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Es gibt Momente, da muss man sein
ganzes Leben ändern. Katrin (Karoline Eichhorn) ist soweit.
Eine normale Frau, bürgerlich, eher angepasst vielleicht,
macht auf Korsika mit ihrem Geliebten Urlaub. Es sollte sowieso
der letzte sein, doch schon früher kippt die Stimmung,
und er reist früher ab... Auf sich selbst zurückgeworfen,
erlebt Katrin eine eigenartige, trotzige Odyssee über die
Insel und vor allem durch ihre eigenen Gefühle.
Dominik Grafs DER FELSEN der am 10. Februar im Berlinale-Wettbewerb
Premiere hat, erzählt eine 'kleine' Geschichte, in der
doch alles drinsteckt. Ein Film ohne Vorbild, wild und mitreißend,
manchmal befremdend, und sicher der ungewöhnlichste und
am stärksten herausfordernde aller vier deutschen Beiträgen
im Wettbewerb. Für Graf selbst, der 1952 geboren wurde,
und nach längeren Jahren als Genreregisseur (DIE KATZE,
DIE SIEGER) im vergangenen Jahrzehnt fast nur noch Fernsehen
machte, und im Kino allein mit zwei dokumentarischen Essays
(DAS WISPERN IM BERG DER DINGE, MÜNCHEN - GEHEIMNISSE EINER
STADT) auch auf der Berlinale zu sehen war, ist DER FELSEN ein
Befreiungsschlag.
Mit Dominik Graf sprach Rüdiger
Suchsland.
artechock: Der Film MÜNCHEN - GEHEIMNISSE
EINER STADT entwickelt so etwas wie eine Theorie des Erzählens,
dessen praktischem Beispiel, könnte man sagen wir nun
in DER FELSEN begegnen...
Dominik Graf: (lacht) Sagen wir mal so: Seit dem München-Film
interessiert mich deutlicher noch als vorher diese Verbindung
von Topographie, von Orten mit Gefühlen - ob jetzt als
Erinnerung oder als Gegenwart. Wenn man einen Film über
die eigene Stadt macht, dann hat das natürlich viel mit
Erinnerung zu tun. Hier ist Korsika aber ganz und gar Gegenwart,
ein völlig neuer Ort, auch für die Hauptfigur. Schon
am Anfang, wenn Katrin ins Museum geht, und dann dieser grossen
Landkarte Korsikas gegenübersteht, sollte man das Gefühl
haben, als würde dieser Karte ein andere, innere Karte
entsprechen. Ein unsichtbares Netz von Gefühlen der Personen,
das sich über die Insel legen wird. Dazu kommt dann noch
das Netz, das die Wege der Dinge in der Erzählung über
die "Karte" spannen. Orte und konkrete Gegenstände
liefern in diesem Film also einen Ersatz für Gefühle
- wie in animistischen Religionen: ein Ring, ein Flugticket,
eine Pistole; ein Dorf, ein Panoramablick, vielleicht ein
Klang... - sie sind alle untrennbar mit Gefühlen verbunden.
Das hat ja auch eine Katalysatorfunktion, nicht? Das Sehen
des Dings lässt ein Gefühl aufscheinen. Bei Proust
gibt es das Gebäck, durch das er anfängt, sich
zu erinnern - das ist hier ähnlich. Nur nicht auf der
Suche nach der Vergangenheit, sondern in die Gegenwart gerichtet...
Ja. Die menschliche Biographie setzt sich ja oft am
deutlichsten aus einem fast willkürlichen Museum von
Gegenständen und Fotografien zusammen.
Dieses Zusammenfügen eines Lebens und eines Gefühlszustandes,
einer Gegenwart aus Fragmenten, aus kleinen Erfahrungen,
aus Dingen, auch aus den Zufällen, die einem widerfahren
- das wäre eine Kontinuität beider Filme. Eine
weitere: Der "Roman der Blicke", wie es in MÜNCHEN
heißt. Die Idee des entscheidenden Zufalls: Es gibt
Blicke die sich treffen, Sekunden später hätten
sie sich nicht berührt. Oder eine Weggabelung: Im Film
heißt es einmal: "Wenn sie jetzt den anderen
Weg nehmen würde, dann wäre hier die Geschichte
zwischen ihnen zuende." Es gibt auch den Blick von
der Burg, wo Ihre Hauptfigur das Auto ihres Ex-Lovers wiedererkennt...
