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"Revolte, Phantasie, Utopie" heißt das Motto
der Retrospektive 2002 und man trifft in diesen Tagen kaum
jemanden in Berlin, der nicht ins Schwärmen gerät.
Die Reihe beginnt mit PIERROT LE FOU (1965) gleich hochreflektiert,
vergeblich sucht man den verklärenden Blick auf das 60´s-Feeling.
Godards Film scheint Anfang, Mitte und Geburt des Endes der
Ära gleichermaßen zu sein. Die Geschichte dreht
sich um Ferdinand, Poet mit Hang zur Melancholie. Er trifft
im Familienappartement seinen Babysitter Marianne und eine
gezwungene Stehparty weiter zieht er mit ihr um die Welt,
klaut, lügt, flieht. Der Ausbruch aus dem bürgerlichen
Wirtschaftswunder, ein Merkmal, das fast alle Filme der Retrospektive
in sich tragen. Der Weg in die Utopie, das Leben neben und
entgegen den Konventionen. Auch formal. Mit jedem neuen Bild,
jeder Szene schneidet Godard der Konvention Grimassen, ganz
Vertreter der Nouvelle Vague, die Vichy und Marcel Carné
nie vergessen hat und gerade deshalb jetzt die alten Standards
überschwemmt.
PIERROT LE FOU ist von allem etwas, man findet Hitchcock,
die amerikanische Farce. Ein Film der explodiert an den Ideen
seines Regisseurs (und ist deshalb schwer zu fassen), irgendwo
zwischen Programmkino, Musical und Krimikomödie. Samuel
Fuller ist als Gast auf der Party zu Beginn anwesend, gibt
sein "Film is a battleground" als Small Talk zum
Besten. Dies ist einer von vielen kleinen Sprüngen und
Gedanken, die den kausalen Zusammenhang immer wieder erschüttern.
Der Krieg, politische Verhältnisse sind nur Randerscheinungen,
Motive im Halbschatten der individuierten Liebe. Nur ein Unbehagen
ist zu spüren. Mariannes Wohnung zeigt sich vollgestopft
mit Waffen, ein toter Mann liegt auf ihrem Bett (nicht, dass
das narrative Folgen hätte, dazu vertraut Godard einfach
zu sehr auf sein Publikum, das schon seine eigenen Schlüsse
ziehen wird), ihre Sehnsucht richtet sich immer wieder auf
den untergetauchten Bruder (man wird nicht erfahren, ob es
ihn wirklich gibt), der angeblich irgendwo sein Leben als
Guerillakämpfer fristet. Es müssen keine monströsen
abstrakten Subtexte geschaffen werden, um einen Hauch von
Krieg spürbar zu machen. Zeitweilig gruppiert der Film
sein Treiben einfach um ein Schlachtschiff herum, das irgendwo,
verschwindend klein im Hintergrund, im Hafen vor Anker liegt.
Die polizeiliche Gewalt, die die Helden unserer Bonnie und
Clyde - Geschichte angeblich in den Knast befördern will,
ist immer nur eine behauptete Größe. Ferdinand
und Marianne scheitern letztlich an sich selbst statt an einer
irgendwie gearteten Form des Staatsapparates. Die misslungene
Selbstinszenierung im Vakuum eines versorgten und gesicherten
Lebens.
Der Werther sei sein Lieblingsbuch, hat Godard von Zeit zu
Zeit verlauten lassen und PIERROT LE FOU scheint ein komischer
Kommentar auf die Leiden von Goethes jugendlichem Liebhaber
zu sein. Am Ende hat Ferdinand Marianne erschossen und wählt
für sich selbst den Freitod. Nachdem es schon viel zu
spät ist, die zwei Reihen Dynamit, die er sich um den
Kopf gewickelt hat kurz vor der Explosion stehen, merkt er,
dass alles nur ein bedauerlicher Irrtum war. Der amour fou
des Dichters mit seiner Geliebten Marianne, die sich aus ihrem
Kokon zu befreien und in eine totale femme fatale zu verwandeln
scheint, entpuppt sich als künstlich, als selbstgemacht.
Wie heißt es doch in NOUVELLE VAGUE (1990)? Der Mann
trägt seine Tragödie in sich, die Frau könne
ihn vielleicht töten, mehr nicht...
Die Revolte ist aufregend, aber dauerhaft kann sie nur in
der Kunst sein. Ferdinand sitzt erfüllt (so erfüllt,
wie es einem Mann seines Kalibers möglich ist) am Strand
und will ein Buch schreiben, während Marianne im verfallenen
Idyll, in dem die Figuren gestrandet sind, einfach nur noch
langweilig ist. Ihrer Seele dürstet es nach Musik, Liebe
und Leben, seiner einfach nur nach noch mehr Büchern.
