KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
Berlinale 2002 07.02.2002
 
 

Toms Mondfahrt
Abheben mit Kieslowski und andere Darstellungsfragen - Notizen von der Berlinale (1.Folge)

HEAVEN von Tom Tykwer
 
 
 
 

"Ey es ist doch Wahnsinn..." Tom Tykwer sprach wieder über seinen neuen Film. "Der Zufall, Mensch!" - Ja, der Zufall. Der spielt eine ziemliche Rolle in Tykwers neuem, seinem fünften Spielfilm, HEAVEN, mit dem am Mittwoch die Berlinale eröffnet wurde. Denn das verwirrend-zufällige und doch mit mechanischer Notwendigkeit inszenierte Ineinanderspiel der Zeit - Tykwers immer wieder mit allem Pathos bedientes Thema - wird diesmal zur Quelle einer Katastrophe: Eine Bombe explodiert, und trifft nicht den, dem sie gilt, und der sie vielleicht verdient hat. Es folgt ein schwerblütiges Melodram um das Recht zur Selbstjustiz, um Schuld und Sühne.

#

Alles ist neu in diesem Jahr: Dieter Kosslick hat als Leiter Moritz de Hadeln abgelöst, der 20 Jahre amtierte. Das garantiert nicht nur eine stärkere Aufmerksamkeit für neue Filme - Kosslick war lange Jahre Chef der Filmstiftung NRW - sondern vor allem eine Klimaveränderung. Kosslick ist zunächst einmal ein gutgelaunter, offener Typ, der erst kürzlich gemeinsam mit dem Filmkritiker Peter Körte ein Buch über seine Lieblingsspeise, den Bagel verfasst hat ("Das Buch Bagel", Fischer Vlg.), und dem man den Stress auch dann nicht anmerkt, wenn es wirklich stressig ist. Ganz erstaunlich, wie dieser Mann noch am Tag der Eröffnung ansprechbar ist und Gelassenheit ausstrahlt, nichts von dem verschwitzten Tunnelblick seines Vorgängers.

#

Am Morgen sprach Kosslick noch auf einer Tagung der Produzentenlobby "Film 20". Da erklären die deutschen Produzenten der übrigen Welt, wie schlecht es ihnen geht, jammern über dumme Zuschauer, versponnene Regisseure und geizige Bankiers, und überhaupt über "die Bedingungen" und reden über alles Mögliche, ganz gewiß aber nicht darüber, dass zu schlechten Filmen ja auch irgendeiner gehören muss, der sie produziert - und das wahrscheinlich, weil er glaubt, damit Geld zu verdienen.
Kosslicks Auftritt erfüllte die Erwartungen: Gutgelaunt, intelligent, mit nicht zuviel Substanz und damit keinem auf die Füsse tretend, aber mit hohem Unterhaltungswert - damit enthüllte er schon sein Erfolgsgeheimnis. "Sind ja alles Darstellungsfragen" gab er den Produzenten mit auf den Weg, und so wie man de Hadeln lange als den Helmut Kohl der Berlinale ansah, hat sie jetzt offenbar ihren Schröder.

#

Die Gefahr liegt für Kosslick natürlich darin, dass man ihn nur als guten Verkäufer wahrnimmt, Arbeit und inhaltliche Anstrengung nicht sieht, die hinter vielem stecken. Im ersten Jahr betätigte er sich dabei vor allem als Entspannungspolitiker. Das Hickhack hinter den Kulissen habe aufgehört, berichtet Christoph Terhechte, als Nachfolger von de Hadeln langjährigem Intimfeind, dem Leiter des Internationalen Forums, der zweite neue Mann bei der Berlinale. "Es ist wohltuend, wenn man sich Gedanken über die Filme machen kann, nicht über interne Konkurrenz. Die Unsitte, sich gegenseitig Filme "wegzuschnappen", ist vorbei."
Kosslick wird gut daran tun, ein kontroverses Festival zu schaffen. Das gilt auch für den Wettbewerb. Plumper Defaitismus ist es dagegen, mit dem Argument, es gäbe nur ein Cannes und nur eine Oscarverleihung, im Wettkampf um den ersten Platz freiwillig zu kapitulieren.

