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Berlinale 2004 19.02.2004
 
 

"Das alles war eine flüssige Welt"

Der junge Al Pacino in
PANIC IN NEEDLE PARK
 
 
 
 

"Das alles war eine flüssige Welt" schreibt Beckett in einer seiner Erzählungen, "Das Ende". Und liquid ist auch die Welt eines Festivals, wo man nach einigen Tagen kaum mehr zwischen inneren und äußeren Bildern, eigener Erinnerung und dem Gedächtnis des Kinos unterscheiden kann. Wo man den Figuren eines Filmes auf der Straße zu begegnen meint. Wo man durch die (Kino-) Zeiten schwimmt, von damals nach heute und wieder zurück.

So trifft man in MUXMÄUSCHENSTILL, dem Gewinner des diesjährigen Max-Ophüls-Preises, der in der Perspektive deutsches Kino läuft, einen entfernten Verwandten des TAXI DRIVER (1975/76), der in der Retrospektive sein Unwesen treibt. Dazwischen liegen 28 Jahre, in denen Travis Bickle seine existentielle Verzweiflung abgestreift hat, die Wut verflogen ist. Der Hass auf die Welt hat sich verwandelt, mit "deutscher" Ordnungsliebe bahnt sich Mux seinen Weg durch die Welt, erzieht moralisch, stöbert im Tiergarten Vergewaltiger auf und bannt seine pädagogischen Maßnahmen dann auf Video. Zuhause besitzt er ganze Regale solcher Situationen, ein Don Quixote, angetreten gegen den Verfall jeglicher Werte. Der Film baut auf seinem Charakter auf, der Rest ergibt sich mehr oder weniger von selbst. Es macht Spaß dem Hauptdarsteller Jan Henrik Stahlberg bei seiner Arbeit zuzusehen, er ist engagiert, ironisch und ein bisschen verrückt. Eine echte Perspektive.

Verunsichernd in MUXMÄUSCHENSTILL ist vor allem die Tatsache wie gerne man die 35 mm - Bilder, die mit den subjektiven, innerfilmischen Bildern der Digitalkamera (denen man doch so gerne das dokumentarischen Flair nachsagt) alternieren, als eigentliche "Realität" akzeptiert. Chris Doyle, der Kameramann von Wong Kar-Wai und Director of Photography in unzähligen weiteren Filmen erzählt bei einer Veranstaltung von der ersten Vorführung neuer digitaler Projektoren in Hongkong. Der kindlichen Freude der Verantwortlichen, dass das Bild endlich genau der Realität entspreche, hielt Doyle entgegen, dass niemand, der ins Kino geht, die Realität sehen wolle. Man kann ihm nur Recht geben. Die Realität ist nicht die Welt des Kinos ist nicht die Welt unserer Träume.

Treffen konnte man Chris Doyle bei einem Gespräch mit Michael Ballhaus, einem anderen großen Kameramann. Der signifikanteste Unterschied zwischen den beiden wurde schnell klar: Ballhaus der Planer, im industriellen Umfeld der amerikanischen Produktionsverhältnisse, Doyle der Abenteurer, der gemeinsam mit Wong Kar-Wai und ohne Drehbuch einfach mal die Reise beginnt, drei Tage lang die Einstellung mit der meisten Magie sucht und erst dann das Drehen anfängt. Chaos gegen Kalkül. Man muss Doyle gesehen haben, ein Entertainer, der beim Reden aufspringt, wild gestikulierend seine Philosophie erklärt. Von seiner hoffnungslos-obsessive Liebe zu Maggie Cheung erzählt. Und von der Intimität des Kinos. In der Zuschauer, Kameramann und Schauspieler nur zwei Linsen trennen (Kamera und Projektor). Überhaupt seien seine Arbeiten mit Wong Kar-Wai immer nur Variationen auf das Thema "Liebe". "But we´re getting better."… 15 Jahre ist er durch die Welt gegondelt und erst dann, bei ein paar Bier in einer asiatischen Bar, ergab sich die Möglichkeit für seinen ersten Film. Gemeinsam mit Ballhaus ist ihm die subjektive Sicht auf die Welt. Der Drang zu berichten, von den Dingen, die sie sehen. Ihre Erfahrungen bringen sie ein. Man kann die Welt sowieso nicht so abbilden, wie sie ist. Das Rot der Welt wird nie das Rot der Realität sein. "Beautification" nennt Doyle das.

