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Filmfest München 2002 11.07.2002
 
 
 
 

Lateinamerikanische Filme auf dem Filmfest

   
 
 
 
 

In den letzten Jahren gab es regelmäßig eine eigene Reihe für die lateinamerikanischen Filme, die Visiones latinoamericanos überschrieben war. Da lief eine relativ große Zahl an Filmen (in der Regel mehr als zehn). Auf dem diesjährigen Filmfest waren in der Reihe WorldCinema sieben Filme aus Lateinamerika zu finden, eine eigene Reihe wurde ihnen nicht mehr zugestanden. Etwas willkürlich mutet einen diese Arithmetik der Reihenbildung an, wenn man im Vergleich dazu die wieder installierte Reihe Nouveau cinéma français betrachtet: hier genügen nämlich bereits sechs Filme, um eine selbständige Rubrik einzurichten (wobei die Filme der dort zu findenden Routiniers Claude Miller und Patrice Leconte eigentlich auch nicht gerade das sind, was man als im emphatischen Sinne "neu" verstanden wissen möchte). Sind die Zeiten also vorüber, in denen die Organisatoren des Filmfests Lateinamerika neue Sichtweisen innerhalb des Weltkinos zutrauten? Ist die Tradition einer europäischen Kulturnation so vorrangig, daß sie einen ganzen, einst im Zeichen kultureller Überlegenheit kolonisierten Kontinent auszustechen vermag? Immerhin lenkte man durch die Wahl des argentinischen Films "El hijo de la novia" als Eröffnungsfilm die Aufmerksamkeit des Publikums auf die lateinamerikanische Kino-Präsenz im Programm.

Nun bietet Juan José Campanella, ein Regisseur mit in den USA erworbener Film- und Ferseherfahrung, in der argentinisch-spanischen Koproduktion zwar eine emotional in die Tiefe gehende, ergreifende Läuterungskomödie, die deutlich auf weltweite Kompatibilität angelegt ist, aber letztlich bleibt das gewissermaßen Allerweltskino im wahrsten Sinn des Wortes (vielleicht steckt darin ja auch der tiefere Sinn der Reihenbezeichnung World Cinema). Das ist zweifelsohne gutes professionelles Erzählkino, aber mit dem flexiblen und elastischen Konsensrealismus Campanellas wird nichts sichtbar gemacht, was es nicht anderswo auch zu sehen gäbe. Das ist schon in Ordnung so, vor allem wenn es einfühlsam vermittelt und aufrichtig empfunden ist. Aber interessanter wird es dann doch, wenn wir von einem Film an die Grenzen von Einfühlung und Nachempfindung geführt werden, wenn wir draußen bleiben müssen, aber dennoch hineingezogen werden.

Etwa dann, wenn sich Pablo Trapero in "El Bonaerense" ganz und gar der Besonderheit eines eigenen Wirklichkeitsausschnitts verschreibt und damit ein Kino praktiziert, das uns Realität als unverdaulichen Brocken vorsetzt, als körperlich widerständige Materie. Ein anderes Buenos Aires ist das als das des Sohnes der Braut, das räudige Buenos Aires der Polizeistation "El Bonaerense" in den Außenbezirken: hierhin verschlägt es Zapa, einen arglosen Typen, der als Schlosser in der Provinz ein gemächliches Leben führte, bis er bei einem zweifelhaften Job in der Gefängniszelle landete. Ein Onkel mit Beziehungen beschließt, ihn da rauszuholen, indem er ihn zur Polizeiausbildung in die Hauptstadt schickt. Und hier führt Trapero aufs Schlüssigste vor, was es heißt, sein Leben nicht selber zu leben, sondern gelebt zu werden. Zapa wird in ein fremdes Milieu, in eine ihm unbekannte Umgebung versetzt, und der Film schaut wie ein Experimentator zu, was passiert. Zapa ist einfach ein Körper, der von der Außenwelt manipuliert und gehandhabt wird, er übt auf nichts aktiv Einfluß aus. Ohne zu wissen wie ihm geschieht, nach einer Affäre mit einer Ausbilderin, nach flüchtigen Kontakten mit halbkriminellen Machenschaften korrupter Beamter, wird er in einer vom Onkel eingefädelten Intrige als Polizist wieder in die Provinz zurückverpflanzt. Trapero, auf einem der früheren Filmfeste mit dem Film über einen Bauarbeiter ("Mondo grua") vertreten, zählt mit Lucrecia Martel ("La Ciénaga", letztes Jahr auf dem Filmfest zu sehen) oder Lisandro Alonso ("La Libertad") zu einer neuen Generation von Regisseuren in Argentinien, die Wirklichkeit als erratisches Material stehenlassen, das sich weder im Tränenfluß der Rührung noch in allegorischer Überhöhung verflüchtigt.

