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In den letzten Jahren gab es regelmäßig eine eigene
Reihe für die lateinamerikanischen Filme, die Visiones
latinoamericanos überschrieben war. Da lief eine relativ
große Zahl an Filmen (in der Regel mehr als zehn). Auf
dem diesjährigen Filmfest waren in der Reihe WorldCinema
sieben Filme aus Lateinamerika zu finden, eine eigene Reihe
wurde ihnen nicht mehr zugestanden. Etwas willkürlich
mutet einen diese Arithmetik der Reihenbildung an, wenn man
im Vergleich dazu die wieder installierte Reihe Nouveau cinéma
français betrachtet: hier genügen nämlich
bereits sechs Filme, um eine selbständige Rubrik einzurichten
(wobei die Filme der dort zu findenden Routiniers Claude Miller
und Patrice Leconte eigentlich auch nicht gerade das sind,
was man als im emphatischen Sinne "neu" verstanden
wissen möchte). Sind die Zeiten also vorüber, in
denen die Organisatoren des Filmfests Lateinamerika neue Sichtweisen
innerhalb des Weltkinos zutrauten? Ist die Tradition einer
europäischen Kulturnation so vorrangig, daß sie
einen ganzen, einst im Zeichen kultureller Überlegenheit
kolonisierten Kontinent auszustechen vermag? Immerhin lenkte
man durch die Wahl des argentinischen Films "El hijo
de la novia" als Eröffnungsfilm die Aufmerksamkeit
des Publikums auf die lateinamerikanische Kino-Präsenz
im Programm.
Nun bietet Juan José Campanella, ein Regisseur mit
in den USA erworbener Film- und Ferseherfahrung, in der argentinisch-spanischen
Koproduktion zwar eine emotional in die Tiefe gehende, ergreifende
Läuterungskomödie, die deutlich auf weltweite Kompatibilität
angelegt ist, aber letztlich bleibt das gewissermaßen
Allerweltskino im wahrsten Sinn des Wortes (vielleicht steckt
darin ja auch der tiefere Sinn der Reihenbezeichnung World
Cinema). Das ist zweifelsohne gutes professionelles Erzählkino,
aber mit dem flexiblen und elastischen Konsensrealismus Campanellas
wird nichts sichtbar gemacht, was es nicht anderswo auch zu
sehen gäbe. Das ist schon in Ordnung so, vor allem wenn
es einfühlsam vermittelt und aufrichtig empfunden ist.
Aber interessanter wird es dann doch, wenn wir von einem Film
an die Grenzen von Einfühlung und Nachempfindung geführt
werden, wenn wir draußen bleiben müssen, aber dennoch
hineingezogen werden.
Etwa dann, wenn sich Pablo Trapero in "El Bonaerense"
ganz und gar der Besonderheit eines eigenen Wirklichkeitsausschnitts
verschreibt und damit ein Kino praktiziert, das uns Realität
als unverdaulichen Brocken vorsetzt, als körperlich widerständige
Materie. Ein anderes Buenos Aires ist das als das des Sohnes
der Braut, das räudige Buenos Aires der Polizeistation
"El Bonaerense" in den Außenbezirken: hierhin
verschlägt es Zapa, einen arglosen Typen, der als Schlosser
in der Provinz ein gemächliches Leben führte, bis
er bei einem zweifelhaften Job in der Gefängniszelle
landete. Ein Onkel mit Beziehungen beschließt, ihn da
rauszuholen, indem er ihn zur Polizeiausbildung in die Hauptstadt
schickt. Und hier führt Trapero aufs Schlüssigste
vor, was es heißt, sein Leben nicht selber zu leben,
sondern gelebt zu werden. Zapa wird in ein fremdes Milieu,
in eine ihm unbekannte Umgebung versetzt, und der Film schaut
wie ein Experimentator zu, was passiert. Zapa ist einfach
ein Körper, der von der Außenwelt manipuliert und
gehandhabt wird, er übt auf nichts aktiv Einfluß
aus. Ohne zu wissen wie ihm geschieht, nach einer Affäre
mit einer Ausbilderin, nach flüchtigen Kontakten mit
halbkriminellen Machenschaften korrupter Beamter, wird er
in einer vom Onkel eingefädelten Intrige als Polizist
wieder in die Provinz zurückverpflanzt. Trapero, auf
einem der früheren Filmfeste mit dem Film über einen
Bauarbeiter ("Mondo grua") vertreten, zählt
mit Lucrecia Martel ("La Ciénaga", letztes
Jahr auf dem Filmfest zu sehen) oder Lisandro Alonso ("La
Libertad") zu einer neuen Generation von Regisseuren
in Argentinien, die Wirklichkeit als erratisches Material
stehenlassen, das sich weder im Tränenfluß der
Rührung noch in allegorischer Überhöhung verflüchtigt.