Auf seine Art tut das auch Amos Vogel, den der Dokumentarfilm FILM AS A SUBVERSIVE ART im Forum ehrt. Vogel ist einer im Hintergrund, ohne den ein großer Teil von New Hollywood vielleicht nie zustande gekommen wäre. Vogel bot mit dem Cinema 16 in New York ein Forum (auch für Leute wie John Cassavetes, der in der Retro mit FACES (1965-68) und A WOMAN UNDER THE INFLUENCE (1974) vertreten sit und der seine Credits nutzte, um Scorsese die Regie für ALICE DOESN´T LIVE HERE ANYMORE (1974), einen weiteren Beitrag, zu ermöglichen). Für Filme die keiner sehen wollte und Filme, die in keinem anderen Kino gezeigt wurden. Vogel offenbart sich als Filmemacher ohne Filme, unter seinem Blick fiktionalisiert und verändert sich die Welt auf wunderbare Weise. In seiner Wohnung deutet er auf das einfachste Photo an der Wand, eine Tür, die von hinten von einer Hand geöffnet wird. Der Moment wird zum magischen Augenblick, zum Geheimnis, dem Ausgangspunkt für eine unendliche Anzahl von Geschichten. Vogel kennt keine guten oder schlechten Filme, in seinen Augen gewinnt alles Zelluloid seine ureigenste Qualität. Er schiebt DER EWIGE JUDE, den übelsten Auswurf der Nazipropagandamaschine an der amerikanischen Zensur vorbei, um ihn seinen Zuschauern präsentieren zu können. Dabei ist er selbst Jude und erst 1938, als die Nazis in Österreich einmarschierten, mit seiner Familie aus Wien geflohen. Er führt Wissenschaftsfilme vor, die in ihrem neuen Kontext unerwartete Energie entfalten. In einem wird dem Probanden eine Brille aufgesetzt und ab da sieht er alles seitenverkehrt. Aus links wird rechts. In der ersten Szene warten ein Kaktus und Glas Wasser auf ihn. Er versucht ständig das Glas zu greifen und langt immer wieder in den Kaktus. Er muss komplett neu zu leben lernen. Das filmische Dokument einer schrulligen Nutzlosigkeit verwandelt sich unter Vogels Blick.

Dies gelingt auch Abdel Kechiche mit seinem Film L´ESQUIVE im Panorama. Die Narration trägt Liebe und Romantik in die Pariser Banlieues, ein Milieu dessen Sprache ohne acht "Fucks" in einem Nebensatz nicht auszukommen scheint. Kechiche behandelt seine Protagonisten mit einer Zärtlichkeit, die an Lukas Moodyson erinnert. Seine Hauptfigur Krimo ist ein Sprachloser, der seine Liebe zu einem Mädchen namens Lydia einfach nicht verbalisieren kann. Er ergattert die Rolle in einem Theaterstück, dass für die Schulaufführung geprobt wird, neben seiner Angebeteten. L´ESQUIVE nimmt nicht den leichten Weg, Krimo findet in der Rolle nicht zu seiner Sprache, er bleibt alleine. Bestimmend sind die Diskurse, die über ihn gehalten werden. Seine Freundin, die Schluss macht, die Kämpfe zwischen ihr und Lydia um ihn. Der verärgerte Versuch seines besten Freundes, die Situation zu klären.

Einen ganz anderen Blick findet man dann in TITICUT FOLLIES (1966/67). Es ist der kalte "direct cinema"-Blick, mit dem William Greaves Geisteskranke in einem Gefängnis zeigt. Ohne Kommentar. Nur die zufällige Begegnung zwischen der Kamera und einer Situation. Man ist bei den Insassen, nicht in ihnen. Weil sie keine Stimme haben, sich nicht ausdrücken können, ihr Begehren, ihre Ängste. Es gibt nur monotones Geplapper. Ohne Innenleben fehlen den Bildern die Charaktere, der narrative Bezug, sie werden zu reinen Sensationen (die Vorbereitungen zu einer Bestattung, bei denen dem Toten Watte in die Augenhöhlen geschoben wird / ein morbider, nackter Tanz in einer Zelle / Ernährung durch einen Schlauch in der Nase eines Insassen). Das ist auch New Hollywood. Voice of the Voiceless. Es wird nichts erklärt, aber die Häftlinge werden sichtbar gemacht, präsent.

