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Unerwartete Ergebnisse zum Ende der Berliner Filmfestspiele:
SPIRITED AWAY von Hiyao Miazaki und BLOODY SUNDAY von Paul
Greengrass gewinnen zu gleichen Teilen den Goldenen Bären,
Andreas Dresens HALBE TREPPE erhält den als "Spezialpreis
der Jury" vergebenen Silbernen Bären.
Die Überraschung immerhin war gelungen. Als Mira Nair,
die indische Regisseurin und Präsidentin der Jury des
Wettbewerbs der 52. Berlinale, am Sonntag vor die versammelte
internationale Presse trat, hatte man mit vielem gerechnet.
Aber SPIRITED AWAY, das Animationspoem aus Japan und BLOODY
SUNDAY, das Politdrama aus Irland, hatten selbst in langen
Festivaljahren erfahrene Beobachter nicht auf ihrer Liste.
Dass der Goldene Bär auch noch zwischen diesen beiden
Filmen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können,
geteilt wurde, hinterließ nur noch Kopfschütteln,
kurze Augenblicke der Sprachlosigkeit, dazu vereinzelte Buhs
- dann hasteten die ersten zu ihren Computern.
Juryentscheidungen auf Filmfestivals sind - leider - immer
häufiger politische Entscheidungen. Ein Film des Gastlandes
muss unter den Preisträgern sein, die drei wichtigsten
Filmregionen USA, Ostasien, Westeuropa müssen einigermaßen
gleichberechtigt vertreten sein - so lautet das Grundmuster.
Da bleibt schon nicht mehr viel Raum für Entscheidungen,
es sei denn, eine Jury setzt sich souverän über
alle derartigen politischen Erwägungen hinweg, und versucht
stattdessen, filmkünstlerische Vorgaben zu machen. In
diesem Sinn hat die Jury der ersten Berlinale unter Dieter
Kosslicks Leitung schlicht versagt, und ist ihrer eigentlichen
Aufgabe, Zeichen zu setzen und Trends vorzugeben, nicht gerecht
geworden.
Wettbewerbsjurys sind unberechenbar. Wenn sie sich dann überdies
- wie es hier nach allem, was man hört, geschehen ist
- in keiner Weise einigen kann, kommen Entscheidungen heraus,
wie diese: Ein Urteil, das nur die Zerrissenheit von zehn
Individuen spiegelt.
Es ist das Dilemma derartiger Mammutwettbewerbe, immer Äpfel
und Birnen miteinander vergleichen, abwägen und schließlich
entscheiden zu müssen. Mira Nair und ihre Jury zogen
sich nun ganz unelegant aus der Affaire, und wählten
sozusagen die Ananas. Flucht ins Exotische. Denn beide Preisträger
sind stilistische Outsider. Während SPIRITED AWAY der
erste Animationsfilm im Wettbewerb war, seitdem bei der ersten
Berlinale 1951 Disneys CINDERELLA gezeigt wurde, ist BLOODY
SUNDAY ein fürs Fernsehen produzierter Film, der nur
unter höchst weitgefasster Auslegung der Regularien überhaupt
teilnehmen durfte.
Trotzdem verdient hat den Preis jedenfalls SPIRITED AWAY.
Hiyao Miazakis Film dürfte der hierzulande noch recht
unbekannten Gattung der Anime genannten japanischen Zeichtrickfilme
zu einem Popularitätsschub verhelfen. Dabei handelt es
sich um die Filmvariante der Mangas, jener Comics für
Erwachsene, die ernste, oft sogar düster-pessimistische
Geschichten erzählen. SPIRITED AWAY war auch für
jemanden, der zumindest diejenigen Anime kennt, die bisher
nach Europa kamen, eine spannende Erfahrung. Miazaki dürfte
manchem bereits durch PRINCESS MONONOKE in Erinnerung sein,
der vor fünf Jahren außer Konkurrenz in Berlin
lief, und erst vor einem Jahr ins deutsche Kino kam. Im Vergleich
zu diesem Ökomärchen bietet SPIRITED AWAY aber eine
erwachsenere, durch und durch japanische, surreale Geschichte
- die atemberaubende Reise eines kleinen Mädchens in
eine Phantasiewelt. "Alice im Wunderland" auf japanisch.
