdramen
unverhältnismäßig stark spürbar machte
im Vergleich zu vergangenen Jahren war die drastisch geschrumpfte
Mitternachts-Schiene im Delphi. Da gab's ja bisher, getreu
dem "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen"-Motto,
immer wenigstens zur Geisterstunde Filme, bei denen es ungestraft
erlaubt war, schlicht Freude am Kino zu empfinden. Dieses
Jahr aber war dieses Angebot auf die Hälfte reduziert
- weil die bösen, bösen Hong Kong-Produzenten auf
einmal richtig Geld sehen wollten für ihre Filme. Jetzt
muss man freilich zugeben, dass ein Festival sich tatsächlich
in Nöte bringt, wenn es einmal anfängt, für
Aufführungsrechte mehr als nominelle Pauschal-Beträge
abzudrücken. Weil, nicht nur "Des ham mir schon
immer so g'macht" und "Des ham mir no nia so g'macht"
sondern vor allem halt "Da könnt ja a jeda kommen",
und dann wollen die Produzenten noch von Jahr zu Jahr mehr
und überhaupt... Andererseits: Erzähl mir keiner,
dass um die paar größeren Hollywood-Filme im Wettbewerb
nicht gepokert würde. Und dass, selbst wenn die sich
bescheiden würden, es nicht einfach um Werbung für
den kurz bevorstehenden Deutschland-Start ginge. Von asiatischen
Studios aber wird ganz selbstverständlich erwartet, dass
sie ihre Filme für mau und ohne strategischen Werbe-Wert
(schließlich haben die leider fast nie einen deutschen
Verleih) hergeben. Also nicht nur "Accept diversity",
sondern bitte auch "Maintain diversity". (Wie ein
Vorwurf klang es, als mir eine zuständige Dame vom Forum,
in dessem Rahmen die Reihe lief, erklärte, die Hong Kong-Produzenten
wollten Geld sehen "weil die Filme so poulär geworden
sind". Die trauen sich was, die Chinesen - populär
werden! Schlitzaugerte Saubuam!) Weil, sonst kommen nachher
irgendwann auch noch die asiatischen Kinder aus der Turnschuhfabrik
und wollen menschenwürdige Stundenlöhne, und dann
aber, lieber Stiefneffe, gute Nacht!
Wobei das jetzt alles auch noch immer keine Erklärung
dafür bietet, warum bei den Midnight Movies dieses Jahr
kein einziges Bollywood-Musical war. Sauerei, mit Verlaub!
Und zwar elendige!
Da fällt mir ein: Du hattest auch den Wunsch geäußert,
nicht immer nur über die Filme informiert zu werden,
sondern auch ein bisserl über den Glamour drum rum. Das
sei mir doch gleich Befehl. Nur - so richtig glamourös
war die Berlinale dieses Jahr einfach nicht, und keiner weiß
recht, warum. Wie jedes Jahr ertönte der Jammerschrei
"Zu wenig Stars," aber das stimmte schlichtweg nicht.
Stars waren reichlich da, kleine wie große, alte wie
junge, Madeln und Buben, eigentlich für jeden Geschmack
was dabei. Und auch Parties gab's wieder - gewiss nicht so
viele wie noch vor zwei Jahren zu Börsengang-Boom-Zeiten;
aber die ein oder andere Firma schien sich doch auch schon
wieder zu trauen, nicht wie im letzten Jahr fast ausschließlich
Arbeitsessen zu inszenieren. Trotzdem lag so ein allumfassender
Hauch des Arbeitsmäßigen über dem gesamten
Festival, und ein Gefühl des Nur-um-sich-selbst-Kreisens
- es schien wenig Wirkung nach außen zu dringen, nicht
einmal so recht bis zur gewöhnlichen Berliner Bevölkerung.
Es mag daran liegen, dass in der Filmwirtschaft inzwischen
die Strukturen weitgehend verhindern, dass andere als Major-Produktionen
noch irgendwen erreichen, der sich nicht wirklich aktiv ums
Kinogeschehn kümmert. Es hat sich so eine Kategorie des
puren Festival-Films herausgebildet (die, rein zahlenmäßig,
wahrscheinlich weitaus den größten Teil aller weltweiten
Produktionen umfasst), der nie außerhalb von Festivals
zu sehen sein wird - oder wenn, dann mit viel Glück irgendwann
nachts auf arte oder in den letzten paar echten Programmkinos.
