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Es steckt im missratensten Film noch erhebliche Liebesmüh.
Selbst wenn der Regisseur ein plan- und achtloser Trottel,
der Hauptdarsteller ein eitler Schmierenkomödiant und
das ganze Projekt nur die allein auf's leicht verdiente Geld
abzielende Kinoversion einer billigen Fernseh-Arztserie ist.
Dann kann da immer noch eine junge Requisiteurin mit am Werk
sein, die ihr Herzblut in die Arbeit gibt, die alles tut,
dass wenigstens die Details, die sie zu verantworten hat,
so stimmig wie möglich sind.
Aber kann man es so einer Frau andererseits wiederum verdenken,
wenn sie langsam die Lust verliert? Wenn sie ihre Liebesmüh
als verloren betrachtet und das Kino als unrettbar? Weil die
Realitäten der Industrie, der Filmproduktionsmaschinerie,
ohne die leider nichts geht, so sind, dass sie alles Gute,
Wahre, Schöne von vornherein auszuschließen scheinen?
Kann man? Darf man? Muss man?
Ich erlaube mir, die Antwort noch ein wenig aufzusparen...
*
BRÖCKELN, BRÖSELN, FRAUENZEITSCHRIFTEN
Es schien die diesjährige Berlinale in der zweiten Hälfte
Auflösungserscheinungen zu zeigen. Statt auf einen Höhepunkt
zuzusteuern wirkte das eher wie ein Bröckeln, Bröseln,
ein Ausfaden, das schon in der Mitte des Songs beginnt. Mit
der Qualität der Filme hatte das nicht das Geringste
zu tun: Die blieb auf einem derart hohen Level, dass ich persönlich
von den über 40 besuchten Vorstellungen nur eine bereut
habe, und daran war ich letztlich selbst schuld, weil ich
den Streifen (JAGODA U SUPERMARKETU) eigentlich, meiner diversen
schlechten Erfahrungen mit osteuropäischem Kino eingedenk,
vermeiden wollte und mich dann nur äußere Umstände
doch hineintrieben. Und selbst da gab es, wenn schon sonst
nichts, dann doch den netten Gag mit dem etwas verwirrten
älteren Herren, der wissen will ob die Eier frisch sind
und dabei Kinderüberraschung in Händen hält.
Nein, diese Berlinale hätte getrost die Hälfte ihrer
gelungenen Filme ans Vorjahr abgeben können und es wären
daraus zwei befriedigende Festivals geworden - so aber waren's
also ein enttäuschendes (mit punktuellen Glanzlichtern
wie FULLTIME KILLER) und ein äußerst befriedigendes.
Dass dennoch dieses Jahr nach ein paar Tagen sich ein Eindruck
über die Festspiele legte, als wäre deren Pulver
schon verschossen, hatte andere Gründe. Zum einen waren
da die Hollywood-Produktionen durch, zu denen amerikanische
Stars angereist waren. Und so lächerlich es ist - das
macht doch immer einen erheblichen Unterschied. Weil da ein
Funke der Aufregung in der Festival-Luft ist, der nicht nur
auf reine Cineasten überspringt. Es mag ein koreanischer
Spielfilm, eine deutsche Doku noch so begeisternd sein - es
wird (ungerechterweise) eine Begeisterung im kleinen Kreis
bleiben. Da ist ein Filmfest eine Veranstaltung von und für
Leute, die den ganzen Tag in dunklen Sälen sitzen und
auf flackernd beleuchtete Wände gucken, und draußen
interessiert es keinen. Aber wenn die Hollywood-Größen
anreisen, ja dann ist es ein Ereignis in der Stadt. Dann sagt
auch der sprichwörtliche kleine Mann auf der Straße
"Ui, es ist Berlinale!" und verrenkt sich den Hals,
um einen Blick zu erhaschen auf den Star auf dem Rücksitz
einer der gesponsorten Limousinen. Anstatt dass er sich nur
wundert, warum ihm beim Einkaufen am Potsdamer Platz dauernd
so viele etwas verstrahlt dreinblickende, übernächtigte
Menschen über den Weg laufen, in zumeist unkleidsamem,
nicht gerade Frische ausdünstendem Gewand, mit farbcodierten,
Passsfoto-tragenden Karten am Bändel um den Hals und
mit von Papier überquellenden Umhängetaschen, an
gesponsorten Vöslauer-Mineralwasserflaschen nuckelnd,
alles belagernd, wo es billig und schnell Essbares gibt. Worauf
der kleine Mann höchstens denkt: "Mmmmh..., muss
wohl wieder Berlinale sein..."
Aber nicht nur dass die Hollywoodstars wieder abgereist waren
und mit ihnen auch schon Großteile der Frauenzeitschriften-
und Privatfernsehsender-Fraktion unter den Journalisten nahm
einigen Dampf aus der Sache - es waren auch insgesamt die
meisten Filme, auf die man vorab schon so richtig heiß
war, in der ersten Festivalhälfte versammelt. Die Filme
der zweiten Hälfte waren mit weniger Erwartungen befrachtet;
es war die Zeit der angenehmen Überraschungen, der übertroffenen
Voreinschätzung, der erfreulichen Entdeckungen.
*
GRÜNE UNIFORM AUF ROTEM TEPPICH (EIN TRAUMBILD)
Dumme Weltsicherheitslage, dumme! Warum kann die derzeit
nicht ein gutes Stück entspannter sein? Gut, die Berlinale-Veranstalter
werden schon die ein oder andere Wagenladung Kerzen stiften,
nur weil der Irak-Krieg gottseilobunddank noch immer nur ein
(wagt man noch zu sagen: möglicherweise?) bevorstehender
solcher ist. Und mithin die amerikanischen Stars nicht samt
und sonders ihre Flüge gecancelt haben. Aber trotzdem
hat die leidige Angelegenheit einen Gast gekostet, der die
Hollywood-Prominenz zu Nebensonnen degradiert hätte:
Kein Scherz - Fidel Castro hat offenbar ernsthaft erwogen,
zur Premiere "seines" Films COMMANDANTE nach Berlin
einzuschweben!
Dass er sich das dann doch nicht getraut hat, ist wohl insofern
gut, als Deutschland durch einen Galaempfang für den
Maximo Lider wohl auf der Shit-list der USA noch ein paar
Plätze nach oben geklettert wäre, und man will da
ja doch nicht zu nah bei Nordkorea landen... Aber was wäre
das für eine Schau gewesen!
