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Verträumte staunende Blicke, eine Taxifahrt durch die
Neonnacht von Tokio, Bilder, die in gleißendes Weiß
zerfließen, ein junges Mädchen aus dem Westen driftet
durch Tokio, einsam und traurig auf einer Suche, der jedes
Ziel nur Vorwand ist. Das Szenario kommt einem bekannt vor,
und die Frage zu Beginn, gesprochen von einer Mädchenstimme
auf Englisch mit französischem Akzent dürften viele
Zuschauern bejahen: "Have you ever been to Tokio?"
- gerade erst war man dort, mit Sofia Coppola zum Hang-Out
im Park Hyatt von Japans Hauptstadt, da geht es schon wieder
hin.
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THE STRATOSPHERE GIRL vom deutschen Regisseur M. X. Oberg
ließe sich beschreiben als eine deutsche Variante von
LOST IN TRANSLATION, in der die Filmemacher noch viel weniger
Geld hatten, als Coppola und die Hauptfigur gar keins - darum
wohnt sie nicht in einem Luxushotel, sondern mit drei anderen
europäischen Mädchen in einer WG, und arbeitet als
Hostess. Doch das führt auf die falsche Fährte.
Denn auch wenn THE STRATOSPHERE GIRL auf frappierende Weise
die Faszination für Japan, die Grundidee der Verlorenheit
in der hybriden Metropole, manche Beobachtungen und einige
Darstellungsweisen - etwa die Tatsache, dass die japanische
Sprache durchweg nicht untertitelt wird - mit Coppola teilt,
ist die Grundhaltung doch eine andere. Eher ähnelt der
Film solchen Neo-Noir-Thrillern wie Abel Ferraras NEW ROSE
HOTEL (nach William Gibson) oder TOKYO EYES von Jean-Pierre
Limousin.
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Am Anfang sieht man Angela (Chloe Winkel), die engelsgleiche,
naseweis-unschuldige Hauptfigur noch durch das Dachfenster
einer typisch bundesrepublikanischen Reihenhauses gucken.
Kurz darauf blickt sie durch eine ähnliche Badezimmerluke
auf den nächtlichen Verkehr in Tokio. Das ist der erste
Blick auf Japans Hauptstadt, gerade in seiner Verstohlenheit
und Beiläufigkeit um so glamouröser. Blicke sind
sehr viel in THE STRATOSPHERE GIRL, immer wieder geht es darum,
wie die Wahrnehmung des Mädchens sich in Zeichnungen
verwandelt, wie Körper zur graphischen Fläche, zu
Kunst werden. Denn Angela ist Comic-Zeichnerin, die nach Japan
gekommen ist, um zu malen, was sie staunend sieht. Je länger
sie dort ist, um so mehr nähert sich ihr Stil dem der
Mangas an, japanisiert sich. Doch vor allem erlebt sie ein
Abenteuer, in dem sie wie eine Noir-Detektivin dem Schicksal
einer verschwundenen Russin nachspürt, und daraus wieder
eine Comic-Geschichte macht, selbst mit den Heldinnen ihrer
Geschichte verschmilzt.
Bis zum Ende ist schwer zu sagen, was Traum, was Wirklichkeit
sein soll in diesem Film, doch diese Schwäche der Story
wird zur Stärke der Beobachtung: Der Film nähert
sich selbst der offenen, fragmentarischen Erzählweise
des Comics - und damit auch einem sehr gegenwärtigen
Lebensgefühl. Ein Triumph der Flüchtigkeit, ein
Driften gegen den Strom, bei denen der Zuschauer und die Heroine
Angela im japanischen Zauberwald trotzdem vor allem finden,
was sie hineinprojizieren - sich selbst - und äußere
Fremdheit greifbar wird. Kunstvoll und einfallsreich gelingt
Oberg mit THE STRATOSPHERE GIRL vieles auf einmal: Japan-Essay
und Nachtstück, Detektivgeschichte und eine Traumnovelle.
Bei kleineren Schwächen ist THE STRATOSPHERE GIRL besser
und interessanter als die meisten deutschen Filme, die man
im letzten Jahr sehen konnte - ein Film, in den man sich verlieben
kann.