Ins Multiplex aber, und damit ins leider letzte Refugium,
wo Kino noch von sich behaupten darf, ein echtes MASSEN-Medium
zu sein, schafft es nichts davon. Die wirklich Filmbegeisterten
haben sich anscheinend damit abgefunden (oder wollen das nicht
wahrnehmen), rotten sich auf solch Festivals zusammen und
bleiben unter sich; der Mainstream schämt sich seiner
Borniertheit längst nicht mehr (wenn er das je getan
hat) und lässt die Spinner selbstgenügsam unter
sich.
So verliert solch ein Filmfestival langsam jeden Anschein
von einer Kommunikationsplattform, auf der die Künstler
wirklich die große Welt erreichen mit ihren Botschaften;
auf der ein Ausstausch stattfände mit der Gesellschaft
insgesamt. Was bleibt, ist das Einholen von Soundbites, ist
journalistische Flakhilfe für die Marketingabteilungen
und eben das pure Geschäft des Filmeverkaufens.
So ist man dann schon fast froh über all die Halbdebilen
und schrägen Gestalten, die sich zwangsweise immer in
so ziemlich jeder Pressekonferenz einfinden und dort zwar
einerseits große Pein auslösen durch dumme, unsinnige
oder unverständliche Fragen, minutenlange Monologe ohne
Punkt und dergleichen mehr, die aber andererseits wenigstens
der hohlen Glätte des ganzen Prozederes ein paar Dellen
zufügen.
À propos Pressekonferenzen: Wie ja schon in meinem
letzten Epistel festgestellt, ist seit dem 11. September 2001
selbstverständlich auch auf der Berlinale nichts mehr
so wie zuvor. Was eben auch immer wieder in den journalistischen
Fragestunden zu merken war. Denn der 11. September, der war
da immer wieder ein wichtiges Thema. Also, wenn zum Beispiel
bei Tom Tykwer in HEAVEN eine Frau in einem Hochhaus eine
Bombe zündet - sofort Frage nach 11. September! Oder
wenn Terroristen vorkamen in einem Film - Frage nach 11. September!
Oder New York. Oder Männer mit Bart. Oder Männer
ohne Bart. Oder überhaupt Leute. Oder auch keine Leute.
Immer sofort: Frage nach 11. September! Auch gab es eine Dame
von einem Fernsehsender aus der arabischen Welt (ich habe
vergessen, woher genau), die in jeder Pressekonferenz, in
der sie auftauchte - auch wenn's zu sagen wir, einer französischen
Komödie war - , die Frage stellte, ob Araber im westlichen
Kino zu negativ dargestellt werden. Und was man daran ändern
könnte. Und überhaupt, Verständigung von Westen
mit Islam und so. Was unter anderem mal wieder ein schöner
Beweis für den magischen Glauben war, dass Leute, weil
sie irgendwie an einem Film beteiligt waren und nun zufällig
auf einem Podium vor einem Mikrofon sitzen, zu sämtlichen
Fragen des Weltgeschehens a priori wichtige, richtige und
interessante Dinge zu sagen haben. Und beispielsweise Schauspieler
als Quell der Erkenntnis auch in komplett nichtfilmischen
Belangen eine Autorität haben, wie sie wiederum beispielsweise
ähnlich themenfremden Supermarktkassiererinnen niemals
eignen könnte.
Bei allem Dust nach Glamour, bei allem Gemosere über
fehlende Grande Dames und Grand Seigneurs (und da muss man
sagen: Deneuve, Cardinale, Altman! Wen wollt ihr denn noch
alles?) oder heiße flavors of the month - von dem einen
unbestreitbaren, leibhaftigen Super-bis-Mega-Star vor Ort
wurde allgemein dann doch erstaunlich wenig Notiz genommen:
Andy Lau war da! Und jetzt fürchte ich, dass selbst Dir,
meinem des asiatischen Kinos nicht unkundigen und durchaus
geschmackssicheren Stiefneffen, das unter Umständen kaum
mehr als ein "Ach nett!" entlockt. Dann schäm'
Dich! Und nimm Dir ein Beispiel an den kleinen Chinesinnen,
die im Delphi waren, als Lau auftrat. Das musst Du Dir jetzt
ungefähr so vorstellen, als würden Madonna und Leonardo
di Caprio zusammen mal eben durch's Kino spazieren. Hei, das
war ein Gequieke und Gefiepe, "Mr. Lau, Mr. Lau!!!",
und ein Getatsche und Gewusel und Gefotografiere! Also, wenn's
um Enthusiasmus geht und seine ungehemmte Zurschaustellung,
da sind kleine Chinesinnen ganz groß!