Der dritte argentinische Film, "Sábado" von Juan Villegas, ist ein Erstlingsfilm: eine spielerische Nouvelle-Vague-Hommage, eine Etüde mit drei Paaren, die ihren Samstag in leeren Dialogritualen zwischen Frühstück, Friseur und ziellosen Barbesuchen vertun, dabei zunehmend in absurde Wiederholungsschleifen geraten mit immer denselben Gesprächsabläufen: eine Mechanik der Gefühle und alltäglichen Wege und Handlungen, in deren Zentrum unter anderem der Schauspieler Gastón Pauls steht, ein Shooting-Star der letzten Jahre im argentinischen Kino, der sich hier selber spielt und seine aktuelle Prominenz ironisch einsetzt. Die zufälligen Überkreuz-Begegnungen der herumdriftenden Paare (zweimal lakonisch versinnbildlicht in harmlosen Zusammenstößen mit dem Auto) führen zu keinen neuen Impulsen, legen lediglich eine ambivalente Stimmung der Trägheit bloß, eine verzweifelt komische, eine aus Verzweiflung komische Haltung, die irgendwo zwischen Jean-Luc Godard und Jacques Doillon, zwischen Eugène Jonesco und Ernst Jandl angesiedelt ist, die die Straßen von Buenos Aires in ein Niemandsland verwandelt, in eine neutrale Zone der Existenz, in der die Frage nach dem Sinn des Lebens unbeantwortet verhallen muß.

Auch der mexikanische Film "Ciudades oscuras" von Fernando Sariñana benutzt das Hin und Her von sich kreuzenden Wegen an einem Tag in Mexico-City: bei ihm sind es verkommene, kaputte, fertige und abgefuckte Existenzen, Drogensüchtige, Prostituierte, korrupte und gewalttätige Cops, die in einem Kreislauf aus Frustration und Aggression gefangen sind, aus dem nur (so bedeutet es uns der Film) der Tod (Mord oder Unfall) ein Ausbrechen ermöglicht. Das ist alles von einer ausgestellten und vorsätzlichen Fiesheit, die der formale Gestus auch noch als direkt, brutal und heftig gefilmt beglaubigen möchte. Das Videomaterial wird verfremdet, hektische Reißschwenks und Zooms, Umstellungen und Überschneidungen in der Chronologie, wie man sie aus "Amores perros" kennt: eine dreckige Tour de Force durch 24 Stunden aus dem Leben in Mexico-City, die aber letztlich an ihrer stilistischen Outriertheit scheitert. Mexikanische Todverfallenheit (eine Madonnenfigur mit Totenkopfgesicht), die sattsam bekannten obszönen Flüche ("¡chinga tu madre!"), verpeilte Drogensüchtige, die ihrem Baby eine zu hohe Dosis an Schlaftabletten einflößen (woher kennt man das bloß?!), ein schmieriger verfetteter Apotheker, der eine Vorliebe für halbwüchsige Mädchen hat usw.: entscheidend Neues weiß einem der Regisseur nicht zu zeigen, und die bemühte Form liefert keine neue Sichtweise, drängt sich vielmehr als Prätention auf, die letztlich einer Anteilnahme am Schicksal der Figuren im Weg steht.