Ihre Sprache und ihren Ausdruck in ihrer Rolle versuchen DIE SPIELWÜTIGEN von Andres Veiel zu finden. Der Dokumentarfilm zeigt das Leben von vier Studenten der Schauspielschule Ernst Busch und ihren Leidensweg durch das Studium. Es ist selten so bewusst geworden, das Schauspielen im Theater und auf der Bühne überhaupt nichts gemeinsam haben. Zu Beginn taucht Travis Bickle wieder auf, den einer der Protagonisten für die Aufnahmeprüfung einstudiert hat. Wie der Charakter in Scorseses Film wird auch er sich durch die teilweise seltsam anmutenden Mechanismen der Schule nicht brechen lassen. Er steht in starkem Gegensatz zu einer seiner Mitstreiterinnen, die zu allem Ja sagt, sich schon korrigiert bevor überhaupt Kritik gekommen ist. Sie ist auf eine naive Weise offen. Mit unglaublicher Begeisterung erzählt sie, dass sie sich das Knie verdreht habe und nun schon sieben Monate pausieren müsse. Dabei leuchten die Augen, als hätte sie gerade den Vertrag für einen Blockbuster unterschrieben. Die Zwänge der Situation hat Veiel fundiert ausgeleuchtet, genau wie die Unsicherheiten seiner Figuren. Man fragt sich, wie die Studenten in einer solchen Umgebung irgendeine Art der Schauspielerpersönlichkeit entwickeln sollen. Eine Art von Persönlichkeit, die die Qualität der New Hollywood-Filme ausmacht.

Dort findet man einen Jack Nicholsen, der in FIVE EASY PIECES (1970)genau wie in EASY RIDER (1969) den ganzen Film trägt, die Leinwand allein durch seine Präsenz und sein Timing zu etwas Magischem macht, der in Bob Rafaelsons Film als Arbeiter auf einem Ölfeld ebenso glaubhaft wirkt wie als Wunderpianist. Oder einen Al Pacino in PANIC IN NEEDLE PARK (1971), in dem Jerry Schatzberg die Geschichte zweier Looser, Mann und Frau, addicts, erzählt. Sie durchleiden den freien Fall, Gefängnis, Prostitution, usw. Als Zuschauer fällt man mit in diese Welt, weil die Dinge beiläufig und dennoch unausweichlich inszeniert sind und "real" erscheinen, möglich (Sie nimmt zum ersten Mal Heroin. Am nächsten Morgen, nach einem gemeinsamen Baseballspiel auf irgendeiner New Yorker Straße sieht er es in ihren Augen und sagt nur, mit unglaublicher Zärtlichkeit: "Hey, when did this happen?"). Auf dem Weg nach Hause meint man die Figuren irgendwo an einem abgewrackten U-Bahnhof stehen zu sehen.

Die Charaktere machen sich frei von den Bedingungen des plots, variieren auf den Anweisungen, den Dialogen, die die Szenen für sie bereithalten. EASY RIDER besticht als Eröffnungsfilm der Retrospektive immer noch durch ein ganz bestimmtes Gefühl von Freiheit, auch wenn dieses Gefühl längst von der Werbung verwurstet wurde. Dennis Hopper und Peter Fonda sind zwei echte Buddys nicht nur auf der Leinwand. Sie schreiben zusammen das Drehbuch, Fonda produziert, Hopper übernimmt die Regie. Sie frönen dem Fetischismus für Motorräder, die Kamera tastet das Chrom sinnlich in Detailaufnahmen ab. Fonda schreibt sich selbst als Ikone, ein sanfter Melancholiker, der die Huren noch mit Höflichkeit verführt, auch wenn sie schon bezahlt sind. Abwesend, der Blick immer in die Ferne gerichtet, als kenne er sein Schicksal schon. Hopper wirkt daneben wie eine Version Sancho Pansas. Die Tripsequenz in New Orleans bleibt unvergessen. Ein Wunderwerk der Schnittgeschichte, Bild und Ton delirieren asynchron nebeneinander her, treffen sich kurz und verlieren sich wieder im beliebigen Raum der Montage. Intensitäten. Ein Nebeneinander. Von Gestern, Heute und Morgen. Eine liquide Welt eben.

André Grzeszyk

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