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Am Anfang war der leere Raum. Sprachlosigkeit, Unsichtbarkeit.
Leere Straßen, vereinsamte Tankstellen, öde Suburbs, Häuserschluchten.
Schräge Blicke verstärken diesen Eindruck noch, von oben,
von der Seite. Es sind die Orte des Western, der Familienidyllen,
der Musicals aus Hollywood. Doch auf einmal wirken sie nicht
mehr erhaben, monumental, wie vom Schöpfer seinem auserwählten
Volk anvertraut, sondern gottverlassen. Dann kam die Bewegung.
Ein Blick hebt sich aus dem gelben Staub, kreist immer weiter
in die Höhe, bis man irgendwann, ganz von oben, die Szenerie
überblickt: Ein Auto, aus dieser Entfernung unendlich klein
wirkend, fährt eine schnurgrade Straße entlang. Staub wird
aufgewirbelt. Sonst ist nichts zu sehen. Doch dann entdeckt
man am Bildrand zunächst weit entfernt, zuerst wenige, dann
immer näher kommend, immer mehr andere Autos. Wie ein Bienenschwarm
hat sich ein riesiger Fahrzeugkordon aus Polizei und Journalisten
auf die Spur des Wagens mit seinen drei Insassen geheftet.
Und sie wirbeln noch viel mehr Staub auf. In Steven Spielbergs
erstem Spielfilm, THE SUGARLAND EXPRESS, einer tiefschürfend-genialen
Seelenanalyse seiner Heimat, ist das Auto beides: Die Druckkammer,
in der sich innere Konflikte, Ängste, Leidenschaften immer
mehr aufladen, aus dem kein Entkommen ist, und der letzte
Schutzraum gegen das Außen, ein Mittel zur Flucht aus Not
und Zwang, aus der Welt und der Wirklichkeit. Vor allem aber
ist es in Bewegung.
Wie in BONNIE AND CLYDE, wo das Gangsterpärchen seinen Traum
von einer Freiheit jenseits der Ordnung naturgemäß auch nur
in Bewegung - Ordnung ist statisch - ausleben kann, auf den
Landstraßen zwischen Texas und Louisiana. Die Straße ist dabei
genau der Ort auf der Grenze zwischen Natur und Zivilisation,
einer Freiheit, die in diesen Filmen immer als das Andere,
als anarchisch, asozial gedacht ist, die aus der Verzweiflung
kommt, und das letzte ist, was jenseits der Verzweiflung immer
noch möglich ist. Pessimismus und Freiheit (und oft genug
Gewalt, als die äußerste Freiheit des Pessimismus) gehen in
New Hollywood immer zusammen. Es hebt diesen Film, der ganz
am Anfang der Bewegung steht, aber deutlich über viele spätere
hinaus, dass er auf psychologische Motivationen seiner Figuren
fast ganz verzichtet, dass er - wie die Figuren Godards fast
zeitgleich in PIERROT LE FOU - ganz auf Posen setzt. Damit
stellt er noch Psychologie und Moral unter Verdacht, und setzt
gerade auf das, was nicht nur im konservativen Bürgertum,
sondern auch unter dessen ungehörigen, insgeheim aber recht
folgsamen Kindern der revoltierenden Linken, am misstrauischsten
beäugt wird: der äußere Schein. (Erstaunlich etwa, wie borniert
und schnoddrig doch viele Urteile im New Hollywood-Band der
renommierten Hanser-Reihe 1976 ausfielen.) Das Auto ist dabei
selbst eine Pose, es muss nicht nur schnell sein, sondern
auch schön, ein Fetisch der Freiheit. Im Auto kann man, wie
sich hier bald herausstellt, dann allerdings auch sterben
- wie es Faye Dunaway später noch einmal geschehen wird, in
Polanskis CHINATOWN, auch einem Stück New Hollywood Anarchie.
Dann kam EASY RIDER. Die Route ist fast die Gleiche wie die
von Bonnie und Clyde, sie führt auch heraus aus der Stadt,
nicht mehr nach Westen - denn die Frontier als Grenze zwischen
Ordnung und Freiheit war da im US-Kino schon längst verschwunden
-, sondern nach Süden, weg aus der Zivilisation. Vielleicht,
weil die Hauptfiguren hier auf Motorrädern saßen, vielleicht,
weil der Rausch der Straße manchmal nicht von dem der Drogen
unterscheidbar war, wirkt alles hier noch klarer, noch eindeutiger
bewegungsfixiert. Wohin es gehen soll, ist nicht so wichtig,
entscheidend ist, dass nichts bleiben soll. Und das Motorrad
als Mittel der Fortbewegung ist nur noch Geschoß und Beschleuniger,
ohne den Schutz, aber auch ohne das Klaustrophobische des
Autos. Reine Freiheit. Aber eine Freiheit, wie sie nur Menschen
möglich ist, die nichts zu verlieren haben.