So musste man mit Oliver Stone vorliebnehmen, was wiederum
auch nicht verkehrt war alldieweil er seine Doku über
Kubas Nummero Uno weidlich zur Selbstdarstellung nutzt und
somit nicht DIE Hauptfigur, sondern nur EINE der Hauptfiguren
des Films daheimgeblieben war. Freilich die interessantere.
Der wohl weltberühmteste Bartträger (dem Stone im
Film mit einem Pornobalken auf der Oberlippe scheinbar nachzueifern
sucht) ist als Doku-Objekt denn auch so faszinierend, dass
nichtmal Stones Regie dagegen ankommt. Die will uns nämlich
nie vergessen lassen, dass Fidel hier vor und für die
KAMERA agiert - ach, was heißt DIE: für stets vier
bis fünf Kameras, zwischen denen dauernd wild geschnitten
wird, um auch ja die Momente auf die Leinwand zu bringen,
wo sie gerade am meisten wackeln. Und um uns nie die zentrale,
mindestens alle fünf Minuten groß ins Bild gerückte
Erkenntnis des Films aus dem Gedächtnis entwischen zu
lassen: Dass nämlich Fidel Castro ziemlich lange Fingernägel
hat.
*
KEIN PREIS GEHT AN... (1. ABTEILUNG)
Wenn bei einem Filmestival, allgemeines Bröckeln und
Bröseln hin oder her, etwas immer bis zum Schluss spannend
bleibt, dann ist es eigentlich der Wett- und Schaulauf um
die Preise. Aber auch dessen Entscheidung am Samstag fühlte
sich nicht an wie der Höhepunkt der Berlinale sondern
wie etwas, das nun auch noch eben zu erledigen wäre,
bevor mit dem sonntäglichen "Kinotag" (Filmwiederholungen
für's gemeine Volk; eine begrüßenswerte Neuerung
angesichts der beeindruckenden Neugier, Begeisterung und Ausdauer
mit denen die Berliner stets den Kampf um Karten auf sich
nehmen, um den Festivalvorführungen selbst noch des obskursten
Films als Publikum beizuwohnen), bevor also mit diesem "Kinotag"
sanfter als sonst ins normale, wahre Leben zurückgeleitet
wurde.
Vielleicht lag's daran, dass man sich schwer tat, einen Favoriten
auszumachen - sowohl was die voraussichtliche Jury-Entscheidung
als auch die eigene Rangliste anging. Zu viele sehr gute Filme
waren dafür im Wettbewerb, zu wenig absolut überragende,
und keiner, der offensichtlich die Qualifikationen für
einen Festivalsieg hatte (was nochmal ganz andere sind als
überragende Qualität).
Auf den Kritiker-Punktlisten in den Zeitungen konnte sich
THE HOURS ziemlich weit nach vorne setzen, aber in Kürze
regulär anlaufende, starbesetzte Hollywood-Produktionen
von nicht als Auteurs anerkannten Regisseuren gewinnen keine
europäischen Festivals. (Ich habe den Film selbst noch
nicht gesehen, vermute aber nach allem, was ich darüber
weiß, dass ich ihn recht brav finden würde.) Aus
ähnlichen Gründen schied CONFESSIONS OF A DANGEROUS
MIND mit ziemlicher Sicherheit als Kandidat aus - auch wenn
George Clooney damit endgültig bewies, was spätestens
O BROTHER, WHERE ART THOU? schon dringend nahelegte, nämlich
dass der Mann vollsten Respekt verdient. (Es ist, nebenbei
bemerkt, ganz erstaunlich, mit welcher Aggressivität
sich viele Leute dagegen weigern anzuerkennen, dass manche
Menschen gutaussehend und erfolgreich sein können und
dabei trotzdem (?) noch wirklich was auf dem Kasten haben
- siehe auch die Reaktionen auf Tom Cruise oder Julia Roberts.)
Man fühlte sich erinnert an Orson Welles' Diktum, Filmemachen
sei das allertollste Modelleisenbahn-Set: Clooneys Regiedebut
sprüht in jeder Minute vor Freude an den Möglichkeiten
des Kinos, ist - obwohl das Material das keineswegs von sich
aus aufdrängen würde - ein durch und durch visueller
Film, voll von Ideen und Experimenten, ohne planlos zu sein.
Gerade von einem Schauspieler hätte man nicht erwartet,
dass er so tief Film als Kunst der Bilder, Bilder, Bilder
begreift. Chapeau, Herr Clooney, und weiter so! (Und Ironie
des Schicksals, dass für diesen Film dann ausgerechnet
ein Darstellerpreis an Sam Rockwell ging...)
Weil wir bei Clooney sind: Soderberghs SOLARIS hatte schlechte
Karten, weil Tarkowskij-Remakes freilich prinzipiell misstrauisch
beäugt werden; und mehr wohl noch, weil Hollywood-Starkino
zwar für Berlinale-Jurys der schlechte Ruch der Kommerzialität
anhaftet, es aber dann noch weniger verzeihenswert ist, wenn
es (anerkannter Auteur als Regisseur oder nicht) sich extrem
langsam und enigmatisch gibt UND in Amerika an der Boxoffice
bitter gescheitert ist. No one likes a loser.
*
GANZE TREPPE
Auf dem besten Wege, zur echten Berlinale-Tradition zu werden,
ist es, dass Johnnie To mit dem ein oder anderen seiner über's
Jahr fertiggestellten Filme dabei ist. Das hat mir persönlich
letztes Jahr das gesamte Festival gerettet (wir erinnern uns:
FULLTIME KILLER am Ende vier Mal in drei Tagen geguckt). Diesmal
lastete weniger Verantwortung auf seinen Schultern, dank vollauf
beglückendem Restprogramm. Trotzdem auch PTU - so der
Titel des neuesten Streichs - wieder mit dabei auf den ganz
vorderen Plätzen. (Und der Meister war höchstselbst
vor Ort, was undank der Sprachbarriere leider weniger ergiebig
war, als man sich erhofft hätte. Aber, zur Ehrenrettung
des Dolmetschers: Wenn die Leute auch nach (Zitat) "demolierten
Antithesen von Clint Eastwood" (Zitat Ende, und nein:
wir wissen auch nicht wieso, weshalb, warum) fragen, dann
ist man halt auch schnell am Ende seines Kantonesisch angekommen...)
Anyway: PTU ist wieder eines von Tos zuvörderst der eigenen
künstlerischen Befriedigung dienenden Projekten. (Wo
man jetzt aber auch mal sagen muss: Wenn alles, was als kommerziellen
Ewägungen gehorchendes Kino gilt, so aussähe wie
die Filme, die Johnnie To aus seiner Sicht hauptsächlich
um des Geldes Willen macht, dann BITTE DREHT MEHR KOMMERZIELLE
FILME!!!) Und entsprechend nutzt PTU noch mehr, als To das
prinzipiell tut, seine Genre-Elemente als Folien und Bausteine,
die - über- und umgeschrieben, ungewohnt zusammengesetzt
- insgesamt etwas anderes ergeben als "nur" einen
Genre-Film.
