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Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll! Das liegt
an der Fülle des Angebots von Cannes, ganz klar. Ein
Supermarkt, der überbordet von Möglichkeiten. Aber
der Eindruck spiegelt auch die Qualität. Bis jetzt
noch kein wirklich schlechter Film, sieht man einmal von
dem unsäglichen Kusturica am Freitag ab. Aber
der provoziert immerhin noch mit der Konsequenz, mit der er
er seine Linie durchzieht, ohne nach rechts und links zu schauen.
Und durch die politische Frechheit, mit der er von einem Jugoslawien
während des Bürgerkriegs 1992 erzählt, in dem
moslemische Truppen eine Moslemin, die von Serben als Geisel
genommen wird, umbringen, während die anderen Moslems
dann von Serben gerettet werden. Diese Umdrehung der Verhältnisse
lassen ihm leider manche Kollegen durchgehen, die sich für
Politik einfach nicht interessieren.
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Um unendliche Meilen besser war dagegen OLD BOY, der
erste von zwei koreanischen Wettbewerbsfilmen. Er stammt von
Park Chan-wook, der bereits zweimal mit früheren,
sehr verschiedenen Filmen in Berlin vertreten war: JSA und
dem unglaublich brillianten SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE. Auch
OLD BOY ist eine Rachegeschichte, eine Art koreanische Version
von KILL BILL. Obwohl hier weitaus weniger Menschen sterben,
schockiert der Film manchen durch seine Brutalität. Denn
wo Tarantino alles ästhetisiert, zeigt Park einfach die
Dinge, wie sie sind: Zähne werden im Dutzend gezogen,
und zwar ohne Narkose. Zur Prügelei nimmt der Titelheld
gleich einen Hammer, auch Messer, Bretter und anderes kommen
zum Einsatz, wenn er sich mit Dutzenden von Schlägern
auseinandersetzt. Auch Tiere kommen zu Schaden: Ein Tintenfisch
wird bei lebendigem Leib verspeist, poetisch ringeln sich
die Fangarme der sterbenen Viechs noch um Mund und Nase.
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Durch die Story fühlt man sich an viele Filme erinnert:
Wie Mr. Chance in BEING THERE betritt jener Old Boy namens
Oh Dae-su die Außenwelt, nachdem er 15 Jahre in Mafiagefangenschaft
in nur einem Raum verbracht hat, und die Welt ausschließlich
per TV wahrnahm. Nachdem der Rachefeldzug beginnt, erinnert
die Grundkonstellation auch an den "Graf von Montechristo",
nur das der Film kein Gut und Böse kennt, und stattdessen
die Verhältnisse schnell ins Gleichgewicht bringt. Denn
jener Unbekannte, der Oh Dae-su gefangen hielt, hat, so stellt
sich bald heraus, seine gar nicht so unverständlichen
Gründe. Die Zahn-Zieh-Szenen sind das Schlimmste,
was es seit dem in der Hinsicht unübertroffenen THE MARATHON
MAN im Kino gab.
Letztlich ist OLD BOY aber ein schöner Film, voller
Poesie, brilliant geschnitten, mit nahezu perfektem Gleichklang
von Bildern und Musik. Man mag über die etwas schwerblütige
Schuld-und-Sühne-Story, den mittelalterlichen Katholizismus
des Films und die Tabubruch-Obsession der Koreaner verschiedener
Meinung sein, und überdies, wie der Verfasser, SYMPATHY
FOR MR. VENGEANCE für den um Längen besseren Film
halten - OLD BOY, der bereits einen deutschen Verleih hat,
ist ein klarer Preisfavorit, keine Jury käme an
diesem Film vorbei. Und eine mit Quentin Tarantino schon gar
nicht.
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Ganz anderes Kino: LOS MUERTOS. Low budget aus Argentinen,
der Film von Alonso Lisandro läuft in der Quinzaine:
Ein Mann kommt nach langer Zeit aus dem Gefängnis und
fährt mit seinem Boot zu seiner Tochter, die irgendwo
am Rand des Urwalds lebt. Das ist alles. Bis der Typ überhaupt
aus dem Gefängnis herauskommt, dauert es schon eine halbe
Stunde. Wenn man sich an den langsamen Rhythmus des Films
und seinen lakonischen Ton erstmal gewöhnt hat, dann
läßt er einen nicht mehr los. LOS MUERTOS funktioniert
darüber, dass man ganz allmählich immer weitere
Informationen erhält, so dass die eigene Erwartungsphantasie
in Gang gebracht wird: Was kommt als nächstes? Was wird
der Typ tun, wenn er bei der Tochter ist? Was hat er früher
getan? Zumindest das wird beantwortet: Man erfährt, dass
er einst seine beiden Brüder umbrachte. Aber warum und
wieso? Was er darüber denkt? Wieder Fehlanzeige. "Ich
hab alles vergessen." lügt er, als ihn einmal einer
stellvertretend für uns im Saal fragt. Dafür sieht
man dem Leben zu: Was tut einer, wenn er aus dem Gefängnis
kommt? Er läßt sich die Haare schneiden, kauft
ein, läßt sich von einer Nutte ficken, geht
nach Hause.
Was tut einer, wenn er unterwegs ist? Er langweilt sich.
Aber nicht der Zuschauer, das ist die überraschende
Qualität des Films. Zum Actionpart werden zwei Szenen:
Der Mann macht Feuer, räuchert einen Bienstock aus und
schlürft den Honig aus dem Waben. Und er schlachtet eine
Ziege. Wieder: Animals were harmed for this movie! Und es
ist schön, pardon liebe Tierfreunde, einer Ziege zuzusehen,
die getötet und ausgenommen wird.
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LOS MUERTOS erinnert an einen Western. In diesem