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Filmfest München 2003 17.07.2003
 
 
Nichts ist mehr möglich
Das Filmfest München feiert die Sehnsucht nach den Seventies
Ausgepowert: Die "Helden" in SPUN
 
 
 
 

Seltsam, wie harmlos das alles ist: Gewalt, Sex und - klar - vor allem Drogen gibt's genug in SPUN, sowie Versuche, Kamera und Schnitt im Eiltempo neue Kunststücke abzutrotzen. Und das ist ja auch alles ganz amüsant, fun while it lasts, sehenswert schon allein wegen Mickey Rourke als Drogenkoch-Cowboy. Aber Jonas Åkerlunds Speed-Junkie-Dramödie, Kinodebut des Videoclip-Meisters, glaubt wohl selbst nicht dran, dass sie noch irgendwas bewegen könnte, irgendwen im Innersten berühren, treffen, oder dass sie irgendwelche neuen Bahnen brechen würde. Es ist ein leerer Film - kein Film leider ÜBER die Leere des Speed-Rauschs - der mit der Ästhetik des Tabubruchs spielt, ohne an Tabus zu glauben; der Kindergeburtstags-Geist von JACKASS herrscht hier, das Spiel mit der kurzzeitigen Coolness von Ekligem, die Freude eines jungen Publikums an Dingen, von denen es hofft, dass die Eltern sie ganz furchtbar fänden. Aber nach dem Ende des Films bleibt kaum was davon hängen, und verändert hat sich nichts; nicht in der eigenen Anschauung, nicht in der Entwicklung des Kinos, nicht in der Welt. SPUN vermittelt auch nicht den Eindruck, als hätte er je ernsthaft gehofft, solche Spuren hinterlassen zu können.
Die Zeit solcher Illusionen ist vorbei. Die skeptische Sehnsucht nach solchen Zeiten scheint zu wachsen.

Die frühen Seventies waren eins der großen Themen dieses Münchner Filmfests. Das Programm (insbesondere der American Independents, der mühelos mit Abstand besten Reihe des Festivals) war voll mit Dokus über alternde Männer (und gelegentlich auch Frauen), die erzählen, was sie in den Jahren um und kurz nach '68 alles Großartiges gemacht haben - und warum sie es heute so nicht mehr tun. Allein zwei Filme, EASY RIDERS, RAGING BULLS und A DECADE UNDER THE INFLUENCE widmeten sich dem amerikanischen Kino der frühen 1970er, dem "New Hollywood"; von Musikrevolutionären der Zeit, der einflussreichen Band MC5, von Hippie-Floßfahreren auf dem Colorado-River und von veritablen Terroristen handelten andere (MC5 - A TRUE TESTIMONIAL, THE SAME RIVER TWICE und THE WEATHER UNDERGROUND). Und streng genommen gehört sogar Oliver Stones Fidel Castro-Interview COMMANDANTE in diese Kategorie...
(Nebenbei: Dass so viele Dokus im regulären Programm zu sehen waren, setzt einen Trend fort, der in jüngster Zeit auf vielen Festivals zu beobachten ist. Dahinter steckt wohl auch ein Gefühl, dass der fiktionale Film eine gewisse Erschöpfung an den Tag legt, dass er es seltener als früher schafft, uns einen Blick auf ganz neue Welten zu eröffnen oder ganz neue Blicke auf unsere Welt. Und dass er oft zu eingefahren, voreingenommen ist, wenn er "nur" versucht, die Welt abzubilden. Da hat der Dokumentarfilm prinzipbedingt die offeneren Augen - und sein Gelingen ist weniger an formale Meisterschaft geknüpft: Einer halbwegs ordentlich gemachten Doku reicht ein spannendes Thema, um zu fesseln.)
Die Zeit der '68er ist inzwischen weit genug weg gerückt, dass sie sich für zusammenfassende, ordnende Dokumentation eignet, dass sie mit einer gewissen Ironie gesehen werden kann, ihre Kämpfe eher interessiert-mildes Lächeln wecken als Erinnerungen an noch immer frische Wunden. Und unsere Ära ist so anders, dass sie vieles vermisst von damals.
Eine gewisse Nostalgie ist bei fast allen der interviewten Protagonisten zu spüren, auch bei denen, die den Kampf freiwillig und aus Überzeugung aufgegeben haben, angepasst und bürgerlich geworden sind. Mehr noch bei denen, denen die Kraft und die Möglichkeiten ausgegangen sind, sich weiter gegen den Mainstream zu stemmen. Und dann immer die wenigen, für die sich nichts geändert hat, außer dass sich die Welt nicht mehr sonderlich für sie interessiert, die tief in ihrem Kopf mit den alten Feindbildern weiterleben, nicht selten verbittert, verhärmt. Vielleicht hatten nicht immer die das schlimmste Schicksal, die gestorben sind, als ihre Ideale noch haltbar sind.