Meine Hauptfigur macht im Grunde eine Entdeckungsreise
durch die eigenen Gefühle. Wenn der Film einsetzt, glaubt
sie, sie hätte eine klare Haltung zu sich selbst und
zum Leben, nämlich eine zutiefst enttäuschte Sehnsucht
nach ihrem Liebhaber. Diese Liebe geht ihrem Ende entgegen.
Am Schluß der Geschichte versteht sie dann aber, dass
sie schon lange vor dem Zeitpunkt, an dem sie glaubte, am
tiefsten Punkt angelangt zu sein - dass sie schon lange zuvor
eigentlich das Ende dieser Liebesgeschichte in sich getragen
hatte. Vielleicht hat sie sogar tief unten in sich mit ihm
viel früher Schluß gemacht als er mit ihr, wer
weiss? Denn er hat ja offensichtlich mit seinen Gefühlen
zu ihr niemals so wirklich gebrochen. Sonst würde er
nicht, nach seiner eigenartigen Odyssee über die Insel
- die ja nicht erzählt wird, nur Ihre Reise wird erzählt
- wieder zu ihr zurückkommen wollen. Wer weiß,
was er dann noch mit ihr hätte sprechen wollen...?
Das ist eine Reise, an deren Ende ihre Erkenntnis über
das eigene Gefühl steht. Eine Erkenntnis, die sie scheinbar
auch schon vorher hätte haben können. Aber erst
der Umweg über die Begegenung mit diesem Jungen ermöglicht
der Frau diese Erkenntnis. Sie ist zunächst nur geprägt
von einem: "Ich will nicht loslassen. Ich will auch nicht
diejenige sein, die hier verlassen wird. Wenn jemand hier
jemanden verlässt, dann gefälligst ich ihn... usw."
All diese Gedanken haben ihr sozusagen die Sicht vernebelt
auf das, was längst zuvor in ihren Gefühlen geschehen
war.
Und um zu einer Klarheit zu kommen, braucht sie Distanz,
muss raus aus der Zivilisation, in die wilden Berge... Sie
legt ihre bürgerliche Existenz ab. Mich hat dieses
merkwürdige Paar und der Gang in die Wildnis, den Gefühlsdschungel
in diesem Fall auch an den Film WALKABOUT von Nicholas Roeg
erinnert...
.....wo die Natur zu einem Symbol wird, ja. Die Möglichkeit,
dass der Junge und die Frau da oben in dieser Wildnis zusammenfinden
können, ist theoretisch ja größer, als unten
in der Hafenstadt, wo beide in ihren sozialen Bezügen
gefangen sind. Ich wollte dort oben auf den Bergen aber eher
eine Art Vakuum erreichen. Sie steht vor einem Endpunkt, sie
fühlt gar nichts mehr- und dies in größerer
Klarheit als alles andere zuvor. In WALKABOUT besteht die
Chance der Beziehung nur solange die Figuren in der Wildnis
sind - also genau das Gegenteil.
Sie setzen oft einen Erzähler aus dem Off ein. In
diesem Fall zwei Stimmen, einen männlichen und eine
Frau. Was hat das für einen Grund? In zeitgenössischen
Filmen kommt das relativ selten vor...
Da täuscht man sich oft. In den letzten 10 Jahren
sind die Erzähler sogar auch wieder im Mainstream-Film
oft zu finden. Zumindest am Anfang, um in die Geschichte hineinzuführen.
Und am Ende, wenn man sie wieder braucht, um Klarheit zu schaffen.
Hier soll die weibliche Erzählerin die Möglichkeiten
des Schicksalsgewebes aufzeigen. Aber sehr kalt und distanziert.
Sie legt eine anonyme Schicht sprachlich über die Geschichte
drüber. Die - was erzählt? Gefühle manchmal.
Eher Möglichkeiten. Wege. Keine Ängste und keine
Träume. Und die männliche Stimme ist in erster Linie
Übersetzer für das Französisch.
Es ist essayistisches Erzählen, ein Erzählen,
dass auch eine Distanz und eine Reflexion mit hereinnimmt,
wo Sie dem Zuschauer auch einen Teil der Arbeit abnehmen.
Was Vor- und Nachteile hat...
Ist da nicht doch noch einen deutlicher Zwischenraum
spürbar zwischen dem, was -und wie es- von der Erzählerin
gesagt wird, und dem, was man sieht? Genau in diesen Zwischenraum
soll die Phantasie des Zuschauers rein. Es hat ja auch dann
wieder seinen Grund, dass andere Momente völlig unkommentiert
bleiben.