Eine Nacht in Hong Kong. Einem Polizisten (Simon Yam mal wieder
als grandioser Kackspecht-Darsteller) ist seine Dienstwaffe
abhanden gekommen. Damit liegt plötzlich Bedrohung in
der Luft: Das geregelte Gleichgewicht aus legaler und illegaler
Gewalt wankt; eine Waffe des Gesetzes, außer polizeilicher
Kontrolle geraten, das ist geradezu eine Einladung an das
Schicksal, an den Tod, zuzuschlagen. Es scheint diese MÖGLICHKEIT
eines Verbrechens für die Polizisten fast angsteinflößender
zu sein als ein real verübtes. Offiziell ist der Vorfall
noch nicht gemeldet, eine Polizeieinheit streift durch die
Straßen, stapft durch den Regen, auf der Suche nach
der Pistole; dabei selbst keine Gewaltanwendung scheuend.
Das wird bei To mindestens so sehr zum Stimmungsbild wie zum
Thriller. Wenn die Truppe einen Raum im obersten Stockwerk
eines Hauses stürmen will, dann zeigt To das Etage um
Etage, so lange die Treppen eben sind. Und die Sache gerät
To auch mehr zur Philosophie als zum Krimi. Die perversen
Zufälle sind es, die alles in Bewegung setzen und halten.
Der Film hat was von einer existentialistischen Komödie,
aber andererseits führen die dummen Missverständnisse,
die gekreuzten Wege, die Synchronizitäten letztendlich
zu so schön gemein und teils tödlich geschlossenen
Kreisen, dass man ihm auch schon wieder den Glauben an sowas
wie einen Gott unterstellen kann. Einen Gott, der sich auf
Kosten seiner Kreaturen mit boshaften Scherzen unterhält
wie ein Kind im Sandkasten mit Ameisen.
Im übrigen kann man (so einem lediglich zwei Filme als
Indizienkette genügen) dann auch gleich einen Trend im
Hong Kong-Polizeifilm konstatieren: Weg von der Action, hin
zu mehr Mobiltelefonen. Auch Andrew Laus und Alan Maks INFERNAL
AFFAIRS spart sich weitgehend die Shootouts und knüpft
seine Plot-Verknotungen (noch exzessiver als PTU das tut)
mittels Handy. Insgesamt freilich weniger überzeugend
als To - das zog sich gelegentlich schon ein bisserl in die
Länge. Aber dafür mit schöner Grundkonstellation:
Die Polizei hat einen Undercover-Agent bei den Triaden, und
die Triaden einen bei der Polizei. Und mit fabelhafter Besetzung:
Andy Lau und Tony Leung in den Hauptrollen, und - was fast
noch schöner ist - Anthony Wong und Eric Tsang, zwei
der weltgenialsten Charakterdarsteller, als ihre jeweils Vorgesetzten.
*
SILBENRÄTSEL
Zerfallserscheinungen auch auf den Plakaten. Eigentlich so
klar und eindeutig wie nie, das stets so beliebte "Was
wollte uns der Entwerfer damit sagen?"-Rätsel entfiel:
Grauer Hintergrund, in fetten, roten Lettern BERLINALE, dahinter
in dünnen schwarzen Umrissen ein Filmstreifen angedeutet
und das Motto "towards tolerance". Ganz aber nur
lesbar, wenn man die Plakate aller Reihen und Sub-Festivalsabteilungen
nebeneinander legte, über die der Schriftzug verteilt
war. Kein Problem für Insider, das Design wiederzuerkennen
auch auf den einzelnen Plakaten und die Wortausschnitte in
den richtigen Kontext zu bringen. Aber was das wohl dem weniger
informierten Passanten gesagt haben mag, dass da beispielsweise
am Zoopalast nur ein riesiges "lina" prangte? Wahrscheinlich
lief da so mancher durch die Stadt, der sich vergeblich auf
eine große Wertmüller-Retro freute...
*
KEINE STIMMEN FÜR MURNAU
Und dann hinter, neben, während allem immer wieder F.W.
Murnau. Die Retrospektive ein Stück Kino-Heimat, in das
man gerne zurückkehrte fast jeden Tag. Das ist Filmemachen
als fröhliche Wissenschaft; viel verspielter, auch sogar
alberner als Fritz Lang, aber nicht minder genau ausgetüftelt.
Eine hinreißende Bürgerlichkeit lugt aus diesen
Filmen, ein 19.Jahrhundert-Flair, als bemächtigte sich
der Biedermeier dieses damals modernsten aller Medien, um
dann doch immer wieder bei der Schauerromantik zu landen.
Aber es sind eher liebenswert gruslige Dämonen der Vergangenheit,
die da herumspuken, als die heraufziehenden aus Murnaus Gegenwart.
Die Welt dieser Filme sind möblierte Interieurs, verfallende
Schlösser und die Natur, nicht Straße, Fabrik und
Stadt.
Es ist immer problematisch, die Zufälle des Schicksals
als Symbole zu deuten, aber es scheint zumindest passend,
dass Murnau, im Gegensatz zu Lang und Pabst, zusammen mit
der Stummfilmära gestorben ist. Sein Werk bleibt ganz
das einer fremden Zeit; inmitten der Berlinale eine seelige
Insel der Entrückung und Verzückung.
*
KEIN PREIS GEHT AN... (2. ABTEILUNG)
Während letztes Jahr alle ganz hin und weg waren von
8 FEMMES, der ein schöner Film ist, aber nicht einmal
halb so musikalisch, beschwingt und erst recht nicht flott
und lustig, wie dauernd behauptet wurde, zogen dieses Mal
plötzlich alle die Hasskappe auf, als der holländische
Beitrag JA ZUUSTER, NEE ZUUSTER sich erdreistete, einfach
nur musikalisch, beschwingt, flott und lustig zu sein. Das
schien auf einmal ein furchtbarer Affront, der auch gesehen
wurde, als hätten die Filmemacher mit ihrem Musical nie
irgend etwas anderes beabsichtigt als just am Berlinale-Wettbewerb
teilzunehmen (in den sie tatsächlich zu ihrer eigenen
kompletten Überraschung spät hineingerutscht waren).