Der alte Streit zwischen dem Körper und dem Geist.
Man kann die Filme der 60´er gut mit den Deleuzschen
Begriffen von beliebigem Raum und Milieu beschreiben. Wobei
PIERROT LE FOU zur ersteren Kategorie gehört. Raoul Coutards
Technicolor Kadrierungen katapultieren Ferdinand und Marianne
ein ums andere Mal in den abstrakten Raum der Poesie, des
Überwirklichen. Das Milieu verschwindet. Die Innenräume
bleiben karg, die leeren Wände dominieren die Interieurs.
Alles scheint Aufbruch zu sein, Heimatlosigkeit, entgegen
der schweren Holzschrankwände einer bürgerlichen
Kindheit. Das Leben ist eine Baustelle.
Wie in ROTE SONNE, Rudolf Thomes 1969 bis 70 in München
gedrehtem Film, der einen grotesken Beitrag zum Kampf der
Geschlechter abgibt. In der Hauptrolle Uschi Obermaier (die
vor allem als Uschi Obermaier glänzt und deren Hang zum
An- und Ausziehen an Marlene Dietrich in ihren besten Zeiten
erinnert). Mit ihren drei Mitbewohnerinnen hat sie den Entschluss
gefasst, dass alle Liebhaber, den eine der Frauen länger
als fünf Tage hatte, umgebracht werden müssen. Die
Situation ändert sich als der Gammler Thomas ("Ich
hab´ so einen kaputten Charme, der einfach unwiderstehlich
ist.") ins WG-Leben tritt und drei von fünf Amazonen
ihre Standhaftigkeit verlieren. Der Antagonismus zwischen
Idealismus und Liebe, wiederum ein beliebtes Thema der 60´er.
Der bewaffnete Kampf, der Terrorismus bleibt Randerscheinung.
Bomben werden im heimeligen Wohnzimmer im Do-it-yourself-Verfahren
gebaut, nicht aus innerer Überzeugung, eher aus Langeweile
und Spieltrieb. Es zieht die Figuren in die Ferne. Wie Marianne
und Ferdinand Paris verlassen um an der Küste ihr Glück
zu suchen, will Thomas München verlassen und mit seiner
Geliebten in Richtung Marokko verschwinden. ROTE SONNE endet
in einem grotesken Shoot-Out am Ufer des Starnberger Sees.
Idyllisch und vor allem tot liegen die Protagonisten voller
Hoffnung im Licht der aufgehenden bayerischen Sonne.
Das Schauspiel ist teilnahmslos bis apathisch (was ROTE SONNE
seine witzigen Momente gibt), deutsche Schule und Alexander
Kluge als Vorbild. Der Film marode nachsynchronisiert, in
den seltensten Fällen lippensynchron, was die Personen
nur noch weiter von ihren Texten entfernt.
Gesteigert wird die Brechtsche Variante der Schauspielführung
in Jean-Marie Straubs MACHORKA-MUFF (1962) und NICHT VERSÖHNT
ODER ES HILFT NUR GEWALT WO GEWALT HERRSCHT (1964/65). Es
dominiert das "Zeigen" und "Zitieren"
der Rolle, die Distanz zwischen Schauspieler und Rolle. Die
Einstellungen bleiben an ihren Anfängen, vor der Bewegung
der Figuren, immer ein bisschen (zu lange) stehen, was den
Filmen ihren pädagogisch-langatmigen Anstrich gibt, die
Charaktere finden sich eingepresst ins Korsett von Kunst und
Theorie. Straub verzichtet darauf, seinen Weg zu Ende zu gehen
und den gestisch-mimischen Beitrag seiner Schauspieler durch
Masken auf den Nullpunkt zu führen. Deshalb oszillieren
diese zwischen Rolle und Starre und lassen den Zuschauer unidentifiziert
ein ums andere Mal allein im dunklen Saal sitzen, nehmen ihn
nicht mit auf die Reise ins Innere der Poesie wie PIERROT
LE FOU. Sie referieren ihr Thema, die Spurensuche nach den
Resten der Nazivergangenheit in der BRD. Straub entscheidet
sich für die literarische Form, in endlosen Bewegungen
fährt die Kamera über Zeitungstexte. In GEWALT...
findet sich eingearbeitetes Wochenschaumaterial, wie in LES
CARABINIERS (1963), jedoch ohne die tänzerische Leichtigkeit
Godards, der das Zelluloid bis zur Auflösung verdreckte,
um Homogenität zwischen Found Footage und eigenem Material
herzustellen.