Diese Offenheiten gibt es schon. In anderen Fällen
aber beschleunigt der Erzähler auch. Gleichzeitig führt
er den Blick des Zuschauers zu etwas hin...
Ja. Auf etwas, das zwar mit dem, was als nächstes
passiert, überhaupt nichts zu tun hat, aber was einem
trotzdem das Gefühl gibt: Was kommt da noch? Wenn ich
Geschichten schreiben würde, würde ich wahrscheinlich
ähnlich schreiben: also versuchen, alles zu registrieren,
Abwege, Möglichkeiten. Aber ganz wenig Gefühle.
Gefühle im seltensten Fall. Stimmungen. Und eigentlich
im wesentlichen Ereignisse, Wege. Keine Reflexionen.
Es liegt ja wohl auch an der relativ komplexen Struktur
aus verschiedenen Geschichten, die immer wieder zusammengeführt
werden müssen.
Es gibt einmal die Frau, die Hauptfigur, dann die beiden
Jungen. Einerseits wird die Geschichte eines Subjekts erzählt,
dessen, was ihr passiert. Andererseits geht es um die Geschichte
einer Konstellation. Was steht im Vordergrund? Hat die Konstellation,
hat der Ort Korsika in erster Linie den Zweck, als Katalysator
zu wirken, also bei dieser Hauptfigur etwas auszulösen,
wovon dann erzählt wird. Oder ist die Situation mehr,
als Mittel zum Zweck?
Das sind zwei beabsichtigte Konkurrenten. Ich glaube,
dass wir versucht haben, in diesem Widerstreit das Gleichgewicht
zu halten. Das eine ist das Erzählen einer Figur, und
das an ihr scheinbar Drankleben. Da gibt es Momente, wo die
Szenen ihr möglichst viel Freiheit lassen, in denen der
Erzähler völlig zurücktritt. Auf der anderen
Seite gibt es aber Momente, da wird diese Freiheit rigoros
beschnitten. Als würde ein determiniertes Schicksal über
ihr schweben und sagen: Du hast sowieso keine Chance. Ohne
dass Du irgendeinen Einfluß darauf hast, weben sich
die Dinge um Dich herum in eine andere Richtung als Du sie
geplant hast. Du kannst nur an bestimmten Punkten innehalten,
einen Augenblick lang eine Explosion von Gefühlen erleben.
Die junge Frau im Zentrum interessiert ja nicht in erster
Linie psychologisch. Sondern sie scheint etwas Generelles
zu repräsentieren. Ebenso die Struktur der Film-Erzählung...
Ich habe den Eindruck, dass im Moment in vielen Köpfen
Frauenfiguren herumspuken, die eine größere Form
von Selbstbestimmung behaupten, als diese Frau es in meinem
Film tut. Sie zieht sich doch sehr zurück, wirkt eher
passiv, verschwindet in ihre große Verletztheit. Sie
fühlt sich überhaupt nicht als Herrin ihres Lebens,
weder beruflich, noch privat.
Das gegenwärtige Frauenbild scheint aber doch vielfach
zu fordern, dass Frauen zumindest in punkto Gefühl grundsätzlich
besser wissen als Männer, wo es lang geht. Diese Figur
hier lässt dagegen viel mit sich geschehen und der Eindruck,
den sie dabei äußerlich macht, ist dennoch trotzig
und tough als bestünde sie geradezu auf ihrer Ziellosigkeit,
In dieser Mischung aus Schwäche und Stärke ähnelt
sie vielleicht auch der Hauptfigur in DEINE BESTEN JAHRE.
So empfinden wir - mein Co-Autor Martin Busch und ich - Frauenfiguren
zur Zeit, glaube ich. Die Zeit des Opfer-Seins ist vorbei,
aber es ist überhaupt nicht klar, wo es hingeht.
Aber sie begibt sich dann wieder in eine Situation, in
der sie wieder zum Opfer werden kann... Wo ist der Unterschied
zu Männern, was ist der Grund, dass die Hauptfiguren
Ihrer letzten Filme dann Frauen sind?
Ich glaube, dass Frauen in der Gesellschaft, in der
ich lebe, an einem vollkommenen anderen Punkt sind, als Männer.