And den gealterten Dauer-Rebellen sieht man am besten, wo das Problem mit der Sehnsucht nach den Sechzigern, Siebzigern liegt: So gern würden wir etwas zurückgewinnen von deren Frische, dem Entdeckergeist, dem Gefühl, dass alles möglich ist, dass man sich die Welt nach seinem Bilde formen kann. Aber das ist schwer zu haben ohne eine Welt(sicht), in der die Rollen von Gut und Böse ziemlich klar verteilt sind, in der es Dinge gibt, die man bedenkenlos und mit gutem Gewissen kaputthauen mag. Das Revolutionäre braucht ein Altes, das es ohne Unterschied wegfegen möchte. Und das umgekehrt die Revolution auch als solche ansieht, sie als Gefahr betrachtet.
Dass diejenigen, die heute etwas verändern wollen am status quo, zumeist die Dinge komplexer sehen, dass sie nicht mehr ein "Schweinesystem" positionieren, das in all seinen Manifestationen und mit all seinen Vertretern sozusagen zum Abschuss freigegeben ist, mag dem revolutionären Impetus schaden, aber es ist ein Zeichen der Reife. In diesem Punkt kann man sich eine Rückkehr zu den alten "Idealen" auch nicht ernsthaft wünschen.
Aber auch da, wo wir uns auf rein ästhetischen Schlachtfeldern befinden, in Film, Musik, Literatur, Kunst, ist es ungleich schwieriger geworden, Gegenpositionen zu beziehen. Nicht nur, weil die noch gänzlich unerprobten Möglichkeiten dieser Künste immer schneller schrumpfen - was immer man probiert, man kann fast sicher sein, dass irgendwer irgendwo schon Ähnliches gemacht hat, zumal gerade im Kino die Stilwechsel nicht mehr epochen- sondern wochenweise stattzufinden scheinen. Sondern vor allem, weil immer weniger eine monolithische, allgemeinverbindliche Kultur zu greifen ist, die als Basis jeder ästhetischen Auseinandersetzung dienen könnte. Alles verwuselt sich in Sparten und Nischen, und die wenigen Dinge, die noch eine ganz große und demographisch halbwegs breit gestreute Masse erreichen, wie "Wetten, dass...?", sind nur schwer als ernstzunehmende Kulturleistungen aufzufassen, mit denen man in einen ästhetischen Diskurs treten könnte.
Die Helden des "New Hollywood" hatten noch als Folie die Filme eines Studiosystems, dessen Regeln, wie Kino gemacht zu sein und auszusehen hat, ziemlich fest, eng und allen vertraut waren. Man spürt den frühen Werken dieser jungen, wilden Garde noch heute an, welch Abenteuer es damals war, die Kamera vom Stativ zu holen, auf der Straße zu drehen, das Erzählen für sich neu zu erfinden - und nicht zuletzt bekam man bei den Filmfest-Dokus über diese Zeit wieder unbändig Lust, diese Streifen zu sehen. Und das Verrückte: Damals, als die strenge Vertriebsbindung von den großen Studios zu den Kinos weggebröckelt war, erreichten diese Filme auch noch ein Publikum, das gänzlich unvorbereitet auf sie war.
Inzwischen ist es wieder ganz undenkbar geworden, dass jemand z.B. am Samstag abend ins Cinemaxx in den großen Saal ginge und ihn dort ein Lars von Trier-Film erwartete. Das kapitalistische System entschärft potentiell subversive Kulturprodukte nicht, indem es sie verbietet, sondern indem es sie immer effizienter in spezialisierte Vertriebswege kanalisiert. Immer geringer wird die Gefahr, dass Menschen mit Gedankengut konfrontiert werden könnten, dass sie erschüttert, herausreißt aus ihrer bisherigen Meinung. Vor wenigen Jahrzehnten hätte ein Film wie SPUN ungeheure Skandale ausgelöst. Und es ist ja nicht so, dass es nicht auch heute noch katholische Landfrauenverbände oder Clubs der sauberen jungdynamischen Unternehmer gäbe, die man mit dem Film durchaus tief schockieren könnte. Der große Unterschied: Sie werden ihn kaum je zu sehen bekommen, denn er wird seinen Weg an ihnen vorbei direkt zum Zielpublikum finden. Und das gilt genauso in umgekehrter Richtung: Der vermeintlich Radikale muss sich nicht mehr abarbeiten an einem großen Massengeschmack, er kann sich rund um die Uhr problemlos versorgen mit medialen Erzeugnissen, die sein Weltbild teilen und bestätigen.

