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Berlinale 2002 14.02.2002
 
 

"Revolte, Phantasie, Utopie"
Zur Retrospektive

Godards PIERROT LE FOU
 
 
 
 

"Revolte, Phantasie, Utopie" heißt das Motto der Retrospektive 2002 und man trifft in diesen Tagen kaum jemanden in Berlin, der nicht ins Schwärmen gerät.

Die Reihe beginnt mit PIERROT LE FOU (1965) gleich hochreflektiert, vergeblich sucht man den verklärenden Blick auf das 60´s-Feeling. Godards Film scheint Anfang, Mitte und Geburt des Endes der Ära gleichermaßen zu sein. Die Geschichte dreht sich um Ferdinand, Poet mit Hang zur Melancholie. Er trifft im Familienappartement seinen Babysitter Marianne und eine gezwungene Stehparty weiter zieht er mit ihr um die Welt, klaut, lügt, flieht. Der Ausbruch aus dem bürgerlichen Wirtschaftswunder, ein Merkmal, das fast alle Filme der Retrospektive in sich tragen. Der Weg in die Utopie, das Leben neben und entgegen den Konventionen. Auch formal. Mit jedem neuen Bild, jeder Szene schneidet Godard der Konvention Grimassen, ganz Vertreter der Nouvelle Vague, die Vichy und Marcel Carné nie vergessen hat und gerade deshalb jetzt die alten Standards überschwemmt.

PIERROT LE FOU ist von allem etwas, man findet Hitchcock, die amerikanische Farce. Ein Film der explodiert an den Ideen seines Regisseurs (und ist deshalb schwer zu fassen), irgendwo zwischen Programmkino, Musical und Krimikomödie. Samuel Fuller ist als Gast auf der Party zu Beginn anwesend, gibt sein "Film is a battleground" als Small Talk zum Besten. Dies ist einer von vielen kleinen Sprüngen und Gedanken, die den kausalen Zusammenhang immer wieder erschüttern. Der Krieg, politische Verhältnisse sind nur Randerscheinungen, Motive im Halbschatten der individuierten Liebe. Nur ein Unbehagen ist zu spüren. Mariannes Wohnung zeigt sich vollgestopft mit Waffen, ein toter Mann liegt auf ihrem Bett (nicht, dass das narrative Folgen hätte, dazu vertraut Godard einfach zu sehr auf sein Publikum, das schon seine eigenen Schlüsse ziehen wird), ihre Sehnsucht richtet sich immer wieder auf den untergetauchten Bruder (man wird nicht erfahren, ob es ihn wirklich gibt), der angeblich irgendwo sein Leben als Guerillakämpfer fristet. Es müssen keine monströsen abstrakten Subtexte geschaffen werden, um einen Hauch von Krieg spürbar zu machen. Zeitweilig gruppiert der Film sein Treiben einfach um ein Schlachtschiff herum, das irgendwo, verschwindend klein im Hintergrund, im Hafen vor Anker liegt. Die polizeiliche Gewalt, die die Helden unserer Bonnie und Clyde - Geschichte angeblich in den Knast befördern will, ist immer nur eine behauptete Größe. Ferdinand und Marianne scheitern letztlich an sich selbst statt an einer irgendwie gearteten Form des Staatsapparates. Die misslungene Selbstinszenierung im Vakuum eines versorgten und gesicherten Lebens.

Der Werther sei sein Lieblingsbuch, hat Godard von Zeit zu Zeit verlauten lassen und PIERROT LE FOU scheint ein komischer Kommentar auf die Leiden von Goethes jugendlichem Liebhaber zu sein. Am Ende hat Ferdinand Marianne erschossen und wählt für sich selbst den Freitod. Nachdem es schon viel zu spät ist, die zwei Reihen Dynamit, die er sich um den Kopf gewickelt hat kurz vor der Explosion stehen, merkt er, dass alles nur ein bedauerlicher Irrtum war. Der amour fou des Dichters mit seiner Geliebten Marianne, die sich aus ihrem Kokon zu befreien und in eine totale femme fatale zu verwandeln scheint, entpuppt sich als künstlich, als selbstgemacht. Wie heißt es doch in NOUVELLE VAGUE (1990)? Der Mann trägt seine Tragödie in sich, die Frau könne ihn vielleicht töten, mehr nicht...