#

HEAVEN als Eröffnungsfilm - das ist eher nicht dazu angetan, Kontroversen zu schaffen. De Filme erinnerte leider überraschend stark an die Filme der späten de-Hadeln-Ära. Mit etwas mehr Mut hätte Kosslick mit Dominik Grafs Gefühlsdrama DER FELSEN eröffnet, oder mit Christopher Roths Pop-Movie BAADER. Das wären wirklich Zeichen eines Neuanfangs voller Wagemut und Neugier gewesen.

#

Am Anfang macht Tom Tykwer all das, was er aufs Großartigste beherrscht: Die Inszenierung von Raum und Menschen unter Zeitdruck, das Ineinandergreifen und Verschachteln von mehreren Handlungsebenen - so entsteht Suspense, Bewegung, Kino pur. Aber nur am Anfang.

#

Auf der einen Seite ist HEAVEN ein typischer Tykwer-Film: eine romantische Liebesgeschichte, ein Paar, das allein gegen die ganze Welt steht, das seine Liebe auch als Schutzwall nimmt gegen diese Welt. Das war so bei LOLA RENNT, das war so bei DER KRIEGER UND DIE KAISERIN, und das war schon so bei seinem Erstling DIE TÖDLICHE MARIA. Nur Tykwers allerbester Film, WINTERSCHLÄFER, kam ohne diese Konstruktion aus.

#

"Das ist was für Katholische Akademien, da können die sich beim Ruminterpretieren einen runterholen." formulierte eine schwäbische Kollegin, der man einen so drastischen Satz gar nicht zugetraut hätte. Aber falsch liegt sie nicht. Tatsächlich ist der ganze Film wie die biblische Schöpfungsgeschichte von hinten gelesen: Die beiden Hauptfiguren, im weißen T-Shirt, mit kahlgeschorenem Kopf - wie zwei Engel - sieht man sie in Norditalien. Sie gehen zur Beichte - man hört "Ich war einmal untreu" (das ist schlimm), "Ich habe aufgehört, zu glauben." (das ist noch schlimmer) -, verabschieden sich von Filippos Vater, der ihnen zuvor eine Art Segen für die Ewigkeit erteilt, verbringen eine letzte Nacht zusammen, nackt unter einem einsamen Baum auf einem einsamen Hügel - längst innerlich auf einem anderen Planeten. Am nächsten Morgen folgt die Himmelfahrt.

#

"Das Kino muss sich vom Großkotzigen erholen" hat Tykwer am Sonntag in einem Interview erklärt. Nur leider hat er selbst eines großkotzigen Film gemacht: Alles ist zäh, voller Denkballast und Misstrauen gegen die eigenen Bilder, dabei aufgeblasen, mehr Bedeutung heischend, als wirklich bedeutend. Eine einzige Kitschorgie. Prätentiös und wohl auch nicht sehr intelligent. Und Tykwer scheut ganz offensichtlich vor dem zurück, was er kann. Falscher Kunswille - die größte Sünde der deutschen Filmemacher.

#

Fast scheint es, als habe Tom Tykwer, von dem man so viel erwartetet, alles verlernt, wofür wir alle ihn geliebt haben und was ihn zur größten Hoffnung des deutschen Gegenwartsfilms gemacht hat. Jeder seiner Filme seit WINTERSCHLÄFER ist schwächer als sein Vorgänger, und nun wirkt Tykwer bereits an dem Nullpunkt angekommen, den andere erst nach Jahrzehnten erreichen. Die mitunter intensiven Bilder Frank Griebes retten da nichts, ebensowenig die großartigen Darsteller, und die von Tykwer selbst komponierte Musik, die sich wie eine Soße über alles gießt, macht es nur noch schlimmer. Und voller Trauer muss man gerade, wenn man Tykwer bisher mochte, ihn gerne begleitet und verteidigt hat, zugeben, dass hier einer völlig auf dem Holzweg ist.