Der dritte argentinische Film, "Sábado"
von Juan Villegas, ist ein Erstlingsfilm: eine spielerische
Nouvelle-Vague-Hommage, eine Etüde mit drei Paaren, die
ihren Samstag in leeren Dialogritualen zwischen Frühstück,
Friseur und ziellosen Barbesuchen vertun, dabei zunehmend
in absurde Wiederholungsschleifen geraten mit immer denselben
Gesprächsabläufen: eine Mechanik der Gefühle
und alltäglichen Wege und Handlungen, in deren Zentrum
unter anderem der Schauspieler Gastón Pauls steht,
ein Shooting-Star der letzten Jahre im argentinischen Kino,
der sich hier selber spielt und seine aktuelle Prominenz ironisch
einsetzt. Die zufälligen Überkreuz-Begegnungen der
herumdriftenden Paare (zweimal lakonisch versinnbildlicht
in harmlosen Zusammenstößen mit dem Auto) führen
zu keinen neuen Impulsen, legen lediglich eine ambivalente
Stimmung der Trägheit bloß, eine verzweifelt komische,
eine aus Verzweiflung komische Haltung, die irgendwo zwischen
Jean-Luc Godard und Jacques Doillon, zwischen Eugène
Jonesco und Ernst Jandl angesiedelt ist, die die Straßen
von Buenos Aires in ein Niemandsland verwandelt, in eine neutrale
Zone der Existenz, in der die Frage nach dem Sinn des Lebens
unbeantwortet verhallen muß.
Auch der mexikanische Film "Ciudades oscuras" von
Fernando Sariñana benutzt das Hin und Her von sich
kreuzenden Wegen an einem Tag in Mexico-City: bei ihm sind
es verkommene, kaputte, fertige und abgefuckte Existenzen,
Drogensüchtige, Prostituierte, korrupte und gewalttätige
Cops, die in einem Kreislauf aus Frustration und Aggression
gefangen sind, aus dem nur (so bedeutet es uns der Film) der
Tod (Mord oder Unfall) ein Ausbrechen ermöglicht. Das
ist alles von einer ausgestellten und vorsätzlichen Fiesheit,
die der formale Gestus auch noch als direkt, brutal und heftig
gefilmt beglaubigen möchte. Das Videomaterial wird verfremdet,
hektische Reißschwenks und Zooms, Umstellungen und Überschneidungen
in der Chronologie, wie man sie aus "Amores perros"
kennt: eine dreckige Tour de Force durch 24 Stunden aus dem
Leben in Mexico-City, die aber letztlich an ihrer stilistischen
Outriertheit scheitert. Mexikanische Todverfallenheit (eine
Madonnenfigur mit Totenkopfgesicht), die sattsam bekannten
obszönen Flüche ("¡chinga tu madre!"),
verpeilte Drogensüchtige, die ihrem Baby eine zu hohe
Dosis an Schlaftabletten einflößen (woher kennt
man das bloß?!), ein schmieriger verfetteter Apotheker,
der eine Vorliebe für halbwüchsige Mädchen
hat usw.: entscheidend Neues weiß einem der Regisseur
nicht zu zeigen, und die bemühte Form liefert keine neue
Sichtweise, drängt sich vielmehr als Prätention
auf, die letztlich einer Anteilnahme am Schicksal der Figuren
im Weg steht.