Das Filmfest selbst war dieses Jahr auch ein Beweis dafür, wie bequem es sich die meisten in ihren Nischen einrichten. Die üblichen deutschen Branchen-Nasen bleiben weitgehend unter sich und feiern sich selbst; zum Großteil sieht man bei den einzelnen Filmreihen jeweils wieder und wieder die gleichen Cineasten-Gesichter im Saal; und es hat sich längst so eine gewisse Kategorie des "Festivalfilms" etabliert - besonders beliebt dafür sind konventionell mit einem Stich ins Poetische erzählte Dramen über soziale Problemgruppen, am besten aus fernen Ländern -, der vielleicht in seinem Heimatland mal kurz die Arthouse-Runde macht und dereinst nach Mitternacht auf 3sat wiederzufinden ist, der aber keinen wirklichen Wirkungskreis mehr hat außerhalb seiner Welttournee durch das Beiprogramm sämtlicher Filmfeste.
Man darf sich angesichts dessen gar nicht mal so groß wundern, dass das Publikum weniger entdeckungsfreudig zu werden scheint. (Ich nehme mich da gar nicht aus: Das Münchner Filmfest hat nun mal seine Hauptschwerpunkte auf aktuellen deutschen (Fernseh-)Filmen und bildungsbürgerlichem "Weltkino" insbesondere aus Lateinamerika und Osteuropa - allesamt Formen von Film, mit denen ich nur in seltenen Ausnahmefällen irgendetwas anfangen kann. Mithin meine persönliche Auswahl eher unrepräsentativ für's Ganze: Ich habe mich einmal mehr fast ausschließlich bei den "American Independents" und der Retro getummelt, mit diversen Ausflügen ins Filmland Frankreich.) In so wenigen ausverkauften Vorstellungen wie in diesem Jahr habe ich auf dem Münchner Filmfest persönlich noch nie gesessen, und ich hatte nicht den Eindruck, dass dies nur ein Zufall meiner individuellen Programmzusammenstellung war: Man fühlte so wenig Strahlkraft auf diesem Festival, es schien ungebührlich wenig Beachtung, Resonanz zu finden in der Stadt, der Welt, da draußen jenseits der Leinwände.