In ihrem Selbstverständnis, in ihren Wünschen, die
sich alle gegenseitig überschneiden. Deshalb gibt es
auch bei mir so ein starkes Interesse, Frauen zu beobachten
und den Weg ihrer Wünsche sowie auch ihrer Lebenslügen
nachzuzeichnen. Die Lebenslügen von Männern sind
mir viel zu gut bekannt. Während Frauen eher dazu tendieren,
ein fast autarkes System zu bilden und sich dabei völlig
zu überfordern, scheinen Männer zur Zeit etwas an
den Rand der Rollensysteme gedrängt und gehen in altbekannter
Weise nur den Konflikten aus dem Weg.
Die Personen des Films entsprechen sehr archetypischen
Strukturen. Sie ist Mutter und Geliebte, er ein Vatermörder.
Und vor allem das zeitlose Thema "Familie"...
Wirklich wichtig war das Thema des Mutterseins. Sie
schiebt es trotzig von sich weg, wird aber am Ende darauf
zurückgeführt. Als ich begann, Filme zu machen,
herrschte die Übereinkunft, dass Familie ein veraltetes
Lebensmodell ist. Heute ist Familie - als Interessensgemeinschaft
wie als Emotionsgemeinschaft - eine zerschlissene, angegriffene
Lebensform und gleichzeitig wieder unheimlich wichtig. Alles
strebt dahin: man hat das Gefühl, Familie ist wie so
ein Fluchtpunkt in der Unendlichkeit. Auch in der Unendlichkeit
einer Illusion. Eigentlich erstaunlich.
Aber es sind gestörte Strukturen...
Natürlich. (Lacht), Gestört ist gut. Der
Junge hat schließlich seinen Vater umgebracht. Aber
im Ernst: Ich glaube, dass das Verhältnis zur Familie
an sich zerstört ist, nicht nur gestört. Alles was
davon übrig bleibt, sind immerhin Rest-Symbiosen, Elternliebe
vor allem.
Wenn Geschichte überhaupt der Wandel von Fremd- zu
Eigenverantwortung, von Natur zu Kultur ist, dann passiert
das eben auch mit der Familie: Von der naturgegebenen wird
sie zur Wahl-Verwandtschaft...
Aber wie geht das dann weiter? An den Begriff Familie
schließt sich die Vorstellung von "Zuhause"
an. Und da versteht man vielleicht, warum so eine Geschichte
nicht Zuhause spielen kann. Da gibt es zwar einen Wunsch bei
wirklich allen Figuren nach einem neuen Zuhause, aber er ist
- und bleibt- einstweilen unerfüllt.
Einerseits spielt DER FELSEN gar nicht in Deutschland,
dann aber natürlich doch: Deutsche im Urlaub, wie in
Karmakers MANILA, Caroline Links NIRGENDWO IN AFRIKA - die
Fremde bringt es heraus...
Ja, Deutsche im Urlaub unter sich. Das ist meine Version
von BALLERMANN (Lacht). Was passiert denn, wenn man Touristen
irgendwo in eine emotionale Wüste wirft? (Alexanderplatz
raus)Man bekommt die Wahrheit dort wie in einem überscharfen
Spiegel noch deutlicher geliefert. Paul Bowles hat ja vielleicht
nicht umsonst die moderne westliche Ehe in "Der Himmel
über der Wüste" auf den Punkt gebracht.
Im deutschen Kino stellt man sich Glück ja auch gerne
als Flucht vor - mit einem Koffer voller Geld und dem geliebten
Menschen abhauen...
Ja,ja, ich weiss, bloss weg hier. Dieser 80er-Jahre-Mythos,
der ja auch überhaupt nicht stimmt, nie stimmte. Denn
dieses Deutschland ist zwar sehr desolat aber dafür überall.
Und vor allem haben wir es in uns selbst. Ein anderes Zuhause
gibt es nicht mehr.
Wir wollen das aber auch nicht. Wir wollen ja nicht heimkommen,
weil Zuhause auch der Horror ist. Gleichzeitig will man es
natürlich. Man will dieses Glück, aber wenn man
dann da ist, muss man sofort wieder weg, weil man es nicht
aushält.
Jaja. Warum fährt denn auch Ralf Herforth nicht
nach Hause? Natürlich weil er sich drückt. Weil
er weiß, was dort dann auf ihn zukommt. Ich glaube,
dass ich zu einer Generation gehöre von bourgeoisen Nachkriegskindern,
von denen viele gar nicht so viel Verantwortungsgefühl
gelernt haben, dass sie in der Lage sind, mit ernsten Lebenssituationen
wirklich umzugehen.