Einen Repräsentanten des allegorischen lateinamerikanischen
Kinos konnte man dann doch finden, nämlich in dem kubanischen
Film "Noches de Constantinople": allerdings eine
recht unschlüssige Allegorie auf das Kuba der Gegenwart
als herrschaftliches Haus einer heruntergekommenen Adelsfamilie,
die unter dem Diktat der cholerischen Großmutter (man
denke an das Parteiblatt Granma!) leidet. Der sexuell unerfahrene
Enkel (soll wohl heißen, daß er keine Erfahrung
mit der Freiheit hat) schreibt heimlich und verbotenerweise
(Zensur!) pornographische Romane, mit denen er im Ausland
einen Preis für erotische Literatur gewinnt. Als die
Oma davon erfährt, fällt sie ins Koma. Daraufhin
entspinnt sich eine etwas schwerfällige Handlung um die
dadurch entstehende Freiheit (der Enkel findet eine Geliebte),
wobei es im Hintergrund um die Veräußerung der
Gemälde der Großmutter geht. Diese müssen,
als die Großmutter wieder erwacht, durch Imitationen
ersetzt werden, dabei stellt sich heraus, daß ihr Meisterwerk
(Die Vertreibung aus dem Paradies) bereits eine Kopie war,
das Original war längst verkauft (wie wohl die Ideale
der Revolution längst verraten). Allegorische Filme (man
denke an Buñuel und Saura) können funktionieren,
wenn sie Bilder und Einstellungen finden, die jenseits des
Bedeuteten einen sinnlichen Eigenwert haben, wenn sie etwa
Irreduzibles transportieren. Aber was hier an unauflösbarem
Rest produziert wird, verdankt sich nur hölzerner Schauspielerei,
wobei zu bedauern ist, daß Francisco Rabal als letzte
Filmrolle keine bessere Auftrittsmöglichkeit beschieden
war. Daß sich der Regisseur Orlando Rojas auf den berühmten
Tomás Gutiérrez Alea als Lehrmeister beruft,
könnte einen fast mutmaßen lassen, daß dieser
Übervater des kubanischen Kinos seinen guten Ruf zu unrecht
genießt, wüßte man es aus eigener Anschauung
(z.B. des wunderbaren "Memorias del subdesarrollo")
nicht besser.
Bleibt noch (neben dem zweiten, von mir versäumten kubanischen
Film "Nada" von Juan Carlos Cremata Alberti) die
brasilianische Romanverfilmung "Uma vida em segredo"
von Suzana Amaral. Die Vorlage von Valdomiro Freitas Autran
Dourado stammt aus dem Jahr 1964 und spielt zu Beginn des
20. Jahrhunderts: die Verfilmung hält sich unaufdringlich
an das historische Dekor. Suzana Amaral verfilmte interessanterweise
bereits 1984 mit "A hora de estrela" einen Roman
von Clarice Lispector, der auf Dourados Roman satirisch Bezug
nimmt und unter anderem die pittoreske Gestaltung des Milieus
als klischeehaft bloßstellte. Die nun unternommene Auseinandersetzung
mit dem Stoff dieses bescheidenen und unscheinbaren Frauenschicksals
ist dagegen von behutsamer Ernsthaftigkeit geprägt, ohne
daß der Film betulich wirkte. Die verwaiste Biela wird
zu ihren Verwandten in die Stadt gebracht. Dort soll sie zu
einem standesgemäßen Lebensstil erzogen worden.
Als Erbin eines großen Vermögens an Geld und Grund
soll sie auch ihrer Klasse entsprechend auftreten, um einen
angemessenen Ehemann zu finden. Biela aber ist auf dem Land
aufgewachsen und ist es gewohnt, Haus- und Küchenarbeiten
selbst zu verrichten. Das Projekt, aus Biela eine großbürgerliche
Dame zu machen, schlägt fehl: die Körpersprache,
mit der die Darstellerin der Biela, Sabrina Greve, vorführt,
daß die steifen Salonkleider nicht für sie geschaffen
sind, ist von einer subtilen Komik und einer unmittelbaren
Anschaulichkeit, die an die Ausdruckssprache der großen
Stummfilmkomiker erinnert. Das tragisch endende, hier aber
wohltuend undramatisch inszenierte Leben Bielas im Leerraum
zwischen den Klassen strahlt eine unaussprechliche Traurigkeit
aus, die an Herman Melvilles Bartleby oder an Robert Walsers
Jakob von Gunten erinnert, an Individuen also, für die
kein definierter Platz vorgesehen ist und deren Leben einfach
verlischt, die irgendwie verloren gehen. Suzana Amaral entwickelt
für dieses Thema eine konsequente und geduldige Filmsprache,
die sich nur gelegentlich ans Anekdotische und Pittoreske
zu verlieren droht. Ganz nebenbei lernt man dabei, wie eine
rigide Erzählform ästhetisch zwingend Klassenschranken
abbildet. Diese diagnostische Kritik am Gegebenen pflegt in
einer unnachahmlich strengen Weise der Portugiese Manuel de
Oliveira, dessen Stil sich Suzana Amaral hier fast unbemerkt
annähert.
Wolfgang Lasinger
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