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"Every line you draw leeds to something." - diesem
Prinzip von Angelas Zeichenkunst folgt auch das "Panorama",
die größte, oft sehr starke, aber auch immer ein
wenig chaotische Sektion der Berlinale, als Ganzes. Vieles
wird hier angerissen, aber weil man das totale Programm kaum
sehen kann, muss man sich auch dem Zufall hingeben, selber
driften lernen - und Glück haben. Im besten Fall fügt
sich dann alles zu einem harmonischen Ganzen. Aber ganz verstummt
die Frage nicht, warum die Berlinale aus beiden Nebenreihen
"Panorama" und "Forum" nicht eine klare
zweite Sektion formt - wie der "Certain Regard"
in Cannes, oder der "Controcorrente" Venedigs, wo
sich manchmal bessere Filme finden, als im Wettbewerb.
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Wenn in den neuen Fernostreisen des westlichen Kinos zwischen
KILL BILL und THE STRATOSPHERE GIRL immer auch ein wenig Flucht
aus der eigenen Gegenwart mitspielt, liegt die Frage nahe,
was dortige Regisseure mit ihrer Welt anfangen. Auch in den
asiatischen Panorama-Beiträgen überwiegt die subtile
Weltflucht. Manchmal wird sie thematisiert, wie in A DAY ON
THE PLANET von Isao Yukisada, der vor zwei Jahren mit GO begeisterte,
der auch ins deutsche Kino kam. An diesem Meisterwerk gemessen,
enttäuscht sein neuer Film über eine Gruppe von
Studenten, die einen gemeinsamen Abend verbringen. Es wird
gegessen und viel geredet, im Hintergrund rauscht der Nachrichtenäther
und erzählt von einem Mann, der zwischen zwei Häuser
eingeklemmt wurde, und von einem an der Küste gestrandeten
Wal. Die untergründige Melancholie, die in allem schwebt,
ist treffend, doch sieht man dergleichen längst nicht
zum ersten Mal. Was in manchen Augenblicken eine bezaubernde
Schwerelosigkeit entfaltet, wird zu oft flach, und so spürt
man weder genug Atmosphäre, noch erfährt man viel
über die Figuren.
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Besser gelingt beides in AKAME 48 WATERFALLS von Genjirou
Arato: ein junger Mann verbringt die Zeit tagaus tagein in
seiner kleinen Wohnung, die ihm zum statischen Fluchtpunkt
geworden ist. Hier schneidet er Fleisch und Gemüse für
ein naheliegendes Restaurant, und sucht sich zu verlieren.
Mehr und mehr wird er aber Ziel der beiläufigen Besuche
der Nachbarn, in seiner Einsamkeit spiegeln sich ihre Sorgen
und Leidenschaften. Und schließlich befreit er sich
aus der selbstgewählten Isolation, und kämpft um
eine neue Liebe. Ein filmisch klar komponiertes Kammerspiel,
eine stille Höllenfahrt.
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Ein kühl realistisches, dabei humorvolles Gegenwartsportrait,
zugleich eine bittersüße Love-Story bietet LOST
IN TIME vom Hongkong-Regisseur Derek Yee. In diese Geschichte
über das Schicksal einer jungen Witwe zwischen Trauer,
sozialer Not und neuer Liebe fließt viel ein vom Lebensgefühl
des Stadtstaates, der nach der SARS-Krise und politischen
Querelen selbst eine Phase neuer Verunsicherung durchlebt.
Der Reiz dieses Films liegt auch in einer sehr gekonnten Inszenierung,
Bildern, die die Metropole als Dschungel abstrakter Eindrucke
zeigen, und darum alles schlicht Dokumentarische schnell verlassen.
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Eindringliche Bilder der ganz anderen, weitaus kühleren
Art prägen UNTOLD SCANDAL von E.J-Young: "Gefährliche
Liebschaften" auf koreanisch. Elegant und treffsicher
wird Chloderos de Laclos' Briefroman im Korea des 18.Jahrhunderts
angesiedelt - und statt eines Aufeinanderprallen fremder Kulturen
erfährt man überraschende Nähe. Hier ist es
gerade die strenge, manchmal geradezu lackierte Form, die
alles in Fluss bringt: Schnurgerade surrt die Handlung in
rhythmischem Gleichmass ab, bekannt, aber in den Details apart
variiert.
