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"Vielleicht ist Tom Tykwer auch das, was Benjamin von
Stuckrad-Barre für die Literatur ist." - auch eine
Woche nach dem Eröffnungsfilm dominiert Ratlosigkeit
unter vielen Kritikern. Die Kollegin, von der der Vergleich
stammt, meint ihn positiv. Und hat recht damit. Denn auch
LOLA RENNT brachte Pop-Stimmung, frische Luft und neues Publikum,
einen anderen Stil, der sich vor allem durch das definierte,
wogegen er war. Tykwers neuer Film HEAVEN hat damit allerdings
nichts zu tun. Der definiert sich durch das, was er sein will,
und nicht schafft. Als ob Stuckrad-Barre plötzlich Thomas
Mann sein wollte, obwohl es noch nicht mal zu Thomas Bernhard
langt.
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Ganz anders Dominik Grafs DER FELSEN. Ein schwieriger Film,
der das Berliner Publikum spaltet. Ganz klar, dass Graf nicht
das Massenpublikum will, und dass er hier gegen das übliche
Wohlfühlkino ankämpft, weit mehr, als in seinen
Fernseharbeiten. Auch klar, dass manches Bild nur aus der
Not geboren wurde. Aber wer außer Graf wagt schon so
viel? Manchmal ist dem FELSEN zu deutlich anzumerken, dass
er mehr will, dass er gegen alle Flucht ins Nur-Private und
Unreife, die im deutschen Film so beliebt ist, ankämpft.
Aber dass er auf der Pressekonferenz dann gefragt wird, warum
die Bilder so unschön seien, dass Helmut Karasek seinen
einzigen Berlinale-Text ausgerechnet ihm widmet - was dann
auf andere Kollegen so wirkt, als ob "Karasek hier eine
alte Rechnung begleichen musste", dass also die Kritik
am Film dem Niveau von DER FELSEN kaum gerecht wird, hat er
nicht verdient.
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"Bei mir zuhause, da gibt es ein Spiel" - gleich
zu Beginn thematisiert der Film die Bedingungen des Erzählens:
Ein Straßenhändler am Strand von Korsika breitet
auf seiner Decke verschiedene Gegenstände aus. Wie man
die alle in einer Geschichte verknüpfen könne, sei
die Herausforderung an den Erzähler, sagt er. Es dauert
eine Weile, bis man begreift, wie disparat die Elemente, die
Graf hier zusammenbringt: Da ist ein Paar, das sich trennt.
Der Mann will wieder zu seiner Frau schwangeren Frau zurück.
Kathrin (Karoline Eichhorn) die Geliebte, mit der er einen
letzten Urlaub verbringen wollte, der zum Debakel wurde, bleibt
noch ein paar Tage da, um Abstand zu gewinnen. Tage, die zu
einer Reise ins innere Chaos werden. Deutsche im Urlaub. Manchmal
kann man an Karmakars MANILA denken, der auch ein fremdes
Land benutzte, um ein Heimatfilm zu machen und wie in einer
Laborsituation zu zeigen, dass man Deutschland immer mitnimmt,
dass man weggehen muss, um anzukommen. Im Unterschied zu Karmakar
hat Graf aber mehr Mut, das Chaos, das sich vielleicht in
jedem Leben findet, auch wirklich darzustellen.
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Denn DER FELSEN ist mitreißend gemacht. Auf Mini-DV
gedreht, zeigt der Film wilde, spontane Bilder, versucht auch
formal die Disparatheit zu bewahren, die den Gefühlen
dieser Städterin im Dschungel entspricht. Schon am ersten
Abend lässt sie sich auf ein kurzes Abenteuer mit zwei
Franzosen ein. Zuvor hat sie Malte (Antonio Wanneck) kennengelernt,
einen 17jährigen, der in einem Resozialisierungscamp
für straffällige Jugendliche lebt. Sie treffen sich
wieder, Malte verliebt sich in sie, sie kann diese Gefühle
nicht erwidern, und lässt doch Nähe zu - aus momentaner
Schwäche vielleicht, auch aus Verantwortungsgefühl.
Als Malte nach Deutschland zurückgebracht werden soll,
flieht er aus dem Camp, und gemeinsam mit Maltes jungem Bruder
fahren beide in die korsischen Berge. Dieser Weg einer sonderbaren
Dreiergruppe zurück in die Natur, in ein zivilisatorisches
Vakuum, erinnert an Nicholas Roegs 30 Jahre alten WALKABOUT
mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass hier bereits
die Wildnis selbst das Unmögliche in dieser Liebesgeschichte
offen legt.