Die Rückkehr der '70er ins Bewusstsein beschränkte sich auf dem Filmfest keineswegs auf die Dokus der "American Indies". Die Zeit der (versuchten) Revolution und hier speziell des politisch motivierten Terrors drängte sich ganz buchstäblich wieder herein im Herzstück von Lucas Belvauxs Trilogie UN COUPLE ÉPATANT, CAVALE und APRÈS LA VIE. Diese Trilogie schon rein formal ein Versuch, etwas Neues zu machen, Grenzen zu sprengen: Drei Filme aus drei unterschiedlichen Genres, deren Handlungen parallell spielen und deren Personal sich überschneidet. Nicht nur ein prinzipiell spannendes Konzept: Das Resultat wirkte erstaunlich wenig nach Konzept-Film, jedes der drei Werke für sich einzeln genommen stimmig und überzeugend, und das Zusammenwirken der Filme - obwohl es ungeheuer clevere Konstruktions-Arbeit voraussetzt - nie konstruiert. Unaufdringlich, aber unausweichlich erfuhr, nein: spürte man da etwas vom Ausschnitthaftev jeder Wahrnehmung und jeder Geschichte, davon, wie stark das Genre, der Ton eines Films prägt, was wir in seiner Welt für möglich halten, und davon, wie leichtsinnig wir uns aus ein paar Indizien und der Gefühlslage heraus Urteile über Charaktere zusammenreimen.
Sieht man die Filme in der vom Regisseur bevorzugten (aber nicht diktierten) Reihenfolge und beginnt mit der munteren Beziehungs-Paranoia-Komödie UN COUPLE ÉPATANT, dann ist es geradezu ein Schock, wenn wir deren Randfigur Bruno (gespielt von Lucas Belvaux selbst) im Thriller CAVALE als Protagonisten näher kennen lernen. (Der Kontrast zwischen UN COUPLE ÉPATANT und CAVALE ist am eklatantesten - APRÈS LA VIE, das Drama um einen Polizisten und seine drogenabhängige Frau, bringt danach keine neuen Grundtöne, keine radikalen Umdeutungen mehr, sondern füllt auf mit den von allen drei Werken kompliziertesten emotionalen und moralischen Grauschattierungen.) In UN COUPLE ÉPATANT taucht Bruno gegen Ende als Flüchtender auf, wovor wissen wir nicht, und er hat unsere Sympathie - etwas Gefährliches trauen wir ihm nicht zu, schon weil wir uns in einer Komödie befinden, und beim Happy End scheint er mit der Perspektive bedacht, dass auch für ihn alles gut wird. Wir lachen über den "Helden" von UN COUPLE ÉPATANT, der gerade dabei ist, sich eine große Verschwörung um sich herum zusammenzufantasieren und der Bruno darin - weil er ihn ein italienisches Lied singen hört - die Rolle eines Mafia-Gangsters zudenkt.
Die Ironie: Es ist alles viel schlimmer. Auch am Anfang von CAVALE sind wir auf Brunos Seite, weil wir ihn bei einem Gefängnisausbruch begleiten, der Film seine Perspektive einnimmt und wir ihn also unhinterfragt (und geschult von unzähligen Ausbrecher-Filmen, in denen die Entflohenen stets mehr oder minder zu Unrecht im Gefängnis saßen) als unseren Helden akzeptieren. In seiner wortlosen Methodik erinnert der Film da nicht nur thematisch an Bressons UN CONDAMNÉ À MORT S'EST ÉCHAPPÉ. Nach und nach aber erfahren wir, dass Bruno Mitglied einer Terrorgruppe war, und er taucht wieder auf im Leben von Menschen, die einst seine Gefährten waren und heute daran am liebsten nicht mehr erinnert würden. Ohne Bruno (oder die Aussteiger) platt zu denunzieren, ohne die Ordnung der Welt schöner zu reden, als sie ist, ohne einen "richtigen" Weg zu preisen, schafft es CAVALE, greifbar zu machen, wie beängstigend es wirklich ist, wenn jemand beschließt, dass die Verfolgung seiner Ideale und Ziele auch den Tod anderer Menschen rechtfertigt. Nie geht es dem Film darum, Bruno vom "System" einfangen zu lassen, einer "gerechten", die Normalität wieder absichernden Strafe zuzuführen. Aber wann immer Bruno anfängt, sein Tun mit abgespulten Polit-Parolen zu verbrämen, dann schreit in diesem Film dazu das Wissen heraus, dass es so nicht gehen kann - dass auch das nur eine Sprache der Unmenschen ist. (In den oben angesprochenen Dokus wurde übrigens des öfteren zugegeben, dass zumindest mancher einst den ganzen politischen Überbau nicht sonderlich ernst nahm, Hauptsche das Resultat waren Sex & Drugs & Rock'n'Roll.) Bei Belvaux hat die Welt keinen Platz mehr für einen wie Bruno - eben auch nicht den, an ihm ein öffentliches Exempel zu statuieren -, sie treibt ihn in die Einsamkeit und wird ihn am Ende buchstäblich verschlucken.


Und dann nochmal die Siebziger Jahre und was damals (mit sehr respektablem kommerziellem Erfolg) möglich war: In der (überhaupt sehr gelungenen) "Münchner Filmgeschichten"-Reihe im Filmmuseum endlich einmal wieder Dario Argentos Meisterwerk SUSPIRIA auf großer Leinwand (wenngleich in einer leicht geschnittenen Fassung und mit zu leise gedrehtem Ton...). Und da konnte man einmal mehr nostalgisch werden: Dass das ging, eine solch opulente europäische Genre-Produktion, die zugleich ganz allein einer persönlichen Vision verpflichtet ist und keinerlei Zugeständnisse an vermeintliche Notwendigkeiten oder Publikumserwartungen macht. Ein Horrorfilm, der überwältigend sinnlich ist und zugleich ein Kinoessay über Raum, Ornament und Farbe, wie ihn Antonioni kaum dichter hinbekommen hätte. Und vor allem ein Film, der sich ganz auf die puren, manchmal an die Grenze zur Abstraktion getriebnenen Mittel des Kinos verlässt: Bilder, Bewegungen, Töne - verbunden zu einer Geographie des Unbewussten, mit einer Logik des Nachtmahrs. Vielleicht der einzige Film des ganzen Festivals, der voll und ganz dessen Motto gerecht wurde: "Träume mit offenen Augen".

Thomas Willmann

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