Dabei muss doch zuallererst mal festgestellt werden, dass
Niederländisch eine wahnsinnig lustige und nette Sprache
ist, wenn man Deutsch kann. Wie schön, wenn beispielsweise
eine junge Dame das Verliebtsein auf den ersten Blick zum
Ausdruck bringt mit: "He gevt mi de Kribbels." (Alle
Holländer mögen meine garantiert grottenfalsche
Transliteration des Gehörten bitte verzeihen.) Und dann
hat kein anderer Wettbewerbsbeitrag das Berlinale-Motto "towards
tolerance" auf so ungezwungene, vergnügliche, menschliche,
selbstverständliche Art und Weise ausgelebt wie dieser.
Und schließlich ist das doch eine ebenso schöne
wie interessante Sache, wenn da von einer Kult-TV-Serie der
'60er eine Filmversion gemacht wird, obwohl alle Sendebänder
der Fernsehshow längst vernichtet sind und die Niderländer
offenbar alle nur die wachste und wärmste Erinnerung
an diese Sendung haben. Weshalb JA ZUUSTER, NEE ZUUSTER also
(zumal die Filmemacher nach eigener Auskunft zum Großteil
diese Sendung nie sehen konnten, weil sie zu jung sind oder
damals keinen Fernseher hatten) eigentlich eher die Filmversion
dieser ERINNERUNGEN und nostalgischen Gefühle ist.
(Nebenbei: Muscial als Eröffnungsfilm, Musical im Wettbewerb,
Musicals in der Shaw Bros.-Hommage, Musicals allüberall
auf dieser Berlinale. Aber ausgerechnet Bollywood, das letzte
Kino-Land mit einer wirklich dominierenden, ungebrochenen
Musical-Tradition war mit COMPANY vertreten - einer sehr schönen
(und am Ende schön tragischen) indischen Version von
THE GODFATHER -, der es als besondere Leistung ansah, sehr
wenige Musiknummern und die dann in den Plot eingearbeitet
zu haben...)
Nun ja, so gab es also Film für Film gute Gründe,
warum er eigentlich durchaus hätte preiswürdig sein
können und warum er aber real als Preisträger kaum
in Frage kam. Claude Chabrols LA FLEUR DU MAL - möglicherweise
eine Inzestgeschichte, ganz sicher aber ein wunderbarer Film
über großbürgerliche Familiengeheimnisse und
Politik - hatte darunter zu leiden, dass alle Subtilität,
Genauigkeit, Boshaftigkeit, Süffisanz offenbar für
viele wenig zählt, wenn ein Regisseur schon öfters
bewiesen hat, dass er meisterlich subtil, genau, boshaft und
süffisant sein kann. ALEXANDRA'S PROJECT von Rolf de
Heer dagegen hatte ein paar völlig unerwartete, großartig
perverse Momente, die einen so richtig aus dem Kinosessel
heben konnten; war auch ein Stück weit eine hübsche
Reflexion über die Angstlust beim Filmanschauen, über
Suspense: Ein Mann findet sich an seinem Geburtstag in seinem
Haus eingeschlossen und daselbst von seiner Frau nur eine
Videokassette vor, auf dem sie erst einen Striptease hinlegt,
dann aber offenbart, wie sehr sie ihn und die Ehe hasst. Die
einzige Chance, die er hat, möglicherweise aus seiner
Situation freizukommen, ist, das Band ganz anzuschauen, auch
wenn er eigentlich alles andere lieber täte als das.
Nicht unklug, das alles, aber dann auch wieder zu konstruiert,
zugleich eine Lehrbuch-Anklage gegen Männerphantasien,
die selbst immer wieder nach Männerphantasie riecht und
die ihre Integrität als Charakterstudie zu oft zugunsten
der Unterhaltsamkeit, der überraschenden thrillerähnlichen
Wendungen aufgibt. Mit diesen Thriller-Anklängen dann
sowieso nicht die Art Film, die bei Berlinalen groß
punkten könnte, und dazu der letzte Film im Wettbewerb,
was allein meist schon jenseits aller anderen Faktoren einen
fast aussichtslosen Stand beschert.
*
O BROTHER...
So, und jetzt, da aber doch ADAPTATION mit einem Silbernen
Bären bedacht wurde, muss ICH mich endlich einmal zu
Wort melden: Gestatten, Dagobert Willmann. Ich kann Ihnen
nämlich ein Geheimnis verraten: Thomas mochte ADAPTATION
nur deshalb nicht so besonders, weil er die Sache mit den
Zwillingen nicht vertragen konnte. Er mag nämlich auch
mich nicht besonders, und da kann er es nicht haben, dass
da im Film ein Autor, der sich ewig mit seinen vermeintlich
künstlerisch hoch wertvollen Texten plagt, einen - wie
er findet: ahnungslosen - Zwillingsbruder hat, der drauflosschreibt
und damit Erfolg hat. Es wäre ihm sicher auch lieber,
wenn ich jetzt den Mund halten würde, und bestimmt erklärt
er jedem, der's hören will, dass ich vom Schreiben nix
verstehe. Obwohl ich einen Ratgeber gelesen habe, der erklärt
wie's einfach und richtig geht und ich jetzt problemlos einen
ganzen Berlinale-Bericht abliefern könnte, so mit "Nebel
liegt über dem Potsdamer Platz" und allem drum und
dran...
Aber ich erzähl' Ihnen mal was: Ich geb' wenigstens zu,
wo ich mich auskenne und wo nicht. Aber Thomas schreibt ihnen
was hin zum Umgang mit Raum bei Ozu und so, und dabei what
er mir in einem unvorsichtigen Moment nach mehreren Bieren
verraten, dass er in TOKYO MONOGATARI nur rein ist, weil er's
verwechselt hat mit TOKYO NAGAREMONO von Sejun Suzuki! Und
dass er, bis der Vorhang hochging, noch immer drauf gewartet
hat, dass da jetzt gleich die Yakuza sich bekriegen, in Cinemascope
und den wildesten Farben! Ha, und so einer tut so, als wüßte
er was.
Und überhaupt garantier' ich Ihnen: Irgendwelcher toller
Umgang mit Raum ist dem nicht halb so wichtig bei einem Film,
als dass hübsche Asiatinnen mitspielen. (Wobei er da
glaub' ich gar nicht so wählerisch ist: Hübsche
Französinnen, oder Ungarinnen oder was immer auch tun's
genauso.) Ja ja, immer feste schimpfen auf so Daumen-hoch-oder-runter-Wertungen
und Spannung/Action/Anspruch/Erotik/Humor-Kästchen in
Film- und Fernsehzeitschriften, und dann hat der selbst im
Hirn doch auch nix anderes als Formulare zum Ankreuzen: "Blutige
Shootouts/Anknüpfungspunkte für filmhistorisches
Fachwissen/Hübsche Asiatinnen," und so. (Bei der
Reihenfolge bin ich mir jetzt nicht sicher.)