#

Man hätte HEAVEN gerne von Kieslowski gesehen, und mag kaum glauben, dass es dann wirklich der gleiche Film geworden wäre. Es ist das gute Recht von Tom Tykwer, er tut sogar klug daran, etwas ganz Eigenes zu versuchen, sich nicht als Kieslowski-Epigone zu gebärden. Bei diesem Film wirkt die Nennung des Namens Kieslowski allerdings wie eine Grabschändung.

#

Am Anfang sind sie noch alle vereint. Da posieren die fünf Freundinnen für ein gemeinsames Foto. Doch die gemeinsame Schulzeit ist zuende, und nun folgt der Koreaner Jong Jae-Eun in TAKE CARE OF MY CAT diesen fünf 20jährigen auf ihrem Weg ins Leben, auf dem Wechsel zwischen Geborgenheit der Jugend und dem alltäglichen "Recht des Stärkeren" in der durchkapitalisierten Erwachsenenwelt. Den roten Faden bildet die Katze, die der ersten eines Tages zuläuft, und dann auf die eine oder andere Weise weitergereicht wird. Und die immer spärlicher werdenden Treffen der fünf - Dokumente der Entzweiung, aber auch des Aufbruchs in die Wirklichkeit. Ein nüchtern-melancholisches, sehr treffendes und absolut zeitgemäßes Portrait einer koreanischen Jugend-Generation, die sich vom Ballast der Traditionen weitgehend befreit hat, und ohne Illusionen ist - und ein wunderbarer Film, einer der besten des Forums.

#

Aus Korea kommt auch der Wettbewerbsbeitrag BAD GUY, der siebente Spielfilm des jungen Regisseurs Kim Ke-duk, der bereits mit seinen beiden letzten Filmen THE ISLE und ADRESS UNKNOWN im Wettbewerb von Venedig vertreten war. Drei weitere Wettbewerbsfilme stammen aus Asien: Ein alter Bekannter ist Zhang Yimou, dessen HAPPY TIMES, ein anrührendes Drama über einen älteren Mann, der, um ein blindes Mädchen glücklich zu machen, eine Scheinwelt konstruiert. Aus Japan, dem zur Zeit wohl interessantesten und innovativsten Kinoland der Welt kommt KT von Junji Sakamoto, eine japanisch-koreanische Ko-Produktion von einiger politischer Brisanz: Sie beschäftigt sich mit der bis heute in ihren Hintergründen unaufgeklärten Entführung des südkoreanischen Oppositions-Politikers und jetzigen Präsidenten Kim Dae-Jung 1973.
Märchenhafteres garantiert dagegen Hayao Miyazakis Animationsfilm SPIRITED AWAY aus der Werkstatt des Anime-Welterfolges MONONOKE HIME.

#

"Irgendwie hab ich das Gefühl, seit die Stadt pleite ist, geht's ihr richtig gut." noch einmal Kosslick über seine neue Heimat.

#

Unter der neuen Berlinale-Leitung scheint die Aufmerksamkeit für asiatisches Kino noch ausgebaut zu werden. Neben verlässlichen Größen bietet sich dem Fachpublikum bei dem diesjährigen Filmfestival vor allem im "Internationalen Forum" mit seinem China-Schwerpunkt "Elektrische Schatten", aber auch in Wettbewerb und "Panorama", die mit einigen herausragenden Produktionen aufwarten, eine Palette des Fernost-Filmschaffens - anregende Eindrücke einer pulsierenden Kinolandschaft, die zugleich vielfältige Schlaglichter auf die sich rasant modernisierenden Gesellschaften Südostasiens werfen.

#

Nur die Mitternachtsreihe wurde erheblich eingeschränkt, hoffentlich bleibt das ein einmaliger Missgriff, nicht das Ende einer schönen Institution.