Dagegen dürfte die ästhetisch völlig unverständliche
Vergabe an BLOODY SUNDAY noch für Kontroversen sorgen.
Denn bei Greengrass' Film handelt es sich um eine pseudodokumentarische,
politisch anstößige, weil einseitig antibritische
Darstellung jenes Januarsonntages, an dem 1972 der Nordirlandkonflikt
blutig eskalierte, und am Ende 18 katholische Iren tot waren.
Zu politischen Märtyrern geworden, boten sie den Vorwand
für den Terror mit dem die IRA Großbritannien seitdem
überzieht. Von der IRA spricht Greengrass freilich nicht.
Steril äfft er dagegen längst ausgeleierte Protestgesten
nach, zeigt die Iren nur als gute, friedliebende und natürlich
gewaltfreie Menschen, die Briten nahezu ausnahmslos als brutale
Kriminelle, die auf Argumente nicht hören, es nicht abwarten
können, Iren wie Kaninchen abzuknallen, und ihre Verbrechen
danach vertuschen. Schade, dass in Berlin, wo ein intelligenter
Spielfilm über den Nordirlandkonflikt wie Jim Sheridans
THE BOXER einst leer ausging, nun dieses stilistisch uninspirierte
Tendenzstück prämiert wird.
In beiden Fällen vermisst man, was Kino bisher - über
alle filmhistorischen Brüche - ausgezeichnet hat: die
Fähigkeit das Publikum zu erschüttern und zu berühren.
In beiden Fällen steht der Wirkung des Films seine Technik
im Weg: Wo der Zeichentrickfilm durch die Offensichtlichkeit
seines Gemacht-seins sich der ganz undistanzierten Annährung
verweigert, wirkt bei BLOODY SUNDAY gerade seine Distanzlosigkeit,
die in seinen Mittel ausgestellte Behauptung, Wirklichkeit
pur zu bieten, kontraproduktiv. Das Urteil der Jury ist, auf
die Zukunft des Kinos bezogen, ein Nicht-Urteil.
Was von der Berlinale wirklich 2002 bleiben wird, ist dagegen
anderes. Zum einen ein paar Filme, die tatsächlich erschütterten,
faszinierten oder zumindest glänzend unterhielten.
Zur ersten Gruppe gehört MONSTER'S BALL. Der Titel bezieht
sich auf die letzte Nacht eines zum Tode Verurteilten vor
seiner Hinrichtung. Doch nur zu Beginn ist der Film des in
Ulm geborenen, in den USA lebenden Schweizers Marc Forster
auch eine Anklage der Todesstrafe. Vielmehr geht es um den
von Billy Bob Thornton gespielten Henker, einen hochgestörten
Rassisten aus den US-Südstaaten, der Prototyp des autoritären
Charakters. Mutter und Ehefrau endeten durch Selbstmord. Als
sich auch sein Sohn umbringt, verändert er sich - nicht
schlagartig, sondern langsam und sanft. Plötzlich entwickelt
er nie gekannte Sensibilität und Gefühle, die schließlich
in die Liebe zu einer schwarzen Frau (großartig: Halle
Berry) münden. MONSTER'S BALL ist ein stiller Film, der
zugleich eine seltene Sogkraft entfaltet. Als nahezu einziger
Wettbewerbsbeitrag weicht er menschlichen Abngründen
nicht aus, sondern macht sie zum Thema. Der Film besticht
nicht nur durch großartige Schauspieler, sondern auch
durch wunderbare, sanft-geschmeidige Bilder, durch das Taktgefühl
der Regie, die die Mitte zwischen Humor und Melodram hält,
den Figuren naherückt, ohne sie preiszugeben, und in
alldem stark Paul T. Andersons MAGNOLIA erinnert.