Und außerdem habe ich schwer den Verdacht: Auf die Pressekonferenzen
geht er - außer, wenn dort hübsche Asiatinnen auf
dem Podium sitzen - doch auch nur wegen der süßen
Mikrofonreich...
(Ein Schuss aus dem Off.
Wir widmen diesen Artikel unserem viel zu früh heimgegangenen
Zwilling.)
*
IM REICH DER GLYCERIN-TRÄNEN
Geschimpft wurde reichlich, wie kalt es mal wieder (und diesmal
noch mehr als sonst) in der Bundeshauptstadt war. Aber Schnee
auf der Leinwand, das ist freilich was ganz anderes! Schnee
im Film, das gehört zu den schönsten Dingen im Kino
überhaupt - und es müßte das Filmmuseum unbedingt
mal eine Reihe mit Schneefilmen (und insbesondere: Winterwestern!)
bringen. IL GRANDE SILENZIO, THE CLAIM, FARGO, EDWARD SCISSORHANDS
könnten da beispielsweise laufen. Und: INTIMATE CONFESSIONS
OF A CHINESE CONCUBINE! Was eine Entdeckung im Rahmen der
wunderbaren kleinen Shaw Brothers-Hommage des Forums! Die
war ja insgesamt für nur fünf Filme erstaunlich
breit gefächert und sehr interessant (wie das religiöse
Leben Erlangens zu seligen NDW-Zeiten...). Natürlich
auch '70er Jahre Martial Arts-Klassiker aus Hong Kongs damals
wichtigster Filmeschmiede - 36TH CHAMBER OF THE SHAOLIN endlich
mal ungeschnitten und auf üppig bemessener Leinwand,
und King Hus COME DRINK WITH ME (wie Herr Peters richtig bemerkte
einer der weltschönsten Filmtitel), SEHR groß,
sehr nah an Sergio Leone und auch eine prima Ergänzung
zu HERO im Wettbewerb. (Eine King Hu-Reihe gehört auch
zu den Sachen, die das Filmmuseum mal DRINGEND veranstalten
sollte...) Aber dann eben auch zwei Musicals, einmal in unglaublichsten
Farben, mit traditioneller chinesischer Musik (zu der offenbar
auch Frühformen des Rap gehören!) und zunächst
einem sehr lustigen Kaiser auf Grillenfang, dann aber einem
ganz tragischen Ende THE KINGDOM & THE BEAUTY; zum anderen
nicht ganz so bunt, aber in Breitwand, mit '60er Jahre-Musik
(und man hat nicht wirklich gelebt, bis man nicht Cheng Pei
Pei im Trio mit zwei Filmschwestern ein A-Go-Go-Turnier gewinnen
gesehen hat!) und einer ebenso packenden Mischung aus Humor
und Dramatik, inklusive einer wirklich grusligen Geistererscheinung,
HONG KONG NOCTURNE.
(Nebenbemerkung: Zu den Vortielen von Festivals gehört
es auch, dass sich da zwischen Filmen immer wieder unerwartete
Querverbindungen auftun. Zhang Yimous HERO hätte ohne
den Erfolg von Ang Lees CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON wohl
schwerlich seine Finanzierung gefunden, und so war es besonders
passend, dass während der Berlinale "Jade Fox"
Cheng Pei Pei in jungen Jahren - und in Martial-Arts-Meilensteinen
- zu sehen war. Während ihr Tochter zugleich in Peter
Ho-Sun Chans HUI JIA - eine "extended version" der
Episode aus der Asien-Horro-Anthologie THREE - als schöne
Leiche zu sehen war. Was dort übrigens durchaus eine
der Hauptrollen ist.)
Und schließlich: INTIMATE CONFESSIONS, in dem im gleichen
Maße die Glycerintränen an den Wangen kullerten
wie die Glyerinschweißtropfen auf den Stirnen perlten,
inmitten herzerwärmenden Studio-Kunstschnees. Los ging's
wie ein übler Sexploitation-Film, mit verschleppten Maiden
und Jungfernschafts-Inspektionen bei Kerzenlicht. Aber dann
ein großer Rachefeldzug, using sex (among other things)
as a weapon; I SPIT ON YOUR GRAVE mit der Eleganz und Kunstfertigkeit
chinesischer Kalligraphie geschrieben - allein was da an poetischen
Sachen mit Großaufnahmen miteinander Sprechender alles
gemacht wurde, der Wahnsinn! Weil aber mit dem Süßen
auch immer das Bittere vom Schicksal verabreicht wird war
freilich genau das der einzige in keinerlei Weise restaurierte
Film der Reihe, und da konnte man sich nicht immer ganz sicher
sein, was da leise rieselnder Kunstschnee und was nur Alters-
und Gebrauchsspuren-bedingtes weißes Rauschen der Kopie
war...
*
SYMPATHIE FÜR WIEDERKEHRER
Wer einmal da war, der kommt immer wieder. Das ist nicht
nur ein beliebter Werbespruch der Tourismusbranche sondern
auch ein Motto der Berlinale. Keine Ahnung, ob es eine genaue
statistische Erhebung darüber gibt, aber gefühlsmäßig
würde ich sagen, dass bestimmt die Hälfte der Regisseure
und Hauptdarsteller, die mit einem neuen Werk vertreten waren
(oder jetzt in einer der unzähligen Jurys saßen)
schon früher einmal Filme auf der Berlinale laufen hatten.
Es war ein Festival der guten, alten Freunde.
Was unleugbar große Vorteile hat, wenn man die entsprechenden
Filmemacher schätzt. Wer weiß, wann und wo man
jemals SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE (BOKSUNEUN NAEGUT) zu sehen
bekommen hätte, wenn Park Chan-uk nicht schon mal seinen
großartigen JOINT SECURITY AREA im Wettbewerb hätte
laufen gehabt. Aber wo J.S.A. auf dem Felde der Hochglanz-Politthriller
hollywoodscher Prägung ackerte, nur mit mehr poetischer
Bildmacht und melodramatischer Tragik, da ist SYMPATHY FOR
MR. VENGEANCE noch am ehesten vergleichbar mit Filmen des
Meister-Verstörers Takashi Miike.
Sympathie - die hat Park hier mit all seinen Charakteren insoweit,
als er keinen verurteilt, als die Handlungen von allen verständlich
bleiben. Doch Mitleid, oder gar Gnade - das kennt der Film
nicht im Geringsten, weder mit seinen Figuren, noch mit seinen
Zuschauern.
