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Cannes 2004 12.05.2004
 
 
Tagebuchnotitzen, 1. Folge
Zu schön, um wahr zu sein
Almodovars LA MALA EDUCATION
Almodovars LA MALA EDUCATION
 
 
 
 

Sonne, Palmen, azurblaues Meer, gelber Strand, und davor ein roter Teppich, auf dem Charlize Theron flaniert - alles in allem zu schön, um wahr zu sein. DIE GROSSE ILLUSION, das ist nicht nur ein Film von Renoir, sondern das heimliche Thema in Cannes, alle Jahre wieder das Mekka des Kinos, zu dem Künstler, Stars und der Rest des Filmbetriebs in Scharen pilgern. Es stimmt ja einfach alles, was über Cannes gesagt wird, auch das Negative, aber eben das andere auch, und ein Blick aufs Programm genügt, und man weiß spätestens dann wieder, warum man hier ist.

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"Ich habe meinen Glauben längst verloren, aber ich liebe Zeremonien." meinte Pedro Almodovar, mit dessen Film LA MALA EDUCACION gestern eröffnet wurde, bei der Pressekonferenz. Schöner hätte man es gar nicht sagen können, denn mag man über den Sinn solcher Großereignisse auch verschiedener Meinung sein - wenn am Abend die Stars über den roten Teppich schreiten, begleitet von Fanschreien und dem Blitzlichtgewitter der Fotografen, sind solche Zweifel schnell vergessen: hier ist Kino wenigstens einmal große Schau, Inszenierung pur. Das muss man nicht mögen, und es ist auch nicht die einzige Form von Kino - aber doch eine seiner Möglichkeiten, und ein Teil von ihm, das es erst zu dem macht, was es ist. Und wenn schon, dann bitte richtig. Wer die Inszenierung von Cannes einmal erlebt, der weiß, dass dagegen auch die Berlinale einstweilen nur ein müder Abklatsch ist.

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Das Wetter übrigens ist so grauschmierig, dass man sich in ein Ostseestrandbad versetzt fühlt, oder an den Baggersee von Lünen.

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Trotzdem stellt sich ein Gefühl für die Aura des Ortes schon am Flughafen wieder ein: Dort hängen die alten Plakate früherer Festivals. Das erste, 1947, noch stark beeinflusst vom art deco der 30er, so als sei die Stilgeschichte mal eben für ein Jahrzehnt unterbrochen worden zeigt einen Nachthimmel, vereinzelte Sterne, der hell erleuchtet wird von der Leinwand. Film als Licht in der Dunkelheit, das waren noch Zeiten...

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Gelbe Wände, blaue Türen, rote Möbel - schon befindet man sich im von Primärfarben dominierten, kunterbunten Reich von Pedro Almodovar. Der Spanier, mit dessen neuem Film LA MALA EDUCACION der der elftägige Wettbewerb von Cannes gestern Abend eröffnet wurde, beherrscht das Spiel mit den Illusionen perfekt. Es beginnt wie ein Hitchcock-Film, wird dann schnell zu einem Melodram aus Sex, Katholizismus, Rollenspiel und Obsession. Eine sehr exakt gestrickte, stellenweise freilich hochkomplizierte Geschichte, die auf drei Zeitebenen erzählt wird: Anfang der 80er trifft Enrique, ein schwuler Filmregisseur - vielleicht ein Selbstportrait des Künstlers als junger Mann? - Ignacio wieder, einen Freund aus Kindertagen. Der hat ein Drehbuch geschrieben, das für Enrique die alten Erinnerungen lebendig macht. Beide waren einst, in den repressiven 60ern der Franco-Ära, auf einem katholischen Knabeninternat. Dort entdeckten sie gemeinsam die Liebe und das Kino, litten aber auch unter den Nachstellungen schmierig-geiler Priester. In den 70er trifft Ignacio einen von ihnen wieder, und erpresst ihn. Trotz seiner komplizierten Struktur - immer wieder wird zwischen den Ebenen hin und her gesprungen - entfaltet LA MALA EDUCACION oft einen eigenartigen Sog. Der Film ist eher ein Nebenwerk des Spaniers und mischt große Kinoaugenblicke mit gepflegter Langeweile. Als Eröffnungsfilm gut genug - aber man versteht doch, warum er nicht im Wettbewerb läuft.

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Dort zeigte man zum Auftakt NOBODY KNOWS von Hirokazu Kore-eda. Der Japaner erzählt eine bewegende Familiengeschichte: Vier Kinder, zwei Zwillingspaare mit verschiedenen Vätern, wachsen allein mit ihrer Mutter auf, ohne je zur Schule zu gehen, abgeschlossen von der Außenwelt. Man spürt, dass da ein dunkles Geheimnis ist, von dem sie selbst nichts wissen, dass aber ihre Existenz dominiert. Eines Tages ist die Mutter verschwunden, und die vier beginnen sie zu suchen - es beginnt eine magische Odyssee der Weltentdeckung, die in ihrer bezaubernd poetischen Erzählweise gleich diesen ersten Wettbewerbsbeitrag zu einem Preisanwärter macht.