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"Wie schön, dass ich endlich mal über den
Film reden darf..." freute sich Anthony Minghella. Es
war die vierte Frage auf der Eröffnungspressekonferenz,
die ihm erst dazu Gelegenheit gab. Dabei war die internationale
Presse Minghella keineswegs feindselig gesonnen. Doch nachdem
sein Bürgerkriegsschmachtfetzen "Cold Mountain",
die 54. Berlinale eröffnet hatte, überwog die Enttäuschung,
erst recht nach dem klar war, dass keiner der drei Hauptdarsteller
- Nicole Kidman, Jude Law, Renee Zellweger - zur Premiere
und zur Pressekonferenz gekommen war. Stattdessen wurde Minghella
von Harvey Weinstein flankiert, dem ebenso allmächtigen
wie selbstbewußten Chef der Miramax-Studios - und der
bestritt dann den Großteil der Show. Mehr als einmal
nahm der Filmtycoon seinem Regiseur mit einem bündigen
"I'll answer that" das Wort und reagierte ohne merklichen
Zorn auf so unangenehme Fragen wie die, warum der Film nur
vier kümmerliche Oscar-Nominierungen erhalten habe: "Jeder
kann sich irren." Nach diesen Reaktionen zu urteilen,
scheint sich Weinsteins dritter Eröffnungsfilm in Folge
in drei Jahren unter Berlinale-Chef Dieter Kosslick zu einem
"verflixten dritten Mal" zu entwickeln. Zum Schluß
skizzierte Minghella immerhin noch die Botschaft seines Films:
"Ich bin Optimist: Am Anfang ist Krieg, am Ende sitzen
alle Überlebenden um einen Tisch."
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"Wenn dies nicht möglich ist, hat es keinen Sinn,
miteinander zu reden." - Romuald Karmakar redete sich
in Rage: Soeben war sein neuer Film DIE NACHT SINGT IHRE LIEDER
erstmals gelaufen, da machte Karmakar in der Pressekonferenz
es auch den Wohlwollenden schwer: "Das ist mir hier zu
primitiv." schäumte er - und man spürte den
Minderwertigkeitskomplex, den Karmakar mit vielen teilt, die
in Deutschland versuchen Kino abseits des Unterhaltungsmainstreams
zu machen. Dabei hatte sein Film, wie viele deutsche Beiträge
der Berlinale, durchaus Qualität, zeigte, dass hierzulande
die unabhängigsten und "kleinsten" Filmemacher
die interessantesten sind.
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DNS, wie die Presseleute und Journalisten den Film abkürzen,
ist die Verfilmung von Jon Fosses gleichnamigem Stück:
Streng und ernst in der Form begegnet einem Beziehungskampf
pur: Die Selbstzerfleischung ein Paares (wunderbar: Frank
Giering, eindrucksvoll: Anne Ratte-Polle) in einer Nacht ist
ein Horrorfilm der anderen Art. In seinen starken Momenten
wirkt das alles wie bei Fassbinder und Bergman, in seinen
schwachen wie ein "Derrick" aus den späten
70ern. Jenseits aller Einwände im Einzelnen hat Karmakars
Film jedenfalls mehr Mut, als die Hälfte der übrigen
Wettbewerbsbeiträge zusammen - eine wohltuende Zumutung
in einem schwachen, weil zu gefälligen und unprovokativen
Programm - die Auswahl war zu brav und zu sehr an - überdies
unanstößigen - politischen Botschaften orientiert.
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John Boormans COUNTRY OF MY SKULL, erklärter Lieblingsfilm
von Berlinale-Chef Dieter Kosslick, konnten auch Juliette
Binoche und Samuel L. Jackson nicht retten. Eine Südafrika-Soap
um lauter Gutmenschen, die ihren Fragen nach Identität
und Erinnerung alle Brisanz nimmt - indem hier nichts in Frage
gestellt wird, sondern alle Brüche in einer filmischen
Bergpredigt zugekleistert werden.