Von den ersten Momenten an liegt eine grandiose Traurigkeit
über diesem Film, als hätte er das Ende schon fest
im Blick, während die Charaktere noch leben, lieben und
hoffen. Gerade das Lieben und Hoffen ist es aber, das in die
Katastrophe führt: Der junge, taubstumme Protagonist
will seiner Schwester eine Nierentransplantation schenken,
aber erst hat er zwar das Geld dafür, doch es fehlt ein
passendes Spenderorgan. Also wagt er sich zu illegalen Organhändlern
(deren "Klinik" im obersten Stockwerk eines unfertigen
Hochhauses ist), die ihm eine passende Niere besorgen - im
Tausch gegen eine seiner eigenen und eine hohe Gebühr.
Weshalb nun also wiederum das Geld fehlt. Zusammen mit seiner
Freundin, einer der letzten Marxisten Südkoreas, entführt
er daraufhin die kleine Tochter seines Ex-Chefs, von dem er
jüngst entlassen wurde. Und ab da geht erst recht alles
schief, zumal der Ex-Chef, aus Liebe zu seiner Tochter, auf
erbitterten Rachefeldzug geht... Das alles geschildert mit
einer durch und durch meisterhaften, elegischen Distanz, die
nie zynisch wird; mit einem Gespür für Bilder, Räume,
Rhythmen die atemberaubend ist. Mit einer Gewalttätigkeit,
die - vor allem, weil man die Charaktere so gut verstehen
lernt - oft wie ein richtiger Tritt in den Magen wirkt. Und
irgendwie schafft es Park auch noch, dem allen einen bizarren
Humor abzugewinnen.
Ein Film, der selbst mir letztlich zu heftig war, als dass
ich ihn direkt zu meinem Lieblingsfilm des Festivals hätte
ausrufen wollen. Aber kein anderes Werk hat mich auf dieser
Berlinale derart in die Mangel genommen, so tief eingesogen
und am Ende so wacklig aus dem Kinosessel entlassen.
*
WIR UNTERBRECHEN DIESEN TEXT FÜR EINE WICHTIGE MITTEILUNG
AN HERRN JACKIE CHAN:
LIEBER HERR CHAN, WIR DANKEN IHNEN HERZLICHST FÜR DAS
AUTOGRAMM UND GÖNNEN IHNEN DAFÜR OHNE DAS GERINGSTE
BEDAUERN UNSEREN FOLIENSTIFT (DER OHNEHIN SCHON RECHT ALT
UND LEERGESCHRIEBEN WAR). WENN SIE ABER DIE ZURÜCKGELASSENE
KAPPE ZU DEM STIFT NOCH BRAUCHEN, DANN MELDEN SIE SICH BITTE
ÜBER DIE UNTEN ANZUFINDENDE E-MAIL-ADRESSE. WIR WOLLEN
JA AUF KEINEN FALL, DASS SIE SICH SCHMUTZIG MACHEN. UND MIT
UNVERKAPPTEN FOLIENSTIFTEN GEHT DAS DOCH SO LEICHT.
*
DIE BESTEN GESCHICHTEN
Ergänzen Sie bitte diesen Satz: Das wahre Leben schreibt
doch... Oder, anders gesagt: Das Anschauen von Dokus führt
meist zur Feststellung, dass man sich eigentlich viel mehr
Dokus anschauen sollte. Denn während beim Spielfilm gilt
"It's the teller, not the tale", hat eine Doku schon
gewonnen, wenn sie ein gutes Thema hat und sich dann nicht
völlig grob fahrlässig dumm anstellt.
Beweisstück A: POWER TRIP. Der dem Genre sicher formal
keine neuen Welten erschließt. Aber was eine Story!
Der amerikanische Energieliefer-Gigant AES macht sich auf
nach Georgien, um im ehemaligen Sowjet-Staat die Stromverteilung
geregelt (und selbstverständlich: bezahlt) zu bekommen.
Also ein Film über den bösen Kapitalismus und seine
ruchlose Ausweitung der Kampfzone? Weit gefehlt. Denn es schmeckt
den Bürgern der Stadt Tblisi zwar anfangs keineswegs,
dass sie nun für etwas zahlen sollen, das sie bisher
gewohnt waren, sich zumeist auf kostenfreiem Weg zu besorgen;
mit Strom-Abzapf-Konstruktionen, die die Grenze zum Lebensgefährlichen
sowieso, teils scheinbar aber geradezu die Gesetze des physikalisch
Möglichen überschritten. Mit der Zeit aber wird
dem Film "Strom" immer mehr zur Metapher für
Macht überhaupt, werden die Kreise, in denen dieses scheinbar
einfache Geschäft sich verfängt immer größer,
grundlegender und verschlungener. Und AES wird für die
Georgier (zumindest zeigt der Film es so) immer mehr zum Hoffnungsträger:
Verkörpernd die Utopie eines Systems, in dem zuverlässig
und transparent Leistung und Gegenleistung zusammenhängen;
in dem wenigstens einen Winter lang einmal Tblisi durchgängig
mit Strom versorgt ist. Und in dem nicht allein der Verwandschaftsgrad
zu Präsident Schevardnaze darüber entscheidet, ob
man etwas bekommt oder nicht.
In gewisser Weise war POWER TRIP damit eine prima Doku-Ergänzung
zum Abschlussfilm GANGS OF NEW YORK (der andernorts mit einer
eigenen Hymne bedacht werden soll, um den Rahmen dieses Berichts
nicht komplett zu sprengen): Auch da geht es ja um die Ablösung
eines alten Systems durch ein neues, geht es um die Durchsetzung
dessen, was wir als Zivilisiertheit betrachten.
Beweisstück B: HERR WICHMANN VON DER CDU, vom heimlichen
Gewinner der letzten Berlinale, Andreas Dresen. Dokument einer
verlorenen Zeit, als es noch Bundesländer (in diesem
Fall: Brandenburg) gab, in denen der SPD über 50% Stimmanteil
sicher waren - September 2002. Und also ein Herr Wichmann,
Direktkandidat der CDU, dort einen vergeblichen Windmühlenkampf
führte beim Versuch, "frischen Wind in die Politik"
zu bringen, wobei ihm meist einfach nur sein (seltsamerweise
roter) CDU-Sonnenschirm um- und fortgeweht wurde. Unter dem
er sich allüberall im Wahlkreis postierte, um hauptsächlich
Kugelschreiber zu verteilen, nebensächlich aber auch
die immergleichen Sprüche abzulassen von den bösen,
Industrieansiedlung-verhindernden Umweltschützern mit
ihren "Trockenwiesen und Fröschen" und ansonsten
den diskussionswilligen Leuten schön brav ihre meist
ausländerfeindlichen Stammtischsätze mit nur leicht
abmilderndem "Na ja..." gutzuheißen, in der
Hoffnung, dass ihn daraufhin doch irgendwer wählt.