Straubs Filme zeigen viel vom Milieu, dem Zeitgeist der BRD
und haben so ein bisschen dokumentarischen Charakter. Im Gegensatz
zu Polanskis MESSER IM WASSER (1961/62), der schon alle Zeichen
des späteren amerikanischen Exils seiner Regisseurs in
sich trägt. Der Pole inszeniert ein Dreiecksverhältnis
zwischen einem Sportreporter, seiner Frau und einem jungen
Mann, den diese als Anhalter am Straßenrand auflesen
und später zu einer Bootspartie einladen. Das Setting
bleibt beliebig, Yacht auf einem See, die Ikonographien reichen
von christlichen Bezügen bis zu den Großaufnahmen
Hollywoods. Die großen Themen ziehen sich durch den
Film, der Kampf der Generationen, der Verrat. MESSER IM WASSER
wurde von der Zensur kurz nach dem Start in den Kinos gleich
wieder abgesetzt (hauptsächlich wegen des offenen Endes)
aber die politischen Bezüge lassen sich heute kaum mehr
nachvollziehen.
Der Drehbuchautor Jerzy Skolimowski ging später in den
Westen und inszenierte eigene Filme, einer von ihnen, LE DÉPART
(1966/67), lief ebenfalls im Rahmen der Retrospektive. Ein
frecher, schneller Film um einen jungen Mann, der sich dringend
einen Porsche besorgen muss, mit dem er an einem Rennen teilnehmen
will. Man sieht dem Film zu jeder Zeit an, dass er in Brüssel
mit französischen Schauspielern gedreht worden ist, weil
die Revolte als Selbstzweck, als l´art pour l´art
mit unglaublicher Leichtigkeit inszeniert ist. Der Hauptdarsteller
Jean-Pierre Léaud trägt den Film fast im Allengang,
immer für einen Ausraster, eine Explosion aus der Handlung
heraus, gut. Ein hungriger Charakter, ganz Lebensgier, Aktion,
Tempo. Seine Nummern und die kleinen Wendungen des Drehbuchs
machen die Schönheit des Films aus. Ohne konstruiert
zu wirken schafft es der Film am Ende Léaud, sein Mädchen
und einen Diaprojektor in ein Hotelbett zu stecken. Die Charaktere
nehmen ihren Lauf durch die Photographien ihrer Mannequinvergangenheit,
ein wunderschönes Bild, dass sich einfach spontan aus
der Handlung heraus entwickelt, nicht aufgesetzt wirkt. Es
gibt ruhige Passagen, wenn Léaud und das Mädchen
am Morgen, nach einer allzu langen Nacht müde und erschöpft
auf dem Motorroller nach Hause fahren.
Der Held verpasst sein Rennen und hat sich für die Liebe
entschieden, eine letzte Großaufnahme und das Zelluloid,
das sein Gesicht trägt verbrennt, wie das in Ingmar Bergmanns
PERSONA (1966).
Die 60ér zeigen einfach einen Reichtum an Geschichten,
Genres und formalen Innovationen, wie es heute kaum mehr zu
finden ist. MR. FREEDOM (1968/69) von William Klein ist grotesker
B-Film-Klamauk und thematisiert die Furcht vor der "roten
Bedrohung". Der namensgebende Titelheld, der aussieht
wie eine Mischung aus Captain America und einem Footballspieler
wird nach Frankreich versetzt, weil der einheimische Superheld
"Captain Formidable" von "Red China Man"
niedergemetzelt wurde und Frankreich nun in die Hände
der Kommunisten zu fallen droht. Am Ende versucht Herr Freiheit
das Land zu retten indem er es zerstört und der Film
entpuppt sich als Persiflage auf den amerikanischen Imperialismus,
der noch immer versucht hat als "Hilfsaktion" daher
zu kommen.
Dazu noch die Kurzfilme aus jener Zeit. SELBSTSCHÜSSE
(1967) von Lutz Mommartz, ein einfaches aber effektives Spiel
mit der beweglichen Kamera. Der Regisseur filmt sich selbst
auf einer Wiese, rennt über das Gras, wirft die Kamera
in die Luft. Eine Achterbahnfahrt. DER GOLDENE SCHUSS (1968)
von Winfried Parkinson, der seinen Regisseur in der Badewanne
und anderen alltäglichen Situationen zeigt. Dazu wird
in Form von Voice-Over in endlosen Widerholungen abgespult,
dass der Film doch nur für sich selbst werben würde
und das man ihn doch kaufen soll ("Dieses Film ist ehrlicher
als alle anderen Filme. Zeigen sie diesen Film ihren Freunden.
