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"Das alles war eine flüssige Welt" schreibt
Beckett in einer seiner Erzählungen, "Das Ende".
Und liquid ist auch die Welt eines Festivals, wo man nach
einigen Tagen kaum mehr zwischen inneren und äußeren
Bildern, eigener Erinnerung und dem Gedächtnis des Kinos
unterscheiden kann. Wo man den Figuren eines Filmes auf der
Straße zu begegnen meint. Wo man durch die (Kino-) Zeiten
schwimmt, von damals nach heute und wieder zurück.
So trifft man in MUXMÄUSCHENSTILL, dem Gewinner des
diesjährigen Max-Ophüls-Preises, der in der Perspektive
deutsches Kino läuft, einen entfernten Verwandten des
TAXI DRIVER (1975/76), der in der Retrospektive sein Unwesen
treibt. Dazwischen liegen 28 Jahre, in denen Travis Bickle
seine existentielle Verzweiflung abgestreift hat, die Wut
verflogen ist. Der Hass auf die Welt hat sich verwandelt,
mit "deutscher" Ordnungsliebe bahnt sich Mux seinen
Weg durch die Welt, erzieht moralisch, stöbert im Tiergarten
Vergewaltiger auf und bannt seine pädagogischen Maßnahmen
dann auf Video. Zuhause besitzt er ganze Regale solcher Situationen,
ein Don Quixote, angetreten gegen den Verfall jeglicher Werte.
Der Film baut auf seinem Charakter auf, der Rest ergibt sich
mehr oder weniger von selbst. Es macht Spaß dem Hauptdarsteller
Jan Henrik Stahlberg bei seiner Arbeit zuzusehen, er ist engagiert,
ironisch und ein bisschen verrückt. Eine echte Perspektive.
Verunsichernd in MUXMÄUSCHENSTILL ist vor allem die
Tatsache wie gerne man die 35 mm - Bilder, die mit den subjektiven,
innerfilmischen Bildern der Digitalkamera (denen man doch
so gerne das dokumentarischen Flair nachsagt) alternieren,
als eigentliche "Realität" akzeptiert. Chris
Doyle, der Kameramann von Wong Kar-Wai und Director of Photography
in unzähligen weiteren Filmen erzählt bei einer
Veranstaltung von der ersten Vorführung neuer digitaler
Projektoren in Hongkong. Der kindlichen Freude der Verantwortlichen,
dass das Bild endlich genau der Realität entspreche,
hielt Doyle entgegen, dass niemand, der ins Kino geht, die
Realität sehen wolle. Man kann ihm nur Recht geben. Die
Realität ist nicht die Welt des Kinos ist nicht die Welt
unserer Träume.
Treffen konnte man Chris Doyle bei einem Gespräch mit
Michael Ballhaus, einem anderen großen Kameramann. Der
signifikanteste Unterschied zwischen den beiden wurde schnell
klar: Ballhaus der Planer, im industriellen Umfeld der amerikanischen
Produktionsverhältnisse, Doyle der Abenteurer, der gemeinsam
mit Wong Kar-Wai und ohne Drehbuch einfach mal die Reise beginnt,
drei Tage lang die Einstellung mit der meisten Magie sucht
und erst dann das Drehen anfängt. Chaos gegen Kalkül.
Man muss Doyle gesehen haben, ein Entertainer, der beim Reden
aufspringt, wild gestikulierend seine Philosophie erklärt.
Von seiner hoffnungslos-obsessive Liebe zu Maggie Cheung erzählt.
Und von der Intimität des Kinos. In der Zuschauer, Kameramann
und Schauspieler nur zwei Linsen trennen (Kamera und Projektor).
Überhaupt seien seine Arbeiten mit Wong Kar-Wai immer
nur Variationen auf das Thema "Liebe". "But
we´re getting better."
15 Jahre ist er durch
die Welt gegondelt und erst dann, bei ein paar Bier in einer
asiatischen Bar, ergab sich die Möglichkeit für
seinen ersten Film. Gemeinsam mit Ballhaus ist ihm die subjektive
Sicht auf die Welt. Der Drang zu berichten, von den Dingen,
die sie sehen. Ihre Erfahrungen bringen sie ein. Man kann
die Welt sowieso nicht so abbilden, wie sie ist. Das Rot der
Welt wird nie das Rot der Realität sein. "Beautification"
nennt Doyle das.