Ziel des Filmes ist es dabei keineswegs, Herrn Wichmann bloßzustellen
(obwohl der das teilweise selbst ganz gut erledigt). Es geht
um ein Bild von Politik, oder genauer: Wahlkampf, auf der
untersten, direktesten Ebene. Als solches ist der Film in
gleichen Maßen absurd, komisch, ernüchternd und
pessimistisch. Dazu geht es um ein Bild von einer Randregion
Deutschlands, und da verschiebt sich der Eindruck deutlich
hin zum Erschreckenden: Auch wenn es einer delirierenden Komik
nicht entbehrt, wenn da beispielsweise im Wurstbuden-Biergarten
zur Heino-Platte die Nationalhymne abgesungen wird und dabei
die Kinder einen Fackelzug veranstalten müssen. Dann
aber gibt es noch diese Szene im Altersheim, in das sich Herr
Wichmann auf Stimmenfang begibt, woselbst ihm aber sehr bald
die Sprüche ausgehen. Was nichts mit Politik und auch
nicht viel mit Herrn Wichmann zu tun hat: Da gerät der
Film durch die zufälligen äußeren Umstände
plötzlich an Themen, neben denen sich seine eigentlich
beabsichtigten sehr klein ausnehmen. Da kann er nicht anders
als tieftraurig-nüchtern zu berichten über Einsamkeit,
Hinfälligkeit und Sterblichkeit; über Konditionen
menschlicher Existenz, bei denen Politik, Sprache und Bilder
gleichermaßen blass und machtlos werden.
*
KEIN PREIS GEHT AN... (3. ABTEILUNG, BEINHALTEND DEN GEGANGENEN
PREIS)
Schließlich waren da im Wettbewerb selbstverständlich
all die Quoten-Filme, von denen kaum je wirklich erwartet
wird dass sie anderes erreichen als sicherzustellen, dass
das afrikanische Kino repräsentiert ist und genug Werke
über Straßenkinder oder sonstige bedauernswerte
Randgruppen das Gewissen beruhigen, indem man sich anderthalb
Stunden in absolut sicherem Rahmen ein schlechtes solches
machen darf. In gewisser Weise zählen dazu auch die deutschen
Beiträge, auch wenn die dieses Jahr ihren Platz im Wettbewerb
viel eher qualitativ zu rechtfertigen wussten als 2002; Oskar
Röhlers DER ALTE AFFE ANGST möglicherweise ausgenommen,
von dem nie anderes zu hören war als dass man recht daran
getan hatte, wenn man ihn sich gleich ersparte.
Patrice Chéreau hingegen hat schon einen noch reichlich
frischen Goldenen Bären im Regal, was SON FRÈRE
von vornherein auf ziemlich aussichtslosen Posten stellte;
Zhang Yimous HERO war viel zu sehr pures, fantastisches, bild-,
farb-, musik- und illusionsfreudiges Kino, um hier Gnade zu
finden. Und Spike Lees THE 25TH HOUR kam für einen Bären
nicht in Frage, weil... Tja, warum eigentlich nicht? Wo es
doch sein überzeugendster Film seit Jahren ist; eine
im Privaten gespiegelte, große, fast epische Post-11.09.01-New
York-Elegie, die Raum hat sowohl für eine vitriolversprühende
Hasstiraden-Fantasie und einen paradiesischen Traum von Amerika.
Ein grandios gespielter, grundmusikalischer Film, dessen Atmosphäre
fast mit Händen zu greifen ist - und endlich mal wieder
ein Werk, in dem Lee nicht doziert und belehrt, in dem er
nicht WEISS sondern FÜHLT.
Der Goldene Bär für IN THIS WORLD geht trotzdem
in Ordnung, auch wenn zu befürchten ist, dass der Film
ihn weniger wegen (oder gar: trotz) seiner letzte Woche beschriebenen
Qualitäten bekommen hat und mehr aus thematisch-politischen
Erwägungen; dass also unter Umständen eher der Film
ausgezeichnet wurde, den man aufgrund einer Inhaltsangabe
erwarten würde als der wirklich auf der Leinwand zu sehende.
So oder so, Michael Winterbottom erhält den güldenen
Meister Petz zu Recht allein schon deswegen, weil er ihn vor
zwei Jahren für THE CLAIM schon hätte kriegen müssen.
*
GENIALES MEISTERWERK, WIE GEHABT
Noch so eine Berlinale-Tradition, wenn auch zuletzt nicht
ganz so regelmäßig wie Johnnie To-Premieren: Sabu
kommt, stellt sich vor als Genie, kündigt seinen neuen
Film als Meisterwerk an, macht ein Foto vom Publikum. Und
dann kommt der Film, und unverschämterweise hat Sabu
mit seiner großen Schnauze auch jedesmal recht. Dieses
Jahr hat er immerhin selbst festgestellt er komme jedesmal,
stelle sich als Genie vor, kündige an sein Film sei ein
Meisterwerk und mache dann ein Foto vom Publikum. Um dann
genau das zu tun.
Und vielleicht hatte er mit der Meisterwerk-Behauptung bei
THE BLESSING BELL (KOUFUKU NO KANE) sogar noch ein bisschen
mehr recht als sonst schon immer.
(Es ist ein bisschen schwer, diesen Film angemessen zu preisen,
ohne dabei gleich viel zu viel zu verraten, deswegen sollten
sicherheitshalber jetzt mal alle weglesen, die noch hoffen,
THE BLESSING BELL irgendwann zu sehen zu bekommen. Die Chancen
auf einen deutschen Verleih stehen übrigens gar nicht
schlecht...)
Wenn man beschreibt, wie extrem ruhig, reduziert, superstreng,
ultragenau dieser Film zu Werke geht, klingt das wahrscheinlich
sofort nach klassischer japanischer Schule, ohne dass das
Wichtigste dabei bewusst würde: Nämlich wie rasend
komisch dies alles zugleich ist. Das Berlinale-Programmjournal
zog den Vergleich zu Kaurismäki, und der ist nicht verkehrt;
aber noch viel mehr fühlte ich mich an Jacques Tati erinnert:
Das ist die selbe hohe Schule eines Humors, der ganz auf Rhythmus
beruht. Susumu Terajima könnte man in THE BLESSING BELL
auch durchaus als einen ganz entfernten, japanischen Verwandten
von Monsieur Hulot sehen: Völlig wortlos und ziemlich
frei von emotionaler Regung streift er durch die Gegend -
auf der Leinwand stets von links nach rechts - und tappt dabei
in eine absurde Episode nach der anderen. Er erlebt unter
anderem den Tod eines Yakuza, wird als vermeintlicher Mörder
verhaftet, sieht einen Geist, gewinnt Millionen im Lotto,
rettet ein Kind, verliert die Lottomillionen wieder... (Den
Geist spielt übrigens kein geringerer als Seijun Suzuki
- laut Sabu nicht als Verneigung gegenüber dessen Werk,
sondern weil es in Japan so wenige alte Männer als Schauspieler
gäbe...)