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In den folgenden Tagen wird vieles, was im Kino Rang und Namen hat, am Palais du Festival erwartet. Trotz des immensen Staraufgebots scheinen die Veranstalter um den langjährigen Leiter Gilles Jacob, der immer noch aus dem Hintergrund die Fäden zieht, zugleich in diesem Jahr ihre Taktik verändert zu haben. 2003 gab es viel Kritik: Vom schwächsten Wettbewerb aller Zeiten war da die Rede gewesen; erstarrt und verknöchert hätten die Filme gewirkt, kritisierte selbst die wohlwollende französische Presse. Diesmal, darauf darf man schon jetzt wetten, wird das anders sein: Sehr viele junge Regisseure sind vertreten, einige alte Veteranen, die hier ungeachtet ihrer Werke einen sicheren Stammplatz zu haben schienen, mussten das Feld räumen, und im Zweifelsfall kommt ein Star weniger, und ein Künstler mehr. Trotzdem sieht man im Programm auch viele bekannte Namen, unter denen die Jury unter Vorsitz von US-Regisseur Quentin Tarantino dann ihre Entscheidung zu treffen hat: Emir Kusturica und Walter Salles, die Coen-Brüder, Tony Gatlif und Michael Moore.

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Besonders das asiatische Kino ist sehr stark präsent: 2046, der neue Film des Hongkong-Regisseurs Wong Kar-wai, der hier vor Jahren für IN THE MOOD FOR LOVE den Regiepreis gewann, wird mit Spannung erwartet, Altmeister Zhang Yimous (ROTE LATERNE) neuer Film läuft außer Konkurrenz. Wichtiger aber die Werke der aufstrebenden Jungregisseure Kore-Eda und Park Chan-Wook (Korea), sowie TROPICAL MALADY von Apichatpong Weerasethakul, der erste thailändische Film aller Zeiten - ein Indiz für den aufsteigenden Stern dieser Kinonation. Und INNOCENCE von Mamoru Oshii ist der erste japanische Animationsfilm im Wettbewerb. Noch viele andere jüngere Regisseure sind da vertreten: Aus Frankreich, dem Mutterland des Kinos, kommt Olivier Assayas' CLEAN und Agnes Jaouis COMME UNE IMAGE, aus Österreich die hochbegabte Jessica Hausner, aus Argentinien Lucretia Martel. Auch die Deutschen dürfen sich freuen: Nach über zehn Jahren Abwesenheit konkurriert mit DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI wieder ein deutscher Film um die Goldene Palme. Dazu brauchte es zwar den geborenen Österreicher Hans Weingartner, und natürlich den offenbar unvermeidlichen Daniel Brühl als Hauptdarsteller - aber immerhin ist jetzt der böse Bann gebrochen, und das Verhältnis zwischen Cannes und dem deutschen Kino entspannt sich hoffentlich. Ergänzt wird dies durch einstarkes Nebenprogramm, unter anderem mit MARSEILLE, einem wunderbar-spröden Film der Berlinerin Angela Schanelec.

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Noch bleibt Zeit, um ein bisschen herumzustöbern. Zum Beispiel auf dem großen Filmmarkt. Die Stimmung sei besser, als in den letzten Jahren, mehr Leute da, 10 Prozent mehr Stände, sagen Vertreter von Verleihern. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass hier nach drei Jahren Krise die Schränke leer sind. Jedenfalls findet man hier die Realität hinter dem Glamour, kann Filme sehen, die nie im Festivalprogramm auftauchen, vielleicht aber später im Kino. Das ist genauso mehr Cannes, wie der rote Teppich, Macht und Geld in reiner Form, das heißt böse, aber manchmal auch hübsch.

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Für knapp zwei Wochen liegt der Nabel der Filmwelt nun an der Côte d'Azur. Das eigentliche Zentrum ist dabei nicht die Croisette, jene berühmten Flaniermeile, an der ein Luxushotel neben dem nächsten steht, sondern der rote Teppich vor dem Palais du Festival, in dem am Abend die großen Premieren stattfinden. Mag man über die Schönheit des vor einigen Jahren neu gebauten Palasts auch durchaus verschiedener Ansicht sein - am roten Teppich davor kommt keiner vorbei.

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Denn nur hier ist der rote Teppich wirklich ein roter Teppich. Beim Festival von Venedig ist er seit einigen Jahren aus unerfindlichen Gründen blau. Vielleicht wollte man sich krampfhaft von der Konkurrenz unterscheiden, vielleicht hat man ihn an den Sponsor verkauft; vielleicht fürchtete Berlusconi auch die Farbe der Revolution. Dabei ist - und wer Sharon Stone oder Nicole Kidman einmal in Cannes erlebt hat, der weiß es längst - Rot natürlich zuerst mal die Farbe der Könige. Der Berlinale Teppich ist zwar rot, aber auch so lang wie breit und ähnelt damit eher einer roten Wüste. Vor allem aber geht er - bergab. Unmöglich. Hier in Cannes sind es genau 24 Stufen - ein Weg in den Himmel, der Stunden dauern kann. Natürlich gibt es diejenigen, die ihn entlang hetzen, mit Tunnelblick, oder nur kurz schüchtern nach links und rechts gucken. Die meisten aber, vor allem die französischen Stars, die Amerikaner und die Asiaten, wissen ihn besser zu nutzen.