Die Revolte ist aufregend, aber dauerhaft kann sie nur in der Kunst sein. Ferdinand sitzt erfüllt (so erfüllt, wie es einem Mann seines Kalibers möglich ist) am Strand und will ein Buch schreiben, während Marianne im verfallenen Idyll, in dem die Figuren gestrandet sind, einfach nur noch langweilig ist. Ihrer Seele dürstet es nach Musik, Liebe und Leben, seiner einfach nur nach noch mehr Büchern. Der alte Streit zwischen dem Körper und dem Geist.

Man kann die Filme der 60´er gut mit den Deleuzschen Begriffen von beliebigem Raum und Milieu beschreiben. Wobei PIERROT LE FOU zur ersteren Kategorie gehört. Raoul Coutards Technicolor Kadrierungen katapultieren Ferdinand und Marianne ein ums andere Mal in den abstrakten Raum der Poesie, des Überwirklichen. Das Milieu verschwindet. Die Innenräume bleiben karg, die leeren Wände dominieren die Interieurs. Alles scheint Aufbruch zu sein, Heimatlosigkeit, entgegen der schweren Holzschrankwände einer bürgerlichen Kindheit. Das Leben ist eine Baustelle.

Wie in ROTE SONNE, Rudolf Thomes 1969 bis 70 in München gedrehtem Film, der einen grotesken Beitrag zum Kampf der Geschlechter abgibt. In der Hauptrolle Uschi Obermaier (die vor allem als Uschi Obermaier glänzt und deren Hang zum An- und Ausziehen an Marlene Dietrich in ihren besten Zeiten erinnert). Mit ihren drei Mitbewohnerinnen hat sie den Entschluss gefasst, dass alle Liebhaber, den eine der Frauen länger als fünf Tage hatte, umgebracht werden müssen. Die Situation ändert sich als der Gammler Thomas ("Ich hab´ so einen kaputten Charme, der einfach unwiderstehlich ist.") ins WG-Leben tritt und drei von fünf Amazonen ihre Standhaftigkeit verlieren. Der Antagonismus zwischen Idealismus und Liebe, wiederum ein beliebtes Thema der 60´er. Der bewaffnete Kampf, der Terrorismus bleibt Randerscheinung. Bomben werden im heimeligen Wohnzimmer im Do-it-yourself-Verfahren gebaut, nicht aus innerer Überzeugung, eher aus Langeweile und Spieltrieb. Es zieht die Figuren in die Ferne. Wie Marianne und Ferdinand Paris verlassen um an der Küste ihr Glück zu suchen, will Thomas München verlassen und mit seiner Geliebten in Richtung Marokko verschwinden. ROTE SONNE endet in einem grotesken Shoot-Out am Ufer des Starnberger Sees. Idyllisch und vor allem tot liegen die Protagonisten voller Hoffnung im Licht der aufgehenden bayerischen Sonne.

Das Schauspiel ist teilnahmslos bis apathisch (was ROTE SONNE seine witzigen Momente gibt), deutsche Schule und Alexander Kluge als Vorbild. Der Film marode nachsynchronisiert, in den seltensten Fällen lippensynchron, was die Personen nur noch weiter von ihren Texten entfernt.