Das wäre alles an sich schon reichlich genial, aber man
kennt ja das alte Problem bei solch völlig episodischen
Geschichten: Sie sind schwer zu einem überzeugenden Ende
zu bringen. Und da zieht THE BLESSING BELL seinen brillantesten
Trumpf: Zum Finale RENNT sein Held die gesamte Strecke des
Films zurück, nun von rechts nach links durch alle erlebten
Stationen. Kehrt heim - der vermeintlich stoische Einzelgänger
und Outsider - in ein Einfamilienhaus, wo Frau und Kind auf
ihn warten. Und beginnt - nachdem er den ganzen Film kein
einziges Wort gesagt hat - mit belanglosem Smalltalk. Über
allem japanisches Abendglockenläuten.
Es gab tatsächlich einen im Publikum, der das so 1:1
nahm, dass er sich bei der anschließenden Diskussion
bemüßigt fühlte zu fragen, warum Sabu denn
die Kleinfamilie als Lösung aller Probleme sähe...
*
SCHWEIN
Sie wollen jetzt auch noch wissen, was der allerschönste,
also der wirklich allerallerschönste Film der ganzen
schönen Berlinale war? Tja, der lief gar nicht im offiziellen
Programm, sondern auf dem Filmmarkt, im Unterbauch des Maxx,
bis in den keinerlei Glamour vordringt; wo alles nach Arbeit
und Geschäft riecht, die Kinos schmucklose 40-Plätze-Schachteln
sind und die Besucher (außer ein paar eingeschlichenen
Journalisten) keine Filmfans, sondern Einkäufer.
Den schönen Titel trug er MY LIFE AS MCDULL, und ein
Zeichentrickfilm aus Hong Kong war's, über ein kleines
Schwein, dessen Mutter hochfliegende Pläne für es
hat und das selbst davon träumt, etwas Großes zu
werden (zum Beispiel Olympiasieger im "Bunsnatching"
- für Bayern: Semmelstehlen, für Berliner: Schrippenschnappen
-, einer ausgestorbenen Traditions"sportart" einer
chinesischen Provinz). Das aber viel zu traumduselig und dödelig
ist für alles, und zu unattraktiv obendrein.
Das war a) ein unglaublich süßer Film b) einer
der visuell weitaus am verrücktesten und innovativsten
dieser zwei Kinowochen c) voller bizarrer Gags und vor allem
d) schlussendlich ganz unerwartet ein wirklich tiefer, gar
nichts verniedlichender, großer Film über die Enttäuschung
im Leben. Leider ging dann aber meine Ein-Mann-Demo "Einen
Bär für das Schwein!" im Anti-Kriegs-Protestmarsch
ein wenig unter.
*
DIE RÜCKKEHR DER REQUISITEURIN
Also, nun doch endlich zurück zu unserer Requisiteurin
vom Anfang, die dabei war, jede Hoffnung für's Kino zu
verlieren. Diese Dame ist eine Figur aus LAST SCENE von Hideo
Nakata (auch so ein Wiederkehrer: sein DARK WATER war letztes
Jahr einer der wenigen Lichtblicke).
Es war der vorletzte Film, den ich mir auf der Berlinale angeschaut
habe, und eine schönere, wärmere Liebeserklärung
ans Kino hätte ich mir zum Abschluss gar nicht wünschen
können.
Besagte junge Requisiteurin arbeitet in LAST SCENE wie erzählt
bei einer Kino-Version einer TV-Arztserie, mit einem trotteligen,
planlosen Jungregisseur (dessen prägendes Filmerlebnis,
das ihn seinen Berufswunsch fassen ließ, THE OMEN 2
war...), einer weitgehend uninteressierten Crew und unfähigen
Schauspielern, in einem Studio am Rande der Pleite.
Aber da ist dieser Nebendarsteller, ein alter Mann, der einen
sterbenden Krebspatienten zu verkörpern hat. Seit 40
Jahren war er in keinem Film zu sehen, nachdem es in den '60ern
mit seinem Ruhm fast über nacht zu Ende gegangen war.
Damals war er nicht einmal ein besonders engagierter oder
liebenswerter Vertreter seiner Zunft - ehrlich gesagt sogar
ein ziemliches Arschloch. Aber jetzt will er noch ein einziges
Mal auf die Leinwand. Fast verliert er die Chance dazu, weil
er sich seinen Text einfach nicht merken kann und die Zeit
drängt, seine Szene gestrichen zu werden droht. Aber
dann erscheint ihm seine tote Frau, probt mit ihm den Text.
Die junge Requisiteurin und die paar alten Hasen im Team reißen
sich zusammen, entdecken plötzlich wieder ihre Liebe
zum Detail, zum Perfektionismus, nehmen Regisseur und tobendem
Produzenten das Heft aus der Hand. Auf einmal ist es da, das
Gute, Wahre, Schöne, inmitten all des Falschen und Zynischen
dieser belanglosen Produktion. So stark, dass selbst die Fernsehschauspieler
es spüren, angesteckt werden.
Es wird eine Szene von herzzerreißender Größe.
Man weiß: Sehr lange wird der alte Schauspieler sie
nicht überleben. Aber die Requisiteurin, die die ganze
Zeit während der Großaufnahme am Bühnen-Sterbebett
saß als wäre es ein echtes, sieht ihn danach an
und verspricht: Sie wird nie auffhören, Filme zu machen.
Selbst wenn diese Berlinale nicht voll gewesen wäre
von begeisternden Werken, wenn sie nicht eine solche Feier
gewesen wäre des Films und seiner Möglichkeiten;
ja, wenn es sonst keinen einzigen erträglichen Streifen
gegeben hätte auf dem ganzen Festival: Hier, am Schluss
von LAST SCENE, dieser wunderschönen Ode von tiefstem
Herzen, hätte man zusammen mit der jungen Requisiteurin
den Glauben an die Magie des Kinos zurückgewonnen.
Thomas Willmann
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