Nahe ging auch Robert Altmans tiefgründige Gesellschaftssatire
GOSFORD PARK: Ein großartig inszeniertes Ensemblestück,
das den Wettbewerb wohl gewonnen hätte, wäre es
nicht außer Konkurrenz gelaufen. Zumindest sehr gute
Unterhaltung bot Francois Ozons 8 FEMMES.
Momentaufnahmen vom Stand der Dinge zeigten Dominik Grafs
DER FELSEN, der viel wagte, und darum manche überforderte.
Das kann man Andreas Dresens HALBE TREPPE nicht nachsagen,
der weit weniger wagte, dem dieses Wenige aber perfekt gelang,
und der darum zu einem der Lieblinge von Publikum und Kritik
wurde, die es in jedem Festival gibt.
Auch BAADER muss hier erwähnt werden. Kein Film des
Wettbewerbs erregte derart die Gemüter. Die einen mäkelten
daran herum, dass sich Regisseur Christopher Roth eine Freiheit
im Umgang mit Historischem nahm, die in Literatur (vgl. "Der
Name der Rose") und Theater (vgl. "Richard III.")
zwar selbstverständlich ist, im Film aber immer noch
vielen sauer aufstößt. Den anderen war der großspurig
als Pop-Phantasie angekündigte Film dafür zu wenig
Pop. Wer ihn verteidigte, verwies auf die Bilder, auf den
Grundentwurf, auf das Gespür für Zufälle und
Möglichkeitssinn, dass den Film bestimmt. Was jedenfalls
für BAADER spricht, ist, dass sich über keinen Film
auch nur annährend so gut streiten ließ, wie über
ihn - allenfalls noch über Ozons unerotischen Frauenfilm.
Der Deutsche Film ist unter dem neuen Berlinalechef Dieter
Kosslick und der neugeschaffenen Reihe "Perspektive Deutsches
Kino" also besser repräsentiert - und, wie zumindest
der eher schwache Wettbewerb suggerierte, durchaus konkurrenzfähig.
Doch die Berlinale ist viel mehr. Einen letztlich stärkeren
Eindruck als der Wettbewerb hinterließen die anderen
Reihen: Das "Internationale Forum", mit seinem verdienstvollen
China-Focus, der ganz neue Einblicke, auch in die sozialen
Zustände des Reich' der Mitte eröffnete, und darüber
hinaus auch mit anderen asiatischen Filmen glänzte, etwa
FULLTIME KILLER, Johnnie To's Killerballett aus Hongkong.
Die Retrospektive zum Film der Sechziger Jahre, die mit ihrem
Aufbruchsgeist und ihrer aus Unschuld geborenen Genauigkeit
und Offenheit des Hinsehens zeigte, was dem europäischen,
allen voran dem deutschen Film der Gegenwart fehlt - Ausnahmen
wie die genannten deutschen Wettbewerbsfilme bestätigen
die Regel.
Und vor allem das Panorama, dass wie schon im vergangenen
Jahr belegte, dass es sich vom einstigen Resteverwerter zu
einer hochinteressanten Sektion gemausert hat, die ähnlich
wie die "Une certaine regard" in Cannes und das
"Cinema del presente" von Venedig im Vergleich zum
mitunter sterilen Repräsentationskino des Wettbewerbs
die oft interessanteren "großen" Filme bietet.
Diesmal gefielen dort neben den bekannt starken Asiaten vor
allem die Franzosen: Jacques Audiard gelang mit READ MY LIPS
eine außergewöhnliche Erfahrung: Zuerst erscheint
alles wie das still-intensive Portrait einer alternden jungen
Frau. Man spürt, das irgendwas nicht stimmt, begreift
aber erst nach 10 Minuten, dass sie taub ist. So geht es weiter.
Und unter der Hand wandelt sich der Film zu einem Hitchcockhaften
Thriller.