In seinem Stil steht Graf Mike Figgis näher, der zuletzt
auch die neuen Digitalkameras benutzte, um die Einheit stiftenden
Filmbilder aufzusprengen, vom Fragmentarischen zu erzählen,
ohne ihm Gewalt anzutun. Allerdings gibt es hier zwei Erzählerstimmen
aus dem Off, die, darin manchmal Truffauts ähnlich, Zeit
raffen, die Handlung beschleunigen, Erzählfäden
zusammenfügen, und dadurch mehr Raum schaffen für
anderes, Filmischeres, für die Ruhe, die im Kino oft
fehlt. Distanz schaffen sie allerdings auch. So hat DER FELSEN
gerade in seinem Verzicht darauf, alles erklären zu wollen,
etwas Objektives, einen soziologischen Blick, nicht auf Milieus,
sondern für eine Situation. Mitunter wirkt alles daher
wie das erste praktische Beispiel jeder Theorie des Erzählens,
die Graf vor zwei Jahren in seinem Filmessay MÜNCHEN
- GEHEIMNISSE EINER STADT entwickelt hat.
So wie die Stadt darin ein von Gefühlen bedeckter Ort
war, zeichnet der Regisseur nun die Karte der Gefühlslandschaft
einer jungen Frau. Und wieder begegnet man einem essayistischen
Erzählen, das die Flüchtigkeit des Lebens und Erlebens
erfassen will, dem Zufall eine Chance geben. So wird der Text
einer nie abgeschickten, nur gedachten Postkarte vorgelesen,
ein Netz der Dinge, der Blicke und der Gefühle ausbreitet,
in dem sich die Personen verstricken. Die menschliche Biographie
als "Museum von Gegenständen." Ebenso wie die
Liebe: "In der Liebe darf man nicht lügen, sonst
verliert man sein Leben."
Mit seltener Intensität gelingt Graf ein deutscher Film,
der erwachsen ist, der die Zerschlissenheit von Gefühlen
ebenso zeigt, wie das "zerstört-sein" (Graf)
der Institution Familie - ein Film der dabei nichts hat von
dem "mit Weihrauch umgebenen Kinobegriff", den Graf
ablehnt: "das ist kleinbürgerlicher Krempel, den
man auch mit der Oper verbindet." Stattdessen führt
er uns auf eine Entdeckungsreise ins Ich.
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In der Nachbarschaft des Festivalgeländes gibt es eine
Kirche, da liegen Hängematten für Filmkritiker,
zur Entspannung. Pech nur, dass keiner Zeit hinzugehen. Im
Pressezentrum wäre das besser.
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Wieder einmal nicht rechtzeitig am Kartenschalter der Berlinale.
Jetzt bleibt nur die Ausweichvorstellung am Nachmittag, aber
da läuft ja noch... Neulich hatte man erst ein Buch in
Händen, dass sich auf ein paar hundert Seiten ausschließlich
mit dem "Filmende in der Kinogeschichte" befasst,
und überlegte, ob der Autor wohl alle zitierten Werke
trotzdem ganz gesehen, oder die Casetten immer bis zur letzten
Viertelstunde vorgespult hatte. Auf der Berlinale diskutierte
man dann mit einer Kollegin ob es - wenn schon, denn schon
- die bessere von zwei schlechten Varianten sei, zu spät
in einen Film hinein zu kommen, oder vor dem Ende hinauszugehen.
Ein Argument gab das andere, und plötzlich - hatte der
nächste Film schon angefangen. Die normative Kraft des
Faktischen nannte man das früher.
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Hans-Peter heißt der grüngelbe Kanarienvogel,
der ein bisschen Farbe in das Leben von Uwe und Ellen bringt.
Zu sagen haben sich die beiden nicht viel, Uwe verbringt den
Tag in der Imbissbude, Ellen verkauft Parfüm. Eines Tages
ist Hans-Peter verschwunden, ausgeflogen als Ellen kurz einmal
frische Luft in die "verquarzte Bude" bringen wollte.
Da sieht man dann das Paar orientierungslos auf der Suche
im riesigen Innenhof ihres Wohnblock, verloren und einsam.