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Gute Gesinnungen und Namedropping - diese Kombination sollte
offenbar das Erfolgsrezept eines Wettbewerbes sein, der hinter
dem des Vorjahres bisher zurückbleibt - vor allem weil
die Überraschungen bisher fehlen. Einzige Ausnahme: "The
Missing" von Ron Howard. Nach Kevin Costners "Open
Range" ist dies binnen sehr kurzer Zeit ein zweiter Western
- da weitere gedreht werden, sprechen manche schon von einer
Renaissance des Genres. Weniger elegisch, auch weniger lahm
als Costners Film ist "The Missing" dabei keine
nostalgische Hommage an eine für alle Zeit vergangene
Männerwelt, sondern ein ganz gegenwärtiger, zeitgemäßer
Film: Ein Thriller mit mystischen Elementen, dabei fast ein
"Post-Western", der jenseits von den Klassikern
in der Nachfolge von Ford und Hawks auch vom Italo-Western
gelernt hat, und ein düstereres, härteres, schmutzigeres
aber wohl auch realistischeres Bild des Westens zeigt. Es
erinnert an den "Blutigen Meridian" der Romane Cormac
McCarthys.
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Als ein junges Mädchen 1885 von Indianern in Richtung
Mexico entführt wird, um in dortige Bordelle verkauft
zu werden, macht sich deren Mutter mit der zehnjährigen
zweiten Tochter auf die Suche. Bald ist sie auf die Hilfe
ihres Vaters angewiesen, von dem sie eigentlich nichts mehr
wissen wollte. Im Verlauf des Geschehens wird die Verfolgung
erwartungsgemäß zu einer Reise ins Innere der Figuren,
in der es um Versöhnung, Erlösung und urmenschliche
Toleranz geht. Die besten Auftritte haben hioer einmal nicht
die Hauptdarsteller: Tommy Le Jones wirkt stoisch und solide
wie immer, während Cate Blanchett in Wahl und Gestaltung
ihrer Rollen allmählich in die Meryl Streep-Falle fällt
- immer mehr nur noch bigotte männerfeindliche "reine"
Frauen zu spielen. Eindrucksvoll schurkisch ist dagegen Eric
Schweig. Tapfer Evan Rachel Wood als ältere Tochter.
Zur eigentlichen Hauptfigur und Antriebskraft des Films wird
aber zunehmend die kleine Tochter Dot - wunderbar und bezaubernd
gespielt von Jenna Boyd.
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"New Hollywood, das war Mittelalter!" - Jack Nicholson
lacht, heiser zunächst, sicher steigernd zu dieser einmaligen,
intensiven und ein klein bisschen wahnsinnigen Lache, die
man aus so vielen Filmen kennt. Dann, auch das hat man schon
öfters im Kino gesehen, bricht das Lachen abrupt ab.
Ganz kurz weiß man nicht, ob Nicholson jetzt gerade
besonders dumm, oder besonders klug guckt, dann beseitigt
das listige Zwinkern in den Augen alle Zweifel.
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Den Weltstar Jack Nicholson im Gespräch zu erleben,
ist schon etwas Besonderes. Nicht allein, weil man sich immer
wieder einmal bei dem Gedanken ertappt, ob er da jetzt wirklich
vor einem sitzt, oder man doch nur im Kino eingeschlafen ist,
und gerade einen besonders schönen Kinotraum träumt.
Es sitzt einem da auch einfach ein besonders wacher Mensch
gegenüber, ein genauer Beobachter, der auf jede Regung
seines Gesprächspartners reagiert, konzentriert und bemüht
um Substanz antwortet, und dabei jederzeit vor allem dafür
sorgt, das jedenfalls einer seinen Spaß hat: Er selbst.
"Heute war ein guter Tag", erzählt der 66jährige,
"Ich habe einen Mittagsschlaf gemacht, und dann einen
Wein getrunken." Und grinst. Will sagen: Nehmt alles
nicht so wichtig. Will auch zeigen, dass hier einer weiß,
dass er eine Art Ehrengast der diesjährigen Berlinale
ist, obwohl Festivalchef Dieter Kosslick aus Spargründen
diesmal die zweite Retrospektive stillschweigend gestrichen
hat. Aber neben seinem neuen Film "Something's gotta
give", einer sehr charmanten alterweisen Komödie
aus dem Alltag eines Viagra-Users, laufen allein sieben Nicholson-Filme
in der Retrospektive, die "New Hollywood" gewidmet
ist - jener Epoche, von der er anfangs so kokett als "Mittelalter"
spricht. "Wir waren verrückt damals", meint
er, "Wir wollten europäische Filme machen. In Amerika!"