#

Das Private ist politisch. "Revolte, Phantasie & Utopie" - kaum ein Film hätte dieses Motto der diesjährigen Berlinale-Retrospektive zum Europäischen Film der Sechziger Jahre besser demonstrieren können, als Rudolf Thomes ROTE SONNE, der am Mittwochabend zum Auftakt gezeigt wurde.
Es handelt sich um eines dieser längst zum Mythos gewordenen Filmprodukte die so nur in den Spätsechzigern möglich waren, zugleich um einen unangestrengten pop-politischen Gegenentwurf zur Anstrengung der Studentenrevolte: Münchnerisch, sommerlich, leicht, eine Utopie, die aus ebenso harten wie hübschen Mädchen besteht, die eine Waffe in die Hand nehmen - das alte Rezept von John Sturges' Männerphantasie "a girl with a gun", mal ganz anders. Und damit gelang Rudolf Thome - der heute einer der ganz wenigen überlebenden Autorenfilmer ist - nicht nur ein Klassiker, sondern etwas, hierzulande sehr Seltenes: Ein deutscher Pop-Movie.

#

Die Geschichte spiegelt eine antiautoritäre Vision: Vier Mädchen leben in einer Münchner Altbauwohnung, und schließen einen Pakt: Höchstens 5 Tage lang benutzen sie Männer für die Liebe und das Autofahren, dann muss Schluß sein, und die Männer sollen mit dem Leben bezahlen. Thomas, ein alter Freund von einer von ihnen, quartiert sich nichtsahnend bei ihnen ein.
Um Liebe geht es, klar, um deren Politik, und das heißt eben auch um den Tod. Universale, zeitlose Themen, in diesem Fall aber so ganz zeitgemäß, dass man es auch heute noch angucken kann, und der Film mit den Jahren eher noch gewinnt. Denn Thome ist zwar ein Romantiker, aber einer, der sich mehr der Ironie verpflichtet fühlt, als dem Ernst, der spielt, anstatt in Sentimentalität zu baden. Daher läßt er auch keinen Zweifel, dass es in ROTE SONNE außer um Politik letztlich um nichts mehr geht, als um schöne Mädchen. Die Hauptrolle spielt Uschi Obermeier, das Schwabinchen von einst, die in den nächsten Jahren Kommunardin und Stern-Covergirl werden sollte.
Auch diese Besetzung sorgte dafür, dass ROTE SONNE heute als einer von zwei, drei Klassikern der 68er-Zeit übriggeblieben ist - das Bild eines herrlich-libertären Deutschland, dass es so leider nie gab. Revolution, eine andere Gesellschaft sagt es uns, ist ohne Hedonismus, ohne Lust nicht zu haben.
Ein Film also, der ganz einfach wunderbar ist, aber eben im Vergleich zu ZUR SACHE SCHÄTZCHEN, der für deutsche, zumal Münchner Verhältnisse auch schon ziemlich anarchisch war, ganz unbürgerlich, weswegen man ihn auch nicht im Fernsehen zu sehen bekommt, und Uschi Obermeier heute am Strand von Kalifornien Schmuck macht und immer noch Bayrisch redet, während die andere Uschi, Glas, inzwischen Hochdeutsch kann, im Oktoberfestbierzelt auftritt und Familienserien fürs Privatfernsehen dreht.

Politisch, wie gesagt, ist das Private.

#

Darum sind ehemalige, verflossene Lieben auch am Schlimmsten. Wie die zum Filmemacher Tom Tykwer, dessen HEAVEN nicht nur enttäuscht, sondern richtig wütend. Wahrscheinlich, so glaubt man jetzt, war er auch früher schon schlecht, jedenfalls nicht so gut. Genaugenommen: wenn DER KRIEGER UND DIE KAISERRIN das war, was er von David Lynch verstanden hatte, LOLA RENNT, das war, was bei der Lektüre von Heidegger und Hegel herauskommt, dann bleibt nur noch WINTERSCHLÄFER.

#

Nochmal Kosslick, Mittwochmorgen: "Das zur Abteilung prima Klima. Willkommen auf der Berlinale!"

Rüdiger Suchsland

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]