Bewegung in der Krise
Selten war das amerikanische Kino ähnlich in Bewegung, wie
in den Jahren von "New Hollywood". Das Kino zwischen
Vietnam, Watergate und Ronald Reagan ist ein klares Kino der
Krise. Es ist geprägt vom Wandel einer Industrie, die sich
ein gutes Jahrzehnt lang völlig umkrempelt, die am Rande des
Zusammenbruchs auf all diejenigen setzt, die eigentlich ihre
natürlichen Feinde sind, auf die Outsider unter den Regisseuren
und Autoren, auf europäisch geprägte Filmemacher und Kameraleute,
auf Stoffe, Figuren und Bilder, die nur ein paar Jahre früher
noch nicht die Zensurschranken passiert hätten - und auch
vom breiten Publikum kaum akzeptiert worden wären.
Die plötzliche unbeschränkte, bald aber wieder zunehmend
begrenzte Freiheit spiegelt sich in den Geschichten und Charakteren
den Filme, wie in ihrem Stil, in Einstellungen und Schnittfolgen,
wie aber auch in der Wahl der Genres. Plötzlich entdeckte
man die Straße als Fluchtweg wie als Raum der Befreiung. Ein
Road-Movie nach dem anderen entstand: Terence Malicks wunderbarer
BADLANDS, der eigentlich noch viel anarchischer ist, als BONNIE
AND CLYDE, Monte Hellmanns TWO-LANE BLACKTROP, dann ALICE
DOESN'T LIVE HERE ANYMORE von Scorsese. Gerade der frühe Spielberg
entwickelt eine eigentümliche Vorliebe für das Genre: In seinem
Kurzfilmdebüt AMBLIN' erlebt man noch einen romantischen Traum,
der dann in SUGERLAND EXPRESS schon ins pessimistische gedreht,
in DUELL endgültig zum Alptraum wird. Auch dieser Film ist
ein deutlicher Reflex auf die Krise, die Amerika erlebt, die
hier in der Krise des stinknormalen Kleinbürgers gespiegelt
wird.
Ein paar Jahre später, als Spielberg mit DER WEISSE HAI nicht
nur künstlerisch neue Höhen erreicht, sondern auch in punkto
Vermarktung neue Massstäbe setzt, eigentlich den modernen
Blockbuster begründet, ist das Bewegungsmittel das Boot. Und
ob die drei Jäger auf ihm nicht vielleicht ebenso Gejagte
sind, ist schwer zu sagen - auch hier spiegelt der Mikrokosmos
ein Allgemeines: Eine Gesellschaft, die ihr Trauma nur durch
Bewegung verarbeiten kann, eine Mobilmachung, die in Erschöpfung
endet - wie dies dann auch mit "New Hollywood" geschehen sollte.
Amerikanischer Traum/ Amerikanischer Raum
Es gibt zwei unterschiedliche Bewegungen des New Hollywood-Kinos.
Neben der erwähnten Neuentdeckung der Räume des amerikanischen
Genrefilms, die sich auch aufs Kriminalgenre, auf Western
und Horror erstreckt, geht die zweite nach innen, hinein in
die durchschnittliche US-Kleinfamilie als Herz des American
Dream. Ob in Werken wie REIFEPRÜFUNG von Mike Nicholls, AMERICAN
GRAFFITTI von George Lucas, Irvin Kirshners LOVING oder BOB
& CAROL & TED & ALICE von Paul Mazursky, oder noch verschärft
in den wichtigsten Filmen von Peter Bogdanovich und John Cassavetes
am subtilsten und damit stärksten aber Terence Malick in DAYS
OF HEAVEN (1978) - sie alle dekonstruieren auf jeweils spezifische
Art die Familie als Zentrum kleinbürgerlicher Träume von Seriosität,
Karriere und stabiler Werteordnung, einer Moral, die auf Versöhnung
mit den Verhältnissen zielt. Diesem Zentrum mit seinen Hoffnungen
wird der Spiegel der inherenten Gewalt dieser Verhältnisse
vorgehalten. Hier werden die Geschichten die notwendig sich
vor allem in den Gefühlen und Beziehungen der Menschen abspielen,
durch Kamerabewegungen und die Dynamik der Montage mobilisiert.