Wenn er ihnen nicht gefällt, versuchen sie diese zu überzeugen,
dass dies ein guter Film ist"). Es sind sympathische
Selbstinszenierungen, weil immer im Bewusstsein um den eigenen
Narzissmus. Vor allem May Spils parodiert in ihren Kurzfilmen
die Boheme-Ambitionen ihrer Generation (nach dem Motto aus
MANÖVER (1966): 25 Jahre alt und noch nichts für
die Unsterblichkeit getan"). Auf dem Höhepunkt ihrer
Kunst ist sie bei der Beobachtung der Gestalt eines Gammlers
in ZUR SACHE SCHÄTZCHEN (1967), der sich unbeeindruckt
von allem durch München bewegt.
Es ist dieses Treibenlassen, die Lust an Uneffizienz und
Abschweifen, die die Filme ein Stück weit typisiert und
ihnen ihren Charme und ihre Schönheit verleiht. Interessant
ist es vor allem die alten Filme im Kontext der neuen zu sehen.
KLASSENFAHRT von Henner Winckler erzählt die Geschichte
einer neuen Generation von Jugendlichen. Berliner Schüler
auf Klassenfahrt in Polen, ein melancholischer, ruhiger Film,
der in seinem Minimalismus viel über die Gegenwart zu
sagen weiß. Im Drehbuch gab es keine Dialoge für
die Nebendarsteller und so reduzieren sich die Gespräche
auf ein "Boah, Alter, krass...", ein Sprechen ohne
etwas zu sagen zu haben. Der "Fehler" des Films
ist irgendwo bezeichnend für eine gewisse Form der Jugendkultur.
Die Hauptfigur ist in sich vergraben, passiv, isoliert, ein
Außenseiter, ein Schweiger, der seine Nächte lieber
mit einsamen Strandspaziergängen denn mit wilden Partys
verbringt. Es zeigt sich die bereits domestizierte Form der
Revolte, kleine Ausbrüche (den Höhepunkt bildet
schon ein Aufstand gegen die polnische Museumsführerin).
Die Konfrontation, der Konflikt zwischen den Institutionen
Lehrer und Schüler findet kaum mehr statt, die Gewalt
der Autorität braucht nicht eingreifen, weil es kein
ernstzunehmendes Rebellentum gibt. Die Schüler kreisen
hauptsächlich um sich selbst, jeder Schritt neben das
Konventionelle wird a priori begleitet von Schuldgefühlen,
man weiß, was sich gehört. Die Figuren finden sich
ein in den Kreisverkehr um die Mitte der Selbstdisziplinierungen,
ohne die Fluchtlinien zu entwickeln, die die 60´er noch
aufmachen konnten. KLASSENFAHRT braucht gar nicht mehr zu
erzählen, weil es nicht mehr zu erzählen gibt. Die
Figuren wollen irgendwie "reinpassen", dazugehören,
von dem Mut in den 60´ern, den Irrationalitäten,
der Verschwendung, ist nichts mehr zu spüren.
Conny Walters FEUER UND FLAMME (der zwar schon diesen Sommer
in den Kinos war aber auf der Berlinale noch einmal im Rahmen
der deutschen Reihe der Export-Union gezeigt wurde) versucht
sich am Spektakulären, an den ganz intensiven Gefühlen
und ist ein gutes Beispiel dafür, wie man es nicht machen
sollte. Der Film will großes Kino sein und scheitert
immer wieder an den eigenen Ansprüchen. Die Perfektion
des Looks, der Kamera, der Effizienz des Drehbuchs, das von
einem Höhe- bzw. Tiefstpunkt zum nächsten schneiden
will, erstickt jedes Leben, dass sich in der Geschichte einer
Liebe zwischen zwei Jugendlichen in Ost und West hätte
entwickeln könnte. Wo in den 60´ern die Kamera
selbst immer wieder über die Improvisationen der Charaktere
zu staunen scheint herrscht hier der eiskalte, sterilisierende
und zügelnde Blick der Überambition auf die versuchte
Revolte. Captain, ein Punker aus der DDR wird zusammen mit
seinen Freunden vorgeführt als pittoresker Anarcho-Hühnerhaufen
(und jeder wollte von Anfang an immer nur das Beste...), die
Gruppe schaut dem kleinen Vampir ähnlicher als ihrem
Idol Sid Vicious. Verkäuflich sollte der Film wohl werden,
ein Kunststück, und ist dann nichts anderes als ein weiteres
Kapitel im Ausverkauf. 100 Minuten Film und nur ein schönes
Bild (Captain und sein Mädchen im Bett, Großaufnahme
einer Hand, die suchend durch einen hellen Spot greift, der
Staub glitzert wie Plankton und die Einstellung wirkt, als
wäre sie im Mutterleib aufgenommen) ist dann doch zu
wenig.
André Grzeszyk
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