Auf seine Art tut das auch Amos Vogel, den der Dokumentarfilm
FILM AS A SUBVERSIVE ART im Forum ehrt. Vogel ist einer im
Hintergrund, ohne den ein großer Teil von New Hollywood
vielleicht nie zustande gekommen wäre. Vogel bot mit
dem Cinema 16 in New York ein Forum (auch für Leute wie
John Cassavetes, der in der Retro mit FACES (1965-68) und
A WOMAN UNDER THE INFLUENCE (1974) vertreten sit und der seine
Credits nutzte, um Scorsese die Regie für ALICE DOESN´T
LIVE HERE ANYMORE (1974), einen weiteren Beitrag, zu ermöglichen).
Für Filme die keiner sehen wollte und Filme, die in keinem
anderen Kino gezeigt wurden. Vogel offenbart sich als Filmemacher
ohne Filme, unter seinem Blick fiktionalisiert und verändert
sich die Welt auf wunderbare Weise. In seiner Wohnung deutet
er auf das einfachste Photo an der Wand, eine Tür, die
von hinten von einer Hand geöffnet wird. Der Moment wird
zum magischen Augenblick, zum Geheimnis, dem Ausgangspunkt
für eine unendliche Anzahl von Geschichten. Vogel kennt
keine guten oder schlechten Filme, in seinen Augen gewinnt
alles Zelluloid seine ureigenste Qualität. Er schiebt
DER EWIGE JUDE, den übelsten Auswurf der Nazipropagandamaschine
an der amerikanischen Zensur vorbei, um ihn seinen Zuschauern
präsentieren zu können. Dabei ist er selbst Jude
und erst 1938, als die Nazis in Österreich einmarschierten,
mit seiner Familie aus Wien geflohen. Er führt Wissenschaftsfilme
vor, die in ihrem neuen Kontext unerwartete Energie entfalten.
In einem wird dem Probanden eine Brille aufgesetzt und ab
da sieht er alles seitenverkehrt. Aus links wird rechts. In
der ersten Szene warten ein Kaktus und Glas Wasser auf ihn.
Er versucht ständig das Glas zu greifen und langt immer
wieder in den Kaktus. Er muss komplett neu zu leben lernen.
Das filmische Dokument einer schrulligen Nutzlosigkeit verwandelt
sich unter Vogels Blick.
Dies gelingt auch Abdel Kechiche mit seinem Film L´ESQUIVE
im Panorama. Die Narration trägt Liebe und Romantik in
die Pariser Banlieues, ein Milieu dessen Sprache ohne acht
"Fucks" in einem Nebensatz nicht auszukommen scheint.
Kechiche behandelt seine Protagonisten mit einer Zärtlichkeit,
die an Lukas Moodyson erinnert. Seine Hauptfigur Krimo ist
ein Sprachloser, der seine Liebe zu einem Mädchen namens
Lydia einfach nicht verbalisieren kann. Er ergattert die Rolle
in einem Theaterstück, dass für die Schulaufführung
geprobt wird, neben seiner Angebeteten. L´ESQUIVE nimmt
nicht den leichten Weg, Krimo findet in der Rolle nicht zu
seiner Sprache, er bleibt alleine. Bestimmend sind die Diskurse,
die über ihn gehalten werden. Seine Freundin, die Schluss
macht, die Kämpfe zwischen ihr und Lydia um ihn. Der
verärgerte Versuch seines besten Freundes, die Situation
zu klären.
Einen ganz anderen Blick findet man dann in TITICUT FOLLIES
(1966/67). Es ist der kalte "direct cinema"-Blick,
mit dem William Greaves Geisteskranke in einem Gefängnis
zeigt. Ohne Kommentar. Nur die zufällige Begegnung zwischen
der Kamera und einer Situation. Man ist bei den Insassen,
nicht in ihnen. Weil sie keine Stimme haben, sich nicht ausdrücken
können, ihr Begehren, ihre Ängste. Es gibt nur monotones
Geplapper. Ohne Innenleben fehlen den Bildern die Charaktere,
der narrative Bezug, sie werden zu reinen Sensationen (die
Vorbereitungen zu einer Bestattung, bei denen dem Toten Watte
in die Augenhöhlen geschoben wird / ein morbider, nackter
Tanz in einer Zelle / Ernährung durch einen Schlauch
in der Nase eines Insassen). Das ist auch New Hollywood. Voice
of the Voiceless. Es wird nichts erklärt, aber die Häftlinge
werden sichtbar gemacht, präsent.