Gesteigert wird die Brechtsche Variante der Schauspielführung in Jean-Marie Straubs MACHORKA-MUFF (1962) und NICHT VERSÖHNT ODER ES HILFT NUR GEWALT WO GEWALT HERRSCHT (1964/65). Es dominiert das "Zeigen" und "Zitieren" der Rolle, die Distanz zwischen Schauspieler und Rolle. Die Einstellungen bleiben an ihren Anfängen, vor der Bewegung der Figuren, immer ein bisschen (zu lange) stehen, was den Filmen ihren pädagogisch-langatmigen Anstrich gibt, die Charaktere finden sich eingepresst ins Korsett von Kunst und Theorie. Straub verzichtet darauf, seinen Weg zu Ende zu gehen und den gestisch-mimischen Beitrag seiner Schauspieler durch Masken auf den Nullpunkt zu führen. Deshalb oszillieren diese zwischen Rolle und Starre und lassen den Zuschauer unidentifiziert ein ums andere Mal allein im dunklen Saal sitzen, nehmen ihn nicht mit auf die Reise ins Innere der Poesie wie PIERROT LE FOU. Sie referieren ihr Thema, die Spurensuche nach den Resten der Nazivergangenheit in der BRD. Straub entscheidet sich für die literarische Form, in endlosen Bewegungen fährt die Kamera über Zeitungstexte. In GEWALT... findet sich eingearbeitetes Wochenschaumaterial, wie in LES CARABINIERS (1963), jedoch ohne die tänzerische Leichtigkeit Godards, der das Zelluloid bis zur Auflösung verdreckte, um Homogenität zwischen Found Footage und eigenem Material herzustellen.
Straubs Filme zeigen viel vom Milieu, dem Zeitgeist der BRD und haben so ein bisschen dokumentarischen Charakter. Im Gegensatz zu Polanskis MESSER IM WASSER (1961/62), der schon alle Zeichen des späteren amerikanischen Exils seiner Regisseurs in sich trägt. Der Pole inszeniert ein Dreiecksverhältnis zwischen einem Sportreporter, seiner Frau und einem jungen Mann, den diese als Anhalter am Straßenrand auflesen und später zu einer Bootspartie einladen. Das Setting bleibt beliebig, Yacht auf einem See, die Ikonographien reichen von christlichen Bezügen bis zu den Großaufnahmen Hollywoods. Die großen Themen ziehen sich durch den Film, der Kampf der Generationen, der Verrat. MESSER IM WASSER wurde von der Zensur kurz nach dem Start in den Kinos gleich wieder abgesetzt (hauptsächlich wegen des offenen Endes) aber die politischen Bezüge lassen sich heute kaum mehr nachvollziehen.
Der Drehbuchautor Jerzy Skolimowski ging später in den Westen und inszenierte eigene Filme, einer von ihnen, LE DÉPART (1966/67), lief ebenfalls im Rahmen der Retrospektive. Ein frecher, schneller Film um einen jungen Mann, der sich dringend einen Porsche besorgen muss, mit dem er an einem Rennen teilnehmen will. Man sieht dem Film zu jeder Zeit an, dass er in Brüssel mit französischen Schauspielern gedreht worden ist, weil die Revolte als Selbstzweck, als l´art pour l´art mit unglaublicher Leichtigkeit inszeniert ist. Der Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud trägt den Film fast im Allengang, immer für einen Ausraster, eine Explosion aus der Handlung heraus, gut. Ein hungriger Charakter, ganz Lebensgier, Aktion, Tempo. Seine Nummern und die kleinen Wendungen des Drehbuchs machen die Schönheit des Films aus. Ohne konstruiert zu wirken schafft es der Film am Ende Léaud, sein Mädchen und einen Diaprojektor in ein Hotelbett zu stecken. Die Charaktere nehmen ihren Lauf durch die Photographien ihrer Mannequinvergangenheit, ein wunderschönes Bild, dass sich einfach spontan aus der Handlung heraus entwickelt, nicht aufgesetzt wirkt. Es gibt ruhige Passagen, wenn Léaud und das Mädchen am Morgen, nach einer allzu langen Nacht müde und erschöpft auf dem Motorroller nach Hause fahren.
Der Held verpasst sein Rennen und hat sich für die Liebe entschieden, eine letzte Großaufnahme und das Zelluloid, das sein Gesicht trägt verbrennt, wie das in Ingmar Bergmanns PERSONA (1966).

Die 60ér zeigen einfach einen Reichtum an Geschichten, Genres und formalen Innovationen, wie es heute kaum mehr zu finden ist. MR. FREEDOM (1968/69) von William Klein ist grotesker B-Film-Klamauk und thematisiert die Furcht vor der "roten Bedrohung". Der namensgebende Titelheld, der aussieht wie eine Mischung aus Captain America und einem Footballspieler wird nach Frankreich versetzt, weil der einheimische Superheld "Captain Formidable" von "Red China Man" niedergemetzelt wurde und Frankreich nun in die Hände der Kommunisten zu fallen droht. Am Ende versucht Herr Freiheit das Land zu retten indem er es zerstört und der Film entpuppt sich als Persiflage auf den amerikanischen Imperialismus, der noch immer versucht hat als "Hilfsaktion" daher zu kommen.

Dazu noch die Kurzfilme aus jener Zeit. SELBSTSCHÜSSE (1967) von Lutz Mommartz, ein einfaches aber effektives Spiel mit der beweglichen Kamera. Der Regisseur filmt sich selbst auf einer Wiese, rennt über das Gras, wirft die Kamera in die Luft. Eine Achterbahnfahrt. DER GOLDENE SCHUSS (1968) von Winfried Parkinson, der seinen Regisseur in der Badewanne und anderen alltäglichen Situationen zeigt. Dazu wird in Form von Voice-Over in endlosen Widerholungen abgespult, dass der Film doch nur für sich selbst werben würde und das man ihn doch kaufen soll ("Dieses Film ist ehrlicher als alle anderen Filme. Zeigen sie diesen Film ihren Freunden. Wenn er ihnen nicht gefällt, versuchen sie diese zu überzeugen, dass dies ein guter Film ist"). Es sind sympathische Selbstinszenierungen, weil immer im Bewusstsein um den eigenen Narzissmus. Vor allem May Spils parodiert in ihren Kurzfilmen die Boheme-Ambitionen ihrer Generation (nach dem Motto aus MANÖVER (1966): 25 Jahre alt und noch nichts für die Unsterblichkeit getan"). Auf dem Höhepunkt ihrer Kunst ist sie bei der Beobachtung der Gestalt eines Gammlers in ZUR SACHE SCHÄTZCHEN (1967), der sich unbeeindruckt von allem durch München bewegt.