Kurz darauf beginnt Ellen eine Liebesaffaire mit Chris, einem
Radiomoderator, der eigentlich mit Katrin verheiratet ist
- beide Paare sind befreundet. Zu Beginn hat man die vier
bei einem Diaabend gesehen, Urlaubsbilder wurden da gezeigt,
die gleichzeitig entlarvend sind für die alltäglichen
Mief eines deutschen Kleinbürgerdaseins, wie sie doch
Mitgefühl erregen in ihrer sprachlosen Depression und
der Sehnsucht nach mehr.
Ein merkwürdiger Sog geht aus von Andreas Dresens HALBE
TREPPE, der gestern im Wettbewerb der Berlinale gezeigt wurde,
als dritter der vier deutschen Beiträge. Zwei Paare und
eine Affaire, alltäglich vielleicht, aber damit genau
auf der Fährte jener Realität des Lebens, nicht
nur des deutschen, die man im heimischen Kino so oft vermisst.
Mit 80.000 Mark Preisgeldern und weiteren Referenzmitteln
haben Dresen und sein Produzent Peter Rommel ihren Traum von
einem Film mit ganz kleinem Team und ohne lästige Einreden
anderer verwirklicht. Ein paar Wochen lang drehte man in Frankfurt/Oder,
mit Digitalkamera und weitgehend unbekannten Schauspielern
in improvisierter, in manchem an den Dogma-Stil erinnernder
Machart. Herausgekommen ist trotzdem ein Film, der von der
ersten Minute an weiß, was er will. Distanziert führt
er seine Figuren ein, dabei fast übervorsichtig jede
Form von Voyeurismus und Bloßstellung vermeidend. Glaubwürdigkeit
ist oberstes Ziel, und so entsteht auf leichte Weise ein Gefühl
für die Traurigkeit des Verlassenseins. Mögen HALBE
TREPPE auch der letzte Wagemut und hohe Anspruch fehlen, mit
dem der zweite und nach wie vor beste deutsche Wettbewerbsfilm,
Dominik Grafs Der Felsen Publikum und Kritiker in Berlin spaltete,
so handelt es sich doch auch hier um einen preiswürdigen
deutschen Wettbewerbsbeitrag, so verbindet beide Filme doch
mehr, als sie trennt: Auch Dresen will seine Figuren objektivieren,
das Repräsentative in ihnen herausarbeiten. Dazu gebraucht
er Mittel des Dokumentarfilms, die für - manchmal fast
zuviel - Distanz zwischen Zuschauer und Story sorgen. Vor
allem aber bieten beide Filme einen je individuellen Gegenentwurf
zu jenem kunsthandwerklichen Repräsentationskino, das
im Wettbewerb auch nach Moritz de Hadelns Abgang noch immer
ab und an zu finden ist.
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KISERTESEK vom Ungarn Zoltan Kamondi ist so ein Fall. Eingeladen
wohl nur, um im Wettbewerb auch Osteuropa nicht zu vergessen,
reiht sich der Film in die Reihe der Familienstorys ein, die
zumindest die erste Hälfte des Wettbewerbs dominieren.
Ungarn in der Postwendezeit: Marci (Marcell Miklos) ist ein
Muttersöhnchen und lebt immer noch daheim. Seine Freundin
Elvira ist hübsch, aber langweilt ein bisschen. So passiert
es, dass sich Marci, ein begabter Computerfreak, der davon
lebt, dass er sich in anderer Leute Bankkonten hineinhackt,
in das Zigeunermädchen Juli verliebt, und sie ihren Eltern
für einen Sack Zwiebeln abkauft. Weil Kamondi sich nie
von seinen Klischees aus Tradition (= Zigeuner) und kalter
Kapitalismusmodernität löst, kommt dabei nur absehbare
Langeweile heraus. Auch stilistisch weicht KISERTESEK in seinem
ständigen unmotivierten Wechsel zwischen Schwarzweiß
und Farbbildern auf gekünstelte Gesten aus, wo etwas
gezeigt werden müsste.
