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Extreme Atmosphären, nie gesehene Bilder, ungeahnte,
aufwühlende Stimmungen - um dies zu erleben sind Festivals
wie das von Cannes unentbehrlich. Jenseits vom Messecharakter
einer Veranstaltung, wo in Plastikzelten am Strand Millionendeals
um Filmrechte abgeschlossen werden, geht es hier immer wieder
doch zuallererst um Filme, die aus dem Rahmen fallen, die
Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit sind, Autorenfilme
im klassischen Sinn. An seinen ersten Tagen löst der
diesjährige Wettbewerb dieses Versprechen ein: Schon
eine Reihe Filme waren zu sehen, die so oder so aus dem Rahmen
des Konventionellen fallen.
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Das gilt jedenfalls für den Serben Emir Kusturica.
Damals, in jenen Tagen, als das Wünschen noch geholfen
hat, und als Texte noch nicht per Mail an die Redaktionen
verschickt wurden, sondern von einer Sekretärin abgetippt,
wurde in einer deutschen Wochenzeitung aus Emir Kusturica
einmal Erwin. Nach seinem neuen Film sollte man ihn
tatsächlich umtaufen. LIFE IS A MIRACLE macht
da weiter, wo vor neun Jahren UNDERWORLD aufhörte. Der
Film könnte aber auch TIME OF THE GYPSIES heißen:
Vage von den Schluchten des Balkans und Jugoslawiens Bürgerkrieg
handelnd, bietet Kusturica weiterhin vor allem Kusturica:
Fortwährend sieht man Menschen lachen, schreien, fressen,
zu schnellen Huftahufta-Rythmen tanzen (die Musik stammt natürlich
auch vom Regisseur), in die Luft ballern, Grimassen schneiden.
Erkan und Stefan sind genauso dabei, wie ein verrückter
Priester, ein augenrollender Briefträger, unzählige
Musikanten, der Völlerei schuldige Kommunisten, und ein
liebeskranker Esel, der immer auf den Eisenbahnschienen herumsteht,
"weil er sich umbringen will." Haha, so sind sie
halt, im wilden Osten wird suggeriert, was sind wir Balkanesen
doch emotional und echt und immer aus der tiefsten Seele heraus.
Aber bloß weil er sich nicht wäscht und selten
rasiert, ist Kusturica noch lange nicht authentisch. Auf diese
Weise wird dann vage eine Geschichte von den Schrecken des
Krieges erzählt. Die könnte einem vielleicht nahe
gehen, dominierte nicht der hysterische Überwältigungsstil
des Regisseurs alles andere. Eine lärmende Tortur, rasender
Stillstand, der vor allem Ohrenschmerzen hinterließ
- und Ermüdung.
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Das krasse Gegenteil zeigte der Iraner Abbas Kiarostami.
FIVE besteht aus nur fünf Kameraeinstellungen.
Über zwei Stunden passiert vor allem - nichts. Eine Viertelstunde
allein schaut man einem Holzstück zu, das am Strand von
den Wellen bewegt wird. Kiarostamis steng-asketische, stellenweise
etwas oberlehrerhafte Meditation ist eine Übung im Hinsehen.
Gegen ihn ist Vincent Gallos BROWN BUNNY vom Vorjahr ein Actionfilm.
Ein solches Werk könnte nur in Cannes laufen - aber genau
hier, in der hektischen Atmosphäre des Festivals, und
zusätzlich direkt nach Kusturicas Parforceritt ist es
besonders schwer, sich darauf einzulassen.
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Letztes Jahr in Vendig (und gerade auf dem Dok-Fest
in München) quälte Lars von Trier einen
dänischen Kollegen mit seinen FIVE OBSTRUCTIONS
- eine prächtige Lektion im Filmemachen. In Cannes gab
es am ersten Tag bereits 10 ON TEN zu sehen, ebenfalls
von Kiarostami. In zehn Lektionen erklärt er sein
Kino: Genau der richtige Auftakt zu einem Fetival wie diesem.
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Darf man eigentlich in den amerikanischen Pavillon
gehen? Viele Länder haben ein solches Zelt am Strand,
das in der Regel von jenen Institutionen gemietet wird, die
die Filme eines Landes im Ausland vertreten, so wie in Deutschland
die Export-Union. Natürlich ist der amerikanische Pavillion
wieder einmal der Größte. Viel gedruckte Informationen
und kostenlose Zeitungen liegen hier aus, der Kaffee ist schlecht
und teuer, dafür gibt es Plätze, an denen die Laptopbesitzer
kostenlos ins Internet können. Schon früher fand
man es hier oft etwas zu schrill, zu laut, und nicht wirklich
angenehm. Wenn es nicht ein blöder Satz und eigentlich
überhaupt kein Argument wäre, würde man sagen:
Geld stinkt doch. Aber auch die politischen Nachrichten der
letzten Tage haben einem die Lust auf Amerikanisches etwas
genommen. Plötzlich ertappt man sich dabei, auf alles
Mögliche gereizt zu reagieren, was mit den USA zusammenhängt:
Allein schon die lauten Stimmen. Das affektierte Getue. Ihr
häßliches Englisch. Und wie sie aussehen!
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Natürlich gibt es auch Filme, die einem
die USA nicht gerade sympathischer machen. Gleich drei von
ihnen liefen am Donnerstag. Von TROJA wollen wir hier
lieber schweigen, obwohl der liebe Kollege Jupp Schnelle
immerhin aus dem Kino kam und meinte: "Ich fand ihn
eigentlich nicht so schlecht, wie ich ihn finden wollte."