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Genaugenommen verrät wenig sonst dem Außenstehenden soviel über einen Star, als wie der sich auf dem roten Teppich verhält. Wie schnell er oder sie geht, wie oft sich einer umdreht, wie viele Lächel-Varianten einer beherrscht. Wichtig ist auch, wer mit wem geht. Welchen Star führt der Regisseur am Arm? Wo geht der Produzent? Stellt sich das Team am oberen Treppenabsatz noch einmal zum gemeinsamen Foto hin? Und was zieht man an? Und wie geht man eigentlich?

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Emmanuelle Béart etwa, die französische Schauspielerin, zeigte auch gestern Abend als Jurymitglied wieder die Kunst des Teppich-beschreitens. Langsam muss man sein, schließlich ist er nur knapp 50 Meter lang, da muss man jeden Meter nutzen. Béart kostet auch die acht Meter Breite voll aus, eiert fast von Seite zu Seite. Mal nach rechts, mal links, man gibt Autogramme grüßt einen Bekannten, oder behandelt die Fotografen wie Bekannte. Aber Vorsicht: Nur nicht gemein machen, Distanz wahren, Star sein. Catherine Deneuve kann das perfekt. Sie schwebt förmlich, gemessenen, sehr gleichmäßigen Schrittes, eine Königin. Auf der zweiten oder dritten Stufe dreht sie sich dann um: Stolz und souverän, Lächeln, ein Blick noch zurück, dann wieder eine Drehung und ohne einen weiteren Blick - das ist wichtig: nie zu deutlich zeigen, dass man gern fotografiert wird - hinein ins Dunkel des Palais. Die Amerikaner machen es mehr wie bei Sportveranstaltungen: Lachen, Schreien, Fäuste hochrecken, zwei Finger zum Victory-Zeichen. Und vielleicht, wen sie sehr gut drauf sind, ein paar Autogramme. So wird man zum Darling der Massen.

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Es gibt nämlich noch die andere Seite des roten Teppichs. Die, die nie drauf stehen. Schon am Morgen sieht man die ersten Fans. Mit Butterbroten und viel Wasser bewaffnet, sichern sie sich hier manchmal schon morgens um sieben die besten Plätze, harren aus bis zehn Uhr Abends, und sind glücklich. Sie sind die wahren Fans. Hätte man nur Zeit, sich einmal länger mit ihnen zu unterhalten, man könnte tolle Geschichten hören. Von irgendwelchen normalen Menschen, Angestellte oder Studenten, die nie im Leben an eine Akkreditierung für eine Wettbewerbspremiere kommen (und Karten gibt es hier keine zu kaufen), sich aber seit Jahren zehn Tage im Mai frei nehmen, um "Cannes zu machen." Zu jenen hinter auf der anderen Seite des Teppichs gehören auch die Fotografen. Diejenigen, die mehr Geld haben, können sich einen Assistenten leisten, der tagsüber den Platz freihält. Oder sie sind so berühmt, dass sie einige der wenigen reservierten Standorte vom Festival zugewiesen bekommen. Manche von ihnen sind schon seit Jahrzehnten hier, können noch von den Zeiten erzählen, als aus Deutschland nur zwanzig Journalisten kamen, und sich Truffaut oder Paul Newman mit einem zum Mittagessen verabredete, wenn er das Interview interessant fand. Doch die Zeiten sind unwiderruflich vorbei, die Manager haben auch die Filmwelt in ihrem eisernen Griff, und heute ist der rote Teppich oft der einzige Ort, um überhaupt einen Blick auf einen Star zu erhaschen.

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Die dritte Seite des roten Teppichs erlebt man nachts. Irgendwann nach Mitternacht wird der Teppich nämlich ausgetauscht. Jeden Tag. Jeden Tag ein neuer Teppich, zwölf Tage lang. Denn in Cannes bekommt jeder nur das beste, und wie sähe es denn aus, wenn der Teppich am Schluss ganz ausgetreten und löchrig wäre. Also gibt es eigentlich zwölf rote Teppiche. Und ein paar Ersatzteppiche auch noch. Alle aus Jute und Kunststoff, wetter- und rutschfest. Tagsüber wird ständig geflickt und gehämmert, werden kleine Wellen und Luftlöcher plattgetreten, denn was gäbe es Schlimmeres, als wenn sich ein Superstar ausgerechnet hier ein Bein bräche?

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So weit ist es bisher noch nie gekommen. Der rote Teppich ist Ausdruck eines Triumphs. Wer hier entlang geht, der hat es geschafft, ist angekommen im Olymp des Kinos. Und darum ist es vielleicht gar nicht so wichtig, wer hier am Ende die Goldene Palme gewinnt. Denn jeden Abend gibt es aufs Neue die vielen perfekt frisierten, blass geschminkten fleischgewordenen Rokokopuppen auf dem roten Teppich. Zu schön, um wahr zu sein eben.

Rüdiger Suchsland

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