Einen Repräsentanten des allegorischen lateinamerikanischen Kinos konnte man dann doch finden, nämlich in dem kubanischen Film "Noches de Constantinople": allerdings eine recht unschlüssige Allegorie auf das Kuba der Gegenwart als herrschaftliches Haus einer heruntergekommenen Adelsfamilie, die unter dem Diktat der cholerischen Großmutter (man denke an das Parteiblatt Granma!) leidet. Der sexuell unerfahrene Enkel (soll wohl heißen, daß er keine Erfahrung mit der Freiheit hat) schreibt heimlich und verbotenerweise (Zensur!) pornographische Romane, mit denen er im Ausland einen Preis für erotische Literatur gewinnt. Als die Oma davon erfährt, fällt sie ins Koma. Daraufhin entspinnt sich eine etwas schwerfällige Handlung um die dadurch entstehende Freiheit (der Enkel findet eine Geliebte), wobei es im Hintergrund um die Veräußerung der Gemälde der Großmutter geht. Diese müssen, als die Großmutter wieder erwacht, durch Imitationen ersetzt werden, dabei stellt sich heraus, daß ihr Meisterwerk (Die Vertreibung aus dem Paradies) bereits eine Kopie war, das Original war längst verkauft (wie wohl die Ideale der Revolution längst verraten). Allegorische Filme (man denke an Buñuel und Saura) können funktionieren, wenn sie Bilder und Einstellungen finden, die jenseits des Bedeuteten einen sinnlichen Eigenwert haben, wenn sie etwa Irreduzibles transportieren. Aber was hier an unauflösbarem Rest produziert wird, verdankt sich nur hölzerner Schauspielerei, wobei zu bedauern ist, daß Francisco Rabal als letzte Filmrolle keine bessere Auftrittsmöglichkeit beschieden war. Daß sich der Regisseur Orlando Rojas auf den berühmten Tomás Gutiérrez Alea als Lehrmeister beruft, könnte einen fast mutmaßen lassen, daß dieser Übervater des kubanischen Kinos seinen guten Ruf zu unrecht genießt, wüßte man es aus eigener Anschauung (z.B. des wunderbaren "Memorias del subdesarrollo") nicht besser.

Bleibt noch (neben dem zweiten, von mir versäumten kubanischen Film "Nada" von Juan Carlos Cremata Alberti) die brasilianische Romanverfilmung "Uma vida em segredo" von Suzana Amaral. Die Vorlage von Valdomiro Freitas Autran Dourado stammt aus dem Jahr 1964 und spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts: die Verfilmung hält sich unaufdringlich an das historische Dekor. Suzana Amaral verfilmte interessanterweise bereits 1984 mit "A hora de estrela" einen Roman von Clarice Lispector, der auf Dourados Roman satirisch Bezug nimmt und unter anderem die pittoreske Gestaltung des Milieus als klischeehaft bloßstellte. Die nun unternommene Auseinandersetzung mit dem Stoff dieses bescheidenen und unscheinbaren Frauenschicksals ist dagegen von behutsamer Ernsthaftigkeit geprägt, ohne daß der Film betulich wirkte. Die verwaiste Biela wird zu ihren Verwandten in die Stadt gebracht. Dort soll sie zu einem standesgemäßen Lebensstil erzogen worden. Als Erbin eines großen Vermögens an Geld und Grund soll sie auch ihrer Klasse entsprechend auftreten, um einen angemessenen Ehemann zu finden. Biela aber ist auf dem Land aufgewachsen und ist es gewohnt, Haus- und Küchenarbeiten selbst zu verrichten. Das Projekt, aus Biela eine großbürgerliche Dame zu machen, schlägt fehl: die Körpersprache, mit der die Darstellerin der Biela, Sabrina Greve, vorführt, daß die steifen Salonkleider nicht für sie geschaffen sind, ist von einer subtilen Komik und einer unmittelbaren Anschaulichkeit, die an die Ausdruckssprache der großen Stummfilmkomiker erinnert. Das tragisch endende, hier aber wohltuend undramatisch inszenierte Leben Bielas im Leerraum zwischen den Klassen strahlt eine unaussprechliche Traurigkeit aus, die an Herman Melvilles Bartleby oder an Robert Walsers Jakob von Gunten erinnert, an Individuen also, für die kein definierter Platz vorgesehen ist und deren Leben einfach verlischt, die irgendwie verloren gehen. Suzana Amaral entwickelt für dieses Thema eine konsequente und geduldige Filmsprache, die sich nur gelegentlich ans Anekdotische und Pittoreske zu verlieren droht. Ganz nebenbei lernt man dabei, wie eine rigide Erzählform ästhetisch zwingend Klassenschranken abbildet. Diese diagnostische Kritik am Gegebenen pflegt in einer unnachahmlich strengen Weise der Portugiese Manuel de Oliveira, dessen Stil sich Suzana Amaral hier fast unbemerkt annähert.

Wolfgang Lasinger

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