Aber dass es ein derber Schotter war, das gab auch er sofort
zu. Nach Cannes gehören solche Filme nur, weil man offenbar
aus Hollywood nichts Besseres anzubieten hat, und damit Brad
Pitt auf dem roten Teppich erscheint - und natürlich
damit unsereins sich darüber aufregt.
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Aber auch zwei Dokumentationen erinnerten einen
wieder mal an alles, wofür die USA außer für
Jefferson, Lincoln und Kennedy auch noch stehen: Außer
Konkurrenz im Wettbewerb lief auch SALVADOR ALLENDE,
eine Dokumentation über den chilenischen Staatschef,
der mit US-Hilfe von den Pinochet-Faschisten weggeputscht
wurde. Regisseur Patricio Guzman (geb.1941) ist einer
der wichtigsten Dokumentarfilmer Lateinamerikas. 1968 drehte
er eine Dokumentation über Allendes Wahlkampf, danach
drei Filme über Pinochet und die Folgen. Guzmanns neuer,
von arte koproduzierter Film lohnte den Besuch für seine
vielen Detailinformationen und manch interessantes Statement,
für die Zeitzeugen, die hier auftraten. Was die Analyse,
vor allem der Monate vor dem Militärputsch und die Verstrickung
der USA anging, ließ der Film hingegen einige Wünsche
offen, bot gleichermaßen zuwenig Analyse und zuwenig
persönliche Position.
Denn erklärungsbedürftig wäre doch wohl schon,
warum die Linke ihren eigenen Mann fallen ließ, warum
angeblich ein ganzes Land hinter Allende stand, und dann doch
der Militärputsch möglich war. Auch wüßte
man gerne, warum Allende eigentlich kubanische Hilfe ablehnte
und warum sowjetische Hilfe nie kam. Und schließlich
dürften die USA zumindest ein paar Gründe (was man
von ihnen hält, ist eine ganz andere Frage) mehr für
ihr riskantes massives Engagement gegen Allende gehabt haben,
als dass Nixon ein Unsympath war.
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Zwischenfrage, im Anschluß an die Allende-Doku: Warum
waren damals die Linken eigentlich sexy? Und warum
sind sie es heute nicht? Woher kommt diese Verbindung von
Erotik und Macht in den 60ern? Denn die linken (jaja: linksliberalen)
Volkstribune Kennedy, Brandt, Trudeau und eben auch Allende
hatten - man siehts in den alten Bildern - ein besonderes
Charisma, flirteten mit den Massen. "He courted the people"
hieß es in Guzmans Film. Und sie gingen auch alle ganz
schön fremd, bis auf Trudeau, der erst gar nicht verheiratet
war. Wie hängt das zusammen? Hängt es überhaupt
zusammen? Ich konstastiere nur und frage (und vermute, dass
es vielleicht wirklich das Hauptproblem linker Politik ist,
dass sie heute nicht sexy ist. Und ich kenne, pardon, wirklich
kein besseres Wort als das).
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Noch eine Zwischenfrage: Ist TROJA nicht eigentlich ein deutscher
Film? Schließlich ist Petersen ja ein Deutscher,
und Heinrich Schliemann, der Troja ausgebuddelt hat,
auch. Und wenn der Österreicher Hans Weingartner jetzt
widerspruchslos als Deutscher firmiert... Am österreichischen
Stand ist man sich übrigens ganz sicher, DIE FETTEN
JAHRE SIND VORBEI sei ein österreichischer Film.
"Der Regisseur ist Österreicher, die Produktionsfirma
liegt in Wien. " So wird das Spiel noch eine Weile weitergespielt
werden, spätestens bis zum Montagmorgen, wenn der Film
läuft. Vielleicht wollen dann alle Weinberger ausbürgern?
Aber ist das nicht schon wieder so ein typischer Kritikerdefaitismus?
Warum nicht mal patriotisch sein? Darum! Kritiker sind vaterlandslose
Gesellen und auch noch stolz drauf. Oder, wenn man es noch
pathetischer möchte: Unser Vaterland ist das Kino. Ha!
ok, ok...
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Im Wettbewerb lief noch eine zweite Dokumentation, MONDOVINO
vom Amerikaner Jonathan Nossiter. Der kurzweilige Film
schildert den internationalen Weinhandel: Mehrere Händler
und Produzenten werden vorgestellt, manche von ihnen machen
seit Jahrhunderten Spitzenweine. Man bekommt so nicht nur
eine Ahnung von der Kultur des Weinproduzierens, man erlebt
vor allem, wie diese Kultur in den letzten 20 Jahren allmählich
zerstört wird. Schuld sind tatsächlich wieder einmal
die Globalisierung und in diesem Fall die kalifornischen Weinhändler,
die die französischen Weine mit chemischen Tricks perfekt
imitieren - im Film ist die Rede von "Plastikchirurgie"
- und zudem bestimmte Geschmäcker mit recht rohen Mitteln
weltweit durchsetzen. Alles was anders ist, kommt da unter
die Räder. MONDOVINO ist ein Lehrstück über
Funktionsweise und Abgründe des Kapitalismus - dabei
nie plumpes Pamphlet. Die Botschaft ist viel einfacher: "Jeder
Wein spiegelt seinen Schöpfer." Für Filme gilt
das natürlich auch.
Rüdiger Suchsland
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