Ähnlich subtile Spannung und noch mehr Sensibilität
für seine Figuren bot auch DANDY von François
Armanet. Er beschreibt das Leben von Pariser Großbürgerkids
Mitte der Sechziger. Mit viel Aufmerksamkeit für Details
entsteht keine nostalgische Feier der Revolte, sondern die
bittere Diagnose von Verklemmtheit. Im Zentrum steht ein Junge,
der unfähig ist, sich aus seiner selbstgewählten
Isolation zu lösen - bonjour tristesse und Bürger-Kritik
a la francaise.
Schließlich die großartige Komödie CHAOS
von Corinne Serreau. Sie elektrisierte mit ihrer hysterischen,
von der Handkamera zusätzlich beschleunigten Geschichte:
Ein Pariser Bürgerpaar mit erwachsenem Sohn gerät
aus der Bahn, als beide durch Zufall Zeuge werden, wie eine
junge Hure zusammengeschlagen wird. Während der Mann
feige wegläuft, kümmert sich seine Gattin um die
junge Frau, eine Algerienfranzösin, wodurch für
sie alles anders wird - sarkastische Bourgoisie-Kritik a la
francaise.
Einer der schönsten Filme in diesem Jahr war die Dokumentation
LOST IN LA MANCHA von Keith Fulton und Luis Pepe: Sie erzählt
vom seit Jahren geplanten großen Don Quixote-Projekts
des Regisseurs und ehemaligen "Monty Python"-Mitglieds
Terry Gilliam. Es hätte der aufwendigste europäische
Film aller Zeiten werden sollen, scheiterte aber nach dem
fünften Drehtag grandios an zu wenig Geld, der Krankheit
des Hauptdarstellers Jean Rochefort und einem noch nie dagewesenen
Hagelsturm, der im August 2000 über die kastilische Wüste
und hereinbrach, und einen Großteil der Ausrüstung
des Filmteams zerstörte.
Faszinierende Einblicke und gerade in ihrer entlarvenden
Offenheit eine große Hommage an die Freude des Filmemachens.
Denn im Prinzip ist jeder Film ein quixoteskes Projekt, dessen
Gelingen zunächst einmal nur staunen lässt, wie
das möglich war. Am Ende weckt der Film vor allem Sinn
für die Leidenschaft die nötig ist, damit auch auf
der Leinwand jene Intensität erzeugt wird, die erst gute
Filme möglich macht.
Der neue Leiter Dieter Kosslick wird gut daran tun, ein kontroverses
Festival zu schaffen. Das gilt auch für den Wettbewerb.
Plumper Defaitismus ist es dagegen, mit dem Argument, es gäbe
nur ein Cannes und nur eine Oscarverleihung, im Wettkampf
um den ersten Platz freiwillig zu kapitulieren, sich künstlich
klein zu machen. Auch Überlegungen Einzelner, die beiden
letzten Festivaltage abzuschaffen, zeugen nicht nur von Intoleranz,
sie belegen auch, dass hier nicht verstanden wird, wozu ein
Festival dient: Die Berlinale ist das zweitwichtigste Filmfestival
der Welt, auch weil sie mit über 400 Filmen einen repräsentativen
Querschnitt des Weltkinos bietet, weil sie nicht nur aus dem
Wettbewerb (der auch nicht schlechter war, als der von Venedig),
sondern dem schier unausschöpflichen Angebot der Nebenreihen
besteht.
Dass es ausgerechnet Charlie Chaplins Klassiker DER GROSSE
DIKTATOR war, der gestern Abend zum Berlinale-Abschluß
lief, sollte nicht programmatisch missdeutet werden: Mit Kosslick
ist ein demokratischerer Geist und mehr Transparenz in das
zweitwichtigste Filmfestival der Welt eingezogen - und ein
wenig auch von der Ironie, die Chaplin auszeichnete, von der
Leichtigkeit, mit der sich dieser dem schweren Thema der Nazi-Diktatur
annahm, deren Sprüche und Bombast lächerlich machte.
Noch glänzt lange nicht alles, was Kosslick ist. Aber
ein Anfang ist getan, Wandel ist spürbar. Wenn noch die
Filme und ihre Jurys etwas besser wären, gäbe es
wenig Grund zur Klage.
Rüdiger Suchsland
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