Nun muss man natürlich sagen, dass die Eltern-Generation
vor uns auch wieder fast zu erwachsen gewesen war. In kürzester
Zeit hatten die ja das Schlimmstmögliche über die
Welt gelernt...
Das wollen wir ja auch gar nicht lernen...
Nein. Aber aus dieser Erfahrung kam natürlich
auch der ganze europäische Nachkriegsfilm, der Neorealismus
vor allem - aus diesen Irrsinnserfahrungen des Zweiten Weltkriegs
und der Zeit danach. Diesen Vorsprung an Lebenserfahrung,
den der hochgelobte europäische Autorenfilm hatte, den
können wir in unserem deutschen Kino jetzt nicht per
Dekret und schon gar nicht per Geld wieder einführen.
Wir sind wahrscheinlich eine relativ infantile, verantwortungslose
Generation von in weichen Windeln aufgewachsenen Westdeutschen,
die nicht genau wissen, was eigentlich ihr Thema ist. Dabei
ist das, was wir gerade besprochen haben, sicher eines davon:
Das Marode-werden von Zuhause und Identität und Familie.
Ich lande ja sogar in meinen Thrillern immer wieder bei diesen
Themen. Offenbar habe ich den Eindruck, dazu etwas sagen zu
können? Und zwar, dass ich nichts dazu sagen kann....dass
ich nicht die geringste Antwort habe. Keine Moral, keine Ideologie
dazu, nichts.
Man will ja keine Filme sehen, die predigen - was leider
manche jener hochgelobten Nachkriegsfilme tun.
Die guten Filme haben natürlich auch nie gepredigt.
Aber es bleibt uns sicher eine andere grundsätzliche,
extrem wichtige Frage, und zwar dass das, was der Kapitalismus
predigt - dass nämlich jeder ein extremes Anrecht auf
extremes persönliches Glück mit allem hat, was dazugehört-
dass diese Kriterien uns in unseren privatesten Wünschen
und Sehnsüchten immer mehr pervertieren. In DER FELSEN
werden diese Wünsche nach Glück ja nicht zur Debatte
gestellt. Wir sehen nur eine Frau, die sich in ihre Glücksansprüche
verheddert hat, die schwer beleidigt und sehr verletzt ist
und die lange nicht merkt, dass sie dabei ist, das nächste
Unglück auszulösen. Und wir sehen andere Glücksansprüche.....
Das Problem ist sicher, dass dieser Anspruch sehr hoch
ist: Glück zu haben und möglichst immer und überall.
Aber den Anspruch selbst finde ich richtig. Würden
Sie den wirklich infrage stellen? Würden Sie sagen:
Wir haben eigentlich kein Anrecht auf Glück?
Natürlich haben wir das, aber der Kapitalismus
predigt einen völlig debilen Begriff vom einzelnen Individuum,
das seinen Glücksanspruch mit Zähnen und Klauen
verwirklicht, nicht nur materiell. Auch in der Liebe werden
die Gesetze der freien Marktwirtschaft mit allen Mitteln realisiert.
Das war zwar immer schon so, aber die sozialen Hemmschwellen
sind abgebaut. "Weil Sie es sich wert sind" wie
es in der Werbung heisst.
DER FELSEN ist Ihre erste Kinoarbeit nach DIE SIEGER.
Sie haben ja öffentlich mehrfach gesagt, dass Sie lieber
fürs Fernsehen arbeiten, weil man da freier sei. Bleibt
es dabei?
Da ich die meisten Filme der Filmgeschichte auf dem
Fernseher gesehen habe, kann ich mit dem ganzen Unterschied
TV/Kino wenig anfangen. Solange ich mich an die Genre-Filme
halte, habe ich es im Fernsehen leichter, denn im deutschen
Kino gibt es keine Genrefilme mehr. Das Wegbrechen der deutschen
Genres - Thriller, Fantasyfilm etc.- ist natürlich fatal,
denn das Publikum sieht solche Filme eigentlich überall
in der Welt gerne.