Und beweisen dabei aber halt auch einfach Geschmack. Muss
man auch als Nicht-Chinese und erst recht Nicht-Chinesin neidlos
anerkennen: Andy Lau und Charisma - also da wenn der einen
Laden aufmachen würde mit abgeschnittenen Scheiben, könnte
er halb Hollywood heute ganz allein ausreichend versorgen,
und den Deutschen Film insgesamt gleich gar für die nächsten
sieben bis acht Jahrzehnte.
Nur dass das gegenwärtige deutsche Kino wahrscheinlich
erstmal gar nicht wüsste, wohin dann mit dem Charisma
- da hätte es ja gar nicht die Filme dafür. Da müsste
es mit dem Scheibenabschneiden schon viel grundlegender und
umfangreicher anfangen.
Was die Präsenz eines Andy Lau (nicht ohne liebreizendes
Zutun von Anita Mui und Sandra Ng, sei fairerweise gesagt)
aus einem eher durschnittlichen Routineprodukt noch alles
macht, das zeigte DANCE OF A DREAM. Einer von frag mich nicht
wievielen Filmen von Andrew Lau (nicht verwechseln mit Andy,
Andrew ist der Regisseur!) dieses Jahr, und wie meist bei
ihm (wenn er sich nicht gerade zu einem Ausreißer nach
oben aufrafft) solideste Unterhaltung, mit einem flotten,
freudvollen Handwerk, für das Filmemacher außerhalb
Hong Kongs wahrscheinlich sämtliche Großmütter
verscherbeln würden, welches dort aber kaum über
dem Standard liegt. Eine Tanzlehrer-Komödie - wie's dem
chinesischen Geschmack entspricht etwas zu bubbly, zu quietschfröhlich,
für unser Empfinden stellenweise schon nah an der Hysterie
vor lauter Enthusisamus, besonders der Damen. Aus Repertoire-Elementen
zusammengebastelt, ohne ewig lang an glatten Fugen zu tüfteln.
Aber eben optisch mit dem Hong Kong-typischen untrüglichen
Gespür für das absolute Grundelement des Kinos:
Die Bewegung und ihre Ästhetik. Und völlig frei
von falschen Ansprüchen, nichts heischend, was es nicht
ist, im besten Sinne "schamloses" Entertainment.
Und dazu eben mit Darstellern wie Andy Lau, bei denen das
Zuschauen einfach immer Spaß macht, allein wegen der
Grazie der Bewegung, allein wegen der Ausstrahlung, eben wegen
seines Charismas. Wenn ich Dir, lieber Stiefneffe, dann noch
berichte, dass in diesem Film unter anderem eine Szene vorkam,
in der Anita Mui und Sandra Ng Busenmassage üben (bevor
Deine jugendliche Phantasie mit Dir durchgeht: im bekleideten
Zustand, versteht sich, wir sprechen hier schließlich
von einem Hong Kong-Familienfilm!), und eine Musicalnummer
mit der chinesischen Version von "Ein Schiff wird kommen"
(nein, wirklich, der Onkel hat erst danach zum Bier gegriffen!)
- na, dann kannst Du Dir ausmalen, mit welch Glücksgefühlen
der Oheim anschließend aus dem Kino schwebte.
Was jetzt aber alles nur Vorgeplänkel war und blasse
Ahnung, bleicher Schatten und harmloser Zeitvertreib. Vor
dem EINEN, vor dem GROßEN, vor dem WAHREN, dem WIRKLICHEN
und EINZIGEN und HÖCHSTEN und HEILIGSTEN, was die Berlinale
2002 zu bieten hatte. Ich kann nicht sagen, dass es ganz unverhofft
kam - nach dessen überragenden, heroischen Trio von 1999
gedrehten Filmen (THE MISSION, WHERE A GOOD MAN GOES und RUNNING
OUT OF TIME - wie FULLTIME KILLER auch mit keinem anderen
in einer der Hauptrollen als Andy Lau!) erwartet der Onkel
von Johnnie To ja stets nur das Allerbeste.
Aber dass es dann doch so eine Offenbarung werden würde
- es hätte geheißen, die Schicksalsgötter
herauszufordern, hätte man gewagt, fest damit zu rechnen.