Ihre Sprache und ihren Ausdruck in ihrer Rolle versuchen
DIE SPIELWÜTIGEN von Andres Veiel zu finden. Der Dokumentarfilm
zeigt das Leben von vier Studenten der Schauspielschule Ernst
Busch und ihren Leidensweg durch das Studium. Es ist selten
so bewusst geworden, das Schauspielen im Theater und auf der
Bühne überhaupt nichts gemeinsam haben. Zu Beginn
taucht Travis Bickle wieder auf, den einer der Protagonisten
für die Aufnahmeprüfung einstudiert hat. Wie der
Charakter in Scorseses Film wird auch er sich durch die teilweise
seltsam anmutenden Mechanismen der Schule nicht brechen lassen.
Er steht in starkem Gegensatz zu einer seiner Mitstreiterinnen,
die zu allem Ja sagt, sich schon korrigiert bevor überhaupt
Kritik gekommen ist. Sie ist auf eine naive Weise offen. Mit
unglaublicher Begeisterung erzählt sie, dass sie sich
das Knie verdreht habe und nun schon sieben Monate pausieren
müsse. Dabei leuchten die Augen, als hätte sie gerade
den Vertrag für einen Blockbuster unterschrieben. Die
Zwänge der Situation hat Veiel fundiert ausgeleuchtet,
genau wie die Unsicherheiten seiner Figuren. Man fragt sich,
wie die Studenten in einer solchen Umgebung irgendeine Art
der Schauspielerpersönlichkeit entwickeln sollen. Eine
Art von Persönlichkeit, die die Qualität der New
Hollywood-Filme ausmacht.
Dort findet man einen Jack Nicholsen, der in FIVE EASY PIECES
(1970)genau wie in EASY RIDER (1969) den ganzen Film trägt,
die Leinwand allein durch seine Präsenz und sein Timing
zu etwas Magischem macht, der in Bob Rafaelsons Film als Arbeiter
auf einem Ölfeld ebenso glaubhaft wirkt wie als Wunderpianist.
Oder einen Al Pacino in PANIC IN NEEDLE PARK (1971), in dem
Jerry Schatzberg die Geschichte zweier Looser, Mann und Frau,
addicts, erzählt. Sie durchleiden den freien Fall, Gefängnis,
Prostitution, usw. Als Zuschauer fällt man mit in diese
Welt, weil die Dinge beiläufig und dennoch unausweichlich
inszeniert sind und "real" erscheinen, möglich
(Sie nimmt zum ersten Mal Heroin. Am nächsten Morgen,
nach einem gemeinsamen Baseballspiel auf irgendeiner New Yorker
Straße sieht er es in ihren Augen und sagt nur, mit
unglaublicher Zärtlichkeit: "Hey, when did this
happen?"). Auf dem Weg nach Hause meint man die Figuren
irgendwo an einem abgewrackten U-Bahnhof stehen zu sehen.
Die Charaktere machen sich frei von den Bedingungen des plots,
variieren auf den Anweisungen, den Dialogen, die die Szenen
für sie bereithalten. EASY RIDER besticht als Eröffnungsfilm
der Retrospektive immer noch durch ein ganz bestimmtes Gefühl
von Freiheit, auch wenn dieses Gefühl längst von
der Werbung verwurstet wurde. Dennis Hopper und Peter Fonda
sind zwei echte Buddys nicht nur auf der Leinwand. Sie schreiben
zusammen das Drehbuch, Fonda produziert, Hopper übernimmt
die Regie. Sie frönen dem Fetischismus für Motorräder,
die Kamera tastet das Chrom sinnlich in Detailaufnahmen ab.
Fonda schreibt sich selbst als Ikone, ein sanfter Melancholiker,
der die Huren noch mit Höflichkeit verführt, auch
wenn sie schon bezahlt sind. Abwesend, der Blick immer in
die Ferne gerichtet, als kenne er sein Schicksal schon. Hopper
wirkt daneben wie eine Version Sancho Pansas. Die Tripsequenz
in New Orleans bleibt unvergessen. Ein Wunderwerk der Schnittgeschichte,
Bild und Ton delirieren asynchron nebeneinander her, treffen
sich kurz und verlieren sich wieder im beliebigen Raum der
Montage. Intensitäten. Ein Nebeneinander. Von Gestern,
Heute und Morgen. Eine liquide Welt eben.
André Grzeszyk
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