Aber DER FELSEN ist ja nun auch kein Genre. Und ich registriere
seit ein, zwei Jahren schon, dass das Kino im unteren Budgetbereich
hier sehr wohl wieder ein ernsthafter Partner für Erzählwünsche
sein kann. Das "grosse" deutsche Kino ist in bestimmten
Gehirnen zwar derart auf Kommerzialität ausgerichtet,
dass das Ergebnis nur vorauseilender Gehorsam einem vermeintlichen
Publikumsgeschmack gegenüber ist. Und dementsprechend
wurden die meisten teuren Mainstream-Filme ja auch heftig
an die Wand gefahren.
Aber das, was wirklich gut ist im deutschen Kino, und was
deutlich auch immer besser wird, das ist fast alles eigentlich
eher eine Art kleines Fernsehspiel. Die guten deutschen Filme
kamen in den vergangenen Jahre alle aus dem Off, von dorther,
wo man sie gar nicht erwartet hat. Und bei 99 Prozent der
deutschen Regisseure kann man auch stets davon ausgehen, dass
ihnen ein kleinerer Film besser gelingt als ein größerer.
Weil ein von Weihrauch umgebener Gross-Kinobegriff in Deutschland
die Kreativität lähmt. Es heisst: "Emotionskino",
"Gefühlskino", "große Bilder"
- das ist im Grunde ja kleinbürgerliche Erbauungskultur,
es ist das Versprechen eines kulturellen 5 Sterne- Menus fürs
Gemüt. Bloss bitte nichts Subversives. Aber aus diesen
kitschigen und ebenso aus den hohlen kommerziellen KinoVersprechungen
kommen fast durchweg in Deutschland die schwächeren Filme.
Darauf sollte man hier mal langsam reagieren, finde ich.
Es gibt aber im Kino eine andere Bereitschaft zum Hingucken,
sich auf Neues einzulassen... Was erwarten denn die Zuschauer?
Die Haltung der Teenies ist ja erstmal relativ klar,
und die werden ja auch satt bedient. Aber was erwarten die
Leute sonst? Ich glaube sie erwarten viel mehr starke und
auch erwachsene Filme als die Branche das wahrhaben will.
Was macht diese Filme aus?
Zum Beispiel dass sie Lebenserfahrung ausstrahlen wenn
sie über Gefühle sprechen. Über Liebe. Über
Einsamkeit. Über Tod.... Und es müssen auch wieder
politischere Filme her. Kalte Filme, die den Ist- Zustand
der Gesellschaft eisig analysieren, die die Menschen sowohl
erschrecken als auch zum Nachdenken anregen. Auch intellektuellere
Filme.
Doch auch manchmal im Gewand von Mainstream- und Genrefilmen...
Das war ja immer meine Hoffnung. Ich habe lange versucht
über Thriller solche Geschichten zu erzählen, die
ein gemeinsames Nachdenken und Fühlen mit den Zuschauern
ermöglichen. Aber im Kino sind die Thriller in Deutschland
momentan nicht mehr möglich. Wahrscheinlich hat die Pleite
meiner "Sieger" damals auch dazu beigetragen. Selbst
schuld. Kinofilme sind teuer, und wenn je teurer ein Film,
umso mehr fordert man von einem Drehbuch, einem Projekt eine
allgemein kompatible Gefühlslage. Das führt aber
oft zu Interessenkonflikten. Die Figuren sind im deutschen
Mainstream längst zu eindimensional geworden, und wenn
es um "Sympathieträger" geht wird es bei deutschen
Drehbuchbesprechungen auch manchmal völlig absurd. Dabei
sind doch gerade die beständig zitierten Amerikaner das
beste Vorbild dafür, was für komplexe Mainstream-Charaktere
dem Publikum zumutbar sind.
Markiert die diesjährige Berlinale-Wettbewerbsauswahl,
auch Ihre Teilname, die neugeschaffene Reihe mit deutschen
Filmen so etwas wie eine Trendwende?
Wir verbinden alle mit dem Wechsel der Leitung die
Hoffnung, dass eine andere Art von deutschem Kino auch offensiv
vertreten wird. Der Blick des Auslands auf deutsches Kino
war in den letzten 15 Jahren sehr konservativ. Man erwartete
von uns nur wahlweise Autoren-Tiefsinn, Formalismus und/oder
Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit. Wenn ein Film das nicht
hatte, war er fürs Ausland zumeist uninteressant. Vielleicht
ändert sich das ein wenig. Als ich noch in Berlin gewohnt
habe, da war die Berlinale ja ein tödliches Pflaster
für alle deutschen Filme. Mal sehen.
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