In fast allen Filmen jener Jahre kann man klare Brüche mit
tradierten Erzählkonventionen beobachten: Beliebt ist der
Blick von oben, sind Achsensprünge - wie sie zuletzt im Kino
der Stummfilmzeit üblich waren, der subjektive Kamerablick
der mit dem einer Figur identisch ist. Mitunter brechen die
Filmemacher mit der Kontinuität in Zeit und Raum, doch haftet
solcher Form immer allzu sehr der Geruch des Experimentellen
an, als das sich der Stil langfristig durchsetzen würde. Das
Gemeinsame dieser Formsprache ist eine Desorientierung der
Leinwandperspektive. Der Blick des Zuschauers soll seinen
Halt verlieren, mit der Haltlosigkeit und richtungslosen Mobilität
der Figuren verschmelzen.
Epischer, narrativer, insofern auch konventionell "amerikanischer",
ist der Stil der erwähnten Filme, in denen das Genrekino sich
erneuert, Genrefilme anderer Art, die ihr Genre selbst thematisieren,
verändern, insofern auch überschreiten, und ihre Figuren hinaus
in einen neu konnotierten und darum wieder unvertrauteren
offenen Raum warfen. In einigen der besten Filme jenes Jahrzehnts
gehen die beiden Blickrichtungen - hinein in Seelenlagen,
hinaus in die Wildnis der Straße und der Landschaft - aber
zusammen.
Verheißung des Untergangs
Vor allem zwei Filmemacher sind hier zu nennen: Francis Ford
Coppola mit seinen beiden GODFATHER-Teilen und dann APOKALYPSE
NOW, und William Friedkin mit FRENCH CONNECTION und THE EXORCIST.
Alle diese Filme verbindet: Es sind klare Genrefilme, die
aber das jeweilige Genre erneuern, und dafür dessen Grenzen
sprengen. Zugleich sind es subtile Analysen des "Mythos Amerika",
die nicht plump Ordnung und Unordnung miteinander konfrontieren,
und dann Partei ergreifen, sondern deren Verschmelzungen untersuchen.
In GODFATHER treffen traditionelle Familienwerte auf Mafiaethos,
im EXORCIST zieht die öffentliche Paranoia der Watergate-Zeit
in die Privatsphäre der Familie ein, das Böse haust im Vertrautesten,
Unschuldigsten - einem jungen Kind. Die vielleicht dichteste
Verbindung zwischen Korruption und Engagement, Zwang und Freiheit,
Ratio und Wahnsinn, Moral und Unmoral begegnet einem in der
von Gene Hackman gespielten Hauptfigur von Friedkins FRENCH
CONNECTION. Jimmy "Popeye" Doyle ist der abgebrühtere, ältere
aber letztlich auch verzweifeltere Bruder von Captain Willard
in APOKALYPSE NOW. Und diesem Film gelingt auch eines der
schönsten Beispiele für die spezifische Bewegung des New Hollywood-Kinos:
Denn der ruhelose Doyle ist Jäger und Gejagter in einem, er
jagt sich selbst, und zerstört sich selbst in dem Moment,
indem er sich auch neu erschafft. Der Film zeigt diesen Selbstverlust
in der Selbsterhaltung in seinen beiden bahnbrechenden Verfolgungsjagten:
Durch die New Yorker U-Bahn, und mit dem Auto unter der Bahntrasse
von Brooklyn hindurch. Die Stadt wird abstrakt, zur graphischen
Fläche, auf der wir von Doyle (und er von sich) am Ende auch
nur noch einzersplittertes Bild übrige behalten. Dass es sich
bei dem desillusionierten Doyle um einen Ordnungshüter und
Good Guy handelt, sein nur nebenbei bemerkt. Es spielt sowieso
keine Rolle mehr.
Ähnliches erlebt man, als Michael Cimino mit HEAVENS GATE
dem New Hollywood-Kino 1980 den Grabstein aufsetzt: Die Werte,
die Ziele verschwimmen - noch einmal ist dieses Kino eine
große Schule des Pessimismus. Nicht nur im Kino gilt: Bewegung
ist Verheißung. Doch bedeutet dies eben nicht, dass die Filme
New Hollywoods deswegen optimistisch sein müssen. Es kann
auch die Verheißung des Untergangs sein. Die Leere am Ende.
Rüdiger Suchsland
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