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8 FEMMES - Francois Ozons neuer Film hat nicht nur den lakonischsten,
treffendsten Titel aller Filme die diesmal auf der Berlinale
laufen, er hat auch die großartigste Besetzung: Catherine
Deneuve, Isabelle Huppert, Fanny Ardant, Emmanuelle Béart,
Virginie Ledoyen, daneben Danielle Darrieux, Firmine Richard
und Ludovine Seigner. Allein dieser sensationelle Aufmarsch
weiblicher Superstars macht 8 FEMMES zu einem Ereignis. Zu
sehen ist eine skurrile, hochamüsante Mischung aus Komödie
und Kriminalstück, garniert mit Musical-artigen Einlagen,
die elegant mit Pop- und Schlagermusik der 50er bis 70er Jahre
spielen. Man muss erlebt haben, wie Ozon - der sich zuletzt
mit einer Filmfassung des Fassbinder-Stücks TROPFEN AUF
HEISSE STEINE und dem faszinierenden Autorenfilm UNTER DEM
SAND in die erste französische Regiegarde katapultierte
- die Deneuve zusammen mit den jungen Ledoyen und Seigner
zu Rock'n Roll singen und tanzen oder Huppert als alte Jungfer
hysterisch sein lässt, um zu verstehen, wie gut das funktioniert.
Aber nach 10 Minuten hat man es kapiert, und beginnt, sich
zu langweilen. Das ist alles sehr sehr onkelhaft; auch sehr
künstlich, und letztlich gar nicht erotisch, weil Ozon
mit seinen Darstellerinnen in dieser Hinsicht offensichtlich
gar nichts anfangen kann. Mit seinem kontrolliert übertriebenem
Spiel, running gags und vorhersehbaren Verwirrungen bleibt
8 FEMMES genialer Boulevard. Kein cineastisches Großereignis,
aber immerhin ein originelles, klug-anspielungsreiches Unterhaltungsstück,
das kaum mit einem Goldenen Bären, aber ziemlich sicher
mit manchem Zusatzpreis rechnen darf.
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Große Familiendramen, kleine Tragödien, komödiantisch-distanzierte
oder engagierte Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit
- thematisch ist das bisherige Wettbewerbsprogramm so verschieden,
wie die Länder, aus denen es stammt. Nachdem Tom Tykwers
Eröffnung mit HEAVEN sehr unterschiedliche Aufnahme fand,
und der zu Herzen gehende HAPPY TIMES des Chinesen Zhang Yimou
leider außer Konkurrenz lief, gab es wie alle Jahre
mit Annette K. Olesens SMA ULYKKER einen dänischen Film,
diesmal zwar nicht im wackeligen Dogma-Stil, aber wieder ein
gefühlsintensives Familiendrama: Gleich zu Beginn stirbt
die Mutter, die drei Kinder und der Onkel sind in Ehekrisen
verstrickt, oder lesbisch, oder haben Ernährungsprobleme,
und der herzkranke Vater steht unter Verdacht, seine Töchter
missbraucht zu haben. Am Ende, nach notwendiger Katharsis
löst sich alles in - vorläufiges - Wohlgefallen
auf. Doch die überladene Konstellation hat nur den Sinn,
wie in einem Ibsen-Drama die gesamte Condition Humaine ins
Kleine zu kondensieren - ein gelungenes Beispiel intelligenten
europäischen Kinos.
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Der bisherige Favorit der meisten Besucher stammt von dem
Schweizer Marc Forster. Der Titel MONSTER'S BALL bezieht sich
auf die letzte Nacht eines zum Tode Verurteilten vor seiner
Hinrichtung. Doch nur zu Beginn ist der Film auch eine Anklage
der Todesstrafe. Vielmehr geht es um den von Billy Bob Thornton
gespielten Henker, einen hochgestörten Rassisten aus
den US-Südstaaten, der Prototyp des autoritären
Charakters. Mutter und Ehefrau endeten durch Selbstmord. Als
sich auch sein Sohn umbringt, verändert er sich - nicht
schlagartig, sondern langsam und sanft. Plötzlich entwickelt
er nie gekannte Sensibiltät und Gefühle, die schließlich
in die Liebe zu einer schwarzen Frau (Halle Berry) münden.
MONSTER'S BALL ist ein stiller Film, der zugleich eine seltene
Sogkraft entfaltet. Er besticht nicht nur durch großartige
Schauspieler, sondern auch durch wunderbare, sanft-geschmeidige
Bilder, durch das Taktgefühl der Regie, die die Mitte
zwischen Humor und Melodram hält, den Figuren naherückt,
ohne sie preiszugeben, und in alldem an Mendes AMERICAN BEAUTY
und vor allem an Andersons MAGNOLIA erinnert - der vor zwei
Jahren sehr zu recht den Goldenen Bären gewann.