Wenn es nach Tsui Harks TIME & TIDE noch irgendeines Beweises
bedurfte, dass man in Sachen Action-Kino in Hong Kong schon
wieder 20 Jahre weiter ist als Hollywood, das sich seit THE
MATRIX so rührend bemüht, endlich auf den HK-Stand
von ca. 1980 zu kommen - FULLTIME KILLER lieferte ihn im Überfluss.
You want diversity? Dieser Film hatte sie tatsächlich:
Kantonesisch, Mandarin, Japanisch und Englisch wurde da im
fliegenden Wechsel gesprochen, nicht einen, sondern gleich
zwei Profikiller (im Wettstreit) gab's, quer durch ganz Asien
hüpfte der Plot, IL MARIACHI, POINT BREAK, FEAR &
LOATHING IN LAS VEGAS, LEON, THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALLANCE,
"Crying Freeman"-Manga, "Metal Slug"-Videospiel,
Beethoven, Rossini, Bach, das alles war drin und mehr, und
weil's eben kein besserwisserisches Zitatenraten war, wurde
meist gleich dazugesagt, woher man sich bedient hatte.
Da muss jetzt selbst Dein Onkel zugeben, dass er beim ersten
Sehen stellenweise überfordert war, manche Zusammenhänge
nicht sofort begriff - kein Wunder, nach zwei Wochen bebilderter
Hörpsiele, wo man bei den meisten nach dem establishing
shot für den Rest einer Szene getrost die Augen schließen
konnte, wusste man doch Schuss für Gegenschuss, wie sie
aufgelöst sein würde und wurde einem alles Wesentliche
in den Dialogen vorerzählt. Und dann dieser Film, der
einem zutraute, fast alles über die Bilder zu kapieren
- und dabei davon ausging, dass es reicht, etwas einmal gezeigt
zu haben. Wo uns Hollywood doch lehrt, dass alle wichtige
Information mindestens dreimal vorgekaut zu sein hat.
Es war definitiv ein Film für Schnellgucker, auch wenn
die unglaublich geilen (nein, ein anderes Wort tut es hier
nicht) Schrotflintenschüsse selbstverständlich gebührend
in Zeitlupe zelebriert wurden. Es war ein Film, der erstmal
von nichts handelte als dem Kino selbst, in dem auch Andy
Lau (mit Bill Clinton-Maske) im Kino sitzt, den Trailer zu
THE MISSION guckt und meint - ach, könnte unser Leben
nur so prall und spannend sein wie Film-Trailer. Der rasend
virtuos mit allem spielte, was die Kamera an Möglichkeiten
hat, der ganz und gar Genre war, in allem überlebensgroß
- und dann in zweiter Linie bittersüße Tragödie,
Film über Ruhm, Rivalität, Liebe, Einsamkeit, Legenden.
Kurzum: Es war das eine Meisterstück wirklichen KINOS,
das einem da von der Berlinale gegönnt wurde.
Und es hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können:
Viermal war es Deinem Onkel vergönnte, sich FULLTIME
KILLER an den letzten drei Tagen der Berlinale anzuschauen,
mit nie erlahmender, nein, sogar mit wachsender Begeisterung.
Sich endlich alles holend, was da zuvor knapp zwei Wochen
als mal kleines, mal riesig klaffendes Defizit in den diversen
Kinosälen gestanden war. Es war ein versöhnliches,
onkelbeglückendes, oheimbefriedigendes Ende des Festivals,
wie man es schöner nicht hätte planen können.
All's well that ends well, hat schon vor rund 400 Jahren ein
anderer Favorit Deines Onkels gesagt, und so sei das abschließende
Placet erteilt und festgestellt: Es war eine gute Berlinale.
Und das ist dann doch auch ein schönes Ende für
diesen (mal wieder, Du mögest es mir wie immer in Deinem
großen Langmut verzeihen, über alle vernünftigen
Stränge gewachsenen) Brief. Ich wünsche uns beiden
freilich, dass ein weiser Verleiher sich FULLTIME KILLER sichert
und deutsche Kinos damit begnadet. Und würde mich freuen,
auch von Dir bald wieder zu hören.
Auf dass Deine Wege stets gesäumt seien von Lichtspielhäusern
voll begeisternder Filme, und Dein Leben so spannend wie ein
Trailer,
grüße mir auch Deine Eltern recht lieb
und komm' doch nächstes Mal einfach mit auf die Berlinale,
Dein
Stiefonkel dritten Grades mütterlicherseits
Thomas Willmann |