Es ist dieses Treibenlassen, die Lust an Uneffizienz und Abschweifen, die die Filme ein Stück weit typisiert und ihnen ihren Charme und ihre Schönheit verleiht. Interessant ist es vor allem die alten Filme im Kontext der neuen zu sehen. KLASSENFAHRT von Henner Winckler erzählt die Geschichte einer neuen Generation von Jugendlichen. Berliner Schüler auf Klassenfahrt in Polen, ein melancholischer, ruhiger Film, der in seinem Minimalismus viel über die Gegenwart zu sagen weiß. Im Drehbuch gab es keine Dialoge für die Nebendarsteller und so reduzieren sich die Gespräche auf ein "Boah, Alter, krass...", ein Sprechen ohne etwas zu sagen zu haben. Der "Fehler" des Films ist irgendwo bezeichnend für eine gewisse Form der Jugendkultur. Die Hauptfigur ist in sich vergraben, passiv, isoliert, ein Außenseiter, ein Schweiger, der seine Nächte lieber mit einsamen Strandspaziergängen denn mit wilden Partys verbringt. Es zeigt sich die bereits domestizierte Form der Revolte, kleine Ausbrüche (den Höhepunkt bildet schon ein Aufstand gegen die polnische Museumsführerin). Die Konfrontation, der Konflikt zwischen den Institutionen Lehrer und Schüler findet kaum mehr statt, die Gewalt der Autorität braucht nicht eingreifen, weil es kein ernstzunehmendes Rebellentum gibt. Die Schüler kreisen hauptsächlich um sich selbst, jeder Schritt neben das Konventionelle wird a priori begleitet von Schuldgefühlen, man weiß, was sich gehört. Die Figuren finden sich ein in den Kreisverkehr um die Mitte der Selbstdisziplinierungen, ohne die Fluchtlinien zu entwickeln, die die 60´er noch aufmachen konnten. KLASSENFAHRT braucht gar nicht mehr zu erzählen, weil es nicht mehr zu erzählen gibt. Die Figuren wollen irgendwie "reinpassen", dazugehören, von dem Mut in den 60´ern, den Irrationalitäten, der Verschwendung, ist nichts mehr zu spüren.

Conny Walters FEUER UND FLAMME (der zwar schon diesen Sommer in den Kinos war aber auf der Berlinale noch einmal im Rahmen der deutschen Reihe der Export-Union gezeigt wurde) versucht sich am Spektakulären, an den ganz intensiven Gefühlen und ist ein gutes Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Der Film will großes Kino sein und scheitert immer wieder an den eigenen Ansprüchen. Die Perfektion des Looks, der Kamera, der Effizienz des Drehbuchs, das von einem Höhe- bzw. Tiefstpunkt zum nächsten schneiden will, erstickt jedes Leben, dass sich in der Geschichte einer Liebe zwischen zwei Jugendlichen in Ost und West hätte entwickeln könnte. Wo in den 60´ern die Kamera selbst immer wieder über die Improvisationen der Charaktere zu staunen scheint herrscht hier der eiskalte, sterilisierende und zügelnde Blick der Überambition auf die versuchte Revolte. Captain, ein Punker aus der DDR wird zusammen mit seinen Freunden vorgeführt als pittoresker Anarcho-Hühnerhaufen (und jeder wollte von Anfang an immer nur das Beste...), die Gruppe schaut dem kleinen Vampir ähnlicher als ihrem Idol Sid Vicious. Verkäuflich sollte der Film wohl werden, ein Kunststück, und ist dann nichts anderes als ein weiteres Kapitel im Ausverkauf. 100 Minuten Film und nur ein schönes Bild (Captain und sein Mädchen im Bett, Großaufnahme einer Hand, die suchend durch einen hellen Spot greift, der Staub glitzert wie Plankton und die Einstellung wirkt, als wäre sie im Mutterleib aufgenommen) ist dann doch zu wenig.

André Grzeszyk

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