Und lacht wieder, als spürte er, wie absurd dieses Ansinnen
heute anmutet.
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Wer das miterlebt, spürt auch mehr als einen Hauch von
Sehnsucht nach einer Zeit, in der mit Nicholson das ganze
Kino plötzlich so jung war, wie nie zuvor. "Ich
fühle mich um keinen Tag gealtert." Und man bekommt
eine Ahnung davon, warum Nicholson, vor allem der der 60er,
70er und frühen 80er Jahre, in denen er irgendwann für
ein paar Jahre der gefragteste US-Darsteller der Welt war,
für die Kinogeschichte so wichtig ist. Denn er war nicht
nur ein glänzender Schauspieler, der vielen Klassikern
der Kinogeschichte, von EASY RIDER über Polanskis CHINATOWN
bis hin zu Antonionis Meisterwerk PROFESSIONE: REPORTER seinen
Stempel aufdrückte, er war auch ein charismatischer Anreger.
Seinem Charme und seiner Intelligenz, seinem guten Geschmack
nicht zuletzt, ist es zu verdanken, dass viele dieser Filme
überhaupt entstanden.
Und so kommt im Laufe der mit allerlei Anekdoten - für
deren Wiedergabe man eine ganze Zeitungsseite bräuchte
- ausgeschmückten Unterhaltung auch zu einem offenen
Geheimnis: Dass in diesem Darsteller nämlich ein heimlicher
Filmemacher steckt. Gern wäre er Regisseur geworden,
hat neben dem Basketball-Film DRIVE HE SAID, der auch auf
der Berlinale läuft, noch drei weitere, kommerziell erfolglose
Regiearbeiten hinter sich, und mehrere Drehbücher geschrieben.
"Die Filme der 70er sind diejenigen Filme die bleiben,"
sagt er, erinnert an SHINING, den er mit Stanley Kubrick drehte,
und berichtet davon, dass er vor einigen Jahren die Rechte
von PROFESSIONE: REPORTER gekauft hätte, "damit
der überhaupt noch in einer guten Version ins Kino kommt."
Solche Filme werden leider zur Zeit überhaupt nicht mehr
gemacht. Das Mittelalter, jedenfalls aus Sicht Jack Nicholsons,
war die beste Zeit.
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Um die Dynamik der Gefühle kreist auch der zweite deutsche
Panorama-Beitrag: Eine Gruppe von Jugendlichen, ein Wochenende
am See, irgendwo draußen vor Berlin. Es wird viel getrunken,
geraucht, getanzt, gelacht, und im Hintergrund läuft
Musik. Allmählich lädt sich die Stimmung erotisch
auf, Blicke werden gewechselt, es wird geknutscht, gefummelt,
das eine oder andere Paar zieht sich in die Büsche zurück,
und am nächsten Tag werden alle einen Kater haben und
ihre gereizten, auch verletzten Gefühle werden sich entladen,
wie ein Sommergewitter - es ist eine ganz und gar heutige,
zeitgemäße Geschichte, die der Film WAS NÜTZT
DIE LIEBE IN GEDANKEN von Achim von Borries erzählt.
Doch der Film spielt in den späten Zwanziger Jahren,
und ist erzählt nach einer wahren Begebenheit, der "Steglitzer
Schülertragödie". Erstaunlich ist die Leichtigkeit,
mit der der Regisseur hier die historische Epoche darstellt:
WAS NÜTZT DIE LIEBE IN GEDANKEN zeigt ein 20er-Jahre-Berlin
fast ohne Klischees, ohne aufdringliches High-Life, ohne wilde
Kulissenschieberei, ohne Nazi-Flaggen, die unheilschwanger
auf die Zukunft weisend durchs Bild getragen werden, das dabei
doch viel wiederspiegelt von der Atmosphäre der Epoche,
und dem es dabei gelingt, ganz heutig zu sein, uns seine Figuren
über die zeitliche Entfernung hinweg nahe zu bringen
- die Stratosphäre der Gefühle ist zeitlos.
Rüdiger Suchsland
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