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In der Farbpsychologie steht Rot gleichermaßen für
die Liebe, wie für Aggression. Rot, die Farbe der revolutionären
Freiheit dominiert nun auch die ersten Tage der Berlinale.
Dies nicht allein, weil Festival- und Sponsorenlogo sich bis
in feinere Farbnuancen ähneln, oder weil endlich alle
Teppiche vor den Kinos ausgerollt sind um der zahlreichen
Stars zu harren, die ihr Kommen für die nächsten
Tage angekündigt haben.
An den Auslagen im Pressebereich leuchtet einem das Themenheft
einer Filmzeitschrift entgegen, das dieser Farbe gewidmet
ist. Auf ihm ist Irène Jacob aus Krysztof Kieslowskis
Film ROT zu sehen - jenem Film seiner "Drei Farben"-Trilogie,
die der Regisseur der Brüderlichkeit gewidmet hatte.
Und ganz brüderlich wird jeder Filmkritiker, wenn er
sich denn irgendwann durch die Warteschlangen der Kollegen
durchgekämpft und seine Akkreditierung erhalten hat,
dabei sogar Michael Naumann überholen konnte, der hier
vor zwei Jahren noch als Kulturstaatsminister selbst Gastgeber
war, am Ende mit einer roten Berlinale-Tasche beglückt.
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So hat der neue Berlinale-Chef Dieter Kosslick auch diese
Hürde gemeistert. "Sind alles Darstellungsfragen"
lautet eine seiner häufigeren Formulierungen, und man
möchte gar nicht wissen, was wohl andere Farbgebung bei
spöttischen Kollegen für Assoziationen ausgelöst
hätten: Lila, der letzte Versuch, Grün ist die Hoffnung,
Trauerfarbe schwarz oder romantisch-unbestimmtes Blau - das
ist Rot schon die viel glücklichere Wahl, und zudem ein
Stück Klarheit im Vergleich zu den etwas unbestimmt-schmutzigen
Mischtönen auf den Plakaten.
Das roteste Rot sah man allerdings erwartungsgemäß
im Kino, im bereits letzte Woche erwähnten Thome-Film
ROTE SONNE: Der traf sich perfekt mit einem Festival, das
den neuen Weg, den es beharrlich und gelassen beschreiten
will, zunächst einmal über eine neue Stimmung zu
vermitteln sucht, dass sich - wie Thome - im Zweifel mehr
der Ironie verpflichtet fühlt, als dem Ernst, das auch
künstlerisch spielt, anstatt in Sentimentalität
zu baden. Rot eben, nicht Schwarz.
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"Man denkt mit den Köpfen anderer. Und die Gefährten
denken im eigenen Kopf" - Alexander Kluge war spürbar
gerührt. "Irgendwann erwischt es einen" fügte
er sogleich verschmitzt-ironisch, aufkommende Sentimentalität
brechend, hinzu. Jetzt war eben er dran. Erst am Donnerstag
wird der Regisseur 70 Jahre alt, doch der Geburtstagsreigen
begann auf der Berlinale schon am Sonntag. Da zeigte das Panorama
Angelika Wittlichs liebevoll-intelligente Dokumentation zu
Kluges Lebenswerk (am 16.2. auch im Dritten Programm des BR
zu sehen). Diese erzählte nicht nur viel über Kluge
selbst, sie zeigte auch viele Freunde, und sogar der sonst
mehr als kamerascheue Jürgen Habermas hatte sich interviewen
lassen.
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Einige Gefährten waren nicht nur auf der Leinwand zu
sehen. Hannelore Hoger, Edgar Reitz, Christoph Schlingensief
waren gekommen, um wohl auch ein bisschen Solidarität
mit dem Solitär des deutschen Kinos zu bekunden. Zugleich
ein bezeichnendes Bild: Da saßen hier nachher drei der
wichtigsten deutschen Regisseure der letzten Jahrzehnte zusammen,
ziemlich genau 40 Jahre nachdem das "Oberhausener Manifest"
Papas Kino endgültig für tot erklärte. Jetzt
sind sie selbst, gegen ihren Willen, längst für
das deutsche Kino gestorben.
Der jüngste von ihnen macht Theater, Kluge produziert
seine TV-Programme und schreibt Bücher, und auch Edgar
Reitz, der das letzte Jahrzehnt vor allem damit verbrachte,
sein Projekt "Dritte Heimat" irgendwie doch noch
durch die Fördergremien zu bekommen, wird hier zwar Kinotaugliches
herstellen, sehen wird man es einmal mehr - wie zuvor "Heimat"
und "Die Zweite Heimat" - doch nur auf der Flimmerkiste.
Anderswo wäre es unvorstellbar, dass einige der besten
Regisseure eines Landes faktisch an ihrer Arbeit gehindert
werden, während Loach, Rohmer, Chabrol Saura in ihrer
Heimat einfach weitermachen können.
Symptomatisch auch die distanzierten Aufnahme, die Dominik
Grafs Wettbewerbsfilm bei manchen Kollegen fand, während
nette Boulevardkomödien wie Ozons 8 FRAUEN als cineastisches
Großereignis gefeiert werden. Nur wenige sehen offenbar,
wie produktiv die Sperrigkeit und der Mut Graf sein können,
der dem Kluges durchaus verwandt ist. "Der Moment ist
gut", sagte dieser, "für Teamwork, für
Filme zwischen den Generationen." Aber wer im deutschen
Kino, denkt heute mit Kluges Kopf?
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Auch Lasse Hallströms THE SHIPPING NEWS, die Verfilmung
von E.Annie Proulx' Roman, bot nur das Beispiel eines Kinos,
gegen das Regisseure wie Dresen und Graf anfilmen. Eingeleitet
mit der Erinnerung der Hauptfigur Quoyle an den Tag, als ihn
sein Vater ins Wasser warf, um ihn zum Schwimmen zu zwingen
(Achtung: Trauma!) wird aus dem Kopf des fast ertrinkenden
Knaben in einer manierierten Rückblende das Gesicht Kevin
Spaceys. Ähnlich geht es weiter. Denn Quoyle ist ein
lieber Narr, der seine Frau liebt, die ihn ausnutzt. Eines
Tages ist sie tot, und er muss allein für die gemeinsame
Tochter sorgen - was er natürlich ohne seine Tante (Dench)
und eine neue Frau (Julianne Moore) nicht schafft. Auch hier
erlebt man gute Menschen in gar schröcklichen [SIC!]
Familienverhältnissen. Irgendwie muss man seine Wurzeln
suchen, böse Geister abwehren, allerlei dunkle Geheimnisse
enthüllen und dabei nett sein. "Es gibt noch viel
Mysteriöse in der Welt" lautet die Moral, und wie
zur Bekräftigung ist alles erfüllt mit Skurrilitäten
wie kopflose Leichen im Meer, Boote die verbrennen und vielerlei
Seemannsgarn. Gäbe es hier nicht noch Schauspieler wie
Kevin Spacey und Judi Dench, die mit ihrem intelligenten Spiel
etwas Erleichterung bringen, würde der Druck auf die
Tränendrüsen schier unerträglich. Dem Publikum
aber gefällt das süße Kitschhandwerk Marke
Hallström (CHOCOLAT) seit jeher, im Wettbewerb hat es
nur als Starvehikel etwas zu suchen.
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Aber glücklicherweise heißt Kino auf der Berlinale
vor allem Vielfalt. Und darum freut man sich über Filme,
die wie HALBE TREPPE die Dinge einmal etwas anders machen
wollen, als es immer alle übrigen tun, über das
Bemühen um einen subjektiven persönlichen Film,
mit dem hier deutsche Regisseure sogar an die in der Retrospektive
gewürdigte Tradition des Autorenfilms der 60er Jahre
anschließen. Ganz zum Schluß hat Uwe in Halbe
Treppe zwar seine Frau endgültig verloren, aber Hans-Peter
flattert fröhlich piepend wieder zum Fenster herein.
Als wäre nichts geschehen.
PS:
Ach, ja, die Favoriten: Graf wird es nicht werden, genausoweinig
wie die Kritikerliebling 8 FRAUEN. Ziemlich gut war MONSTER'S
BAL von Marc Forster. Daran kam bisher nichts heran. Dresen,
ja wenn's ein deutscher Film werden soll, dann der. Sonst
wird er immerhin irgendwelche andere Preise bekommen. Und
die Dänen soll man nie vergessen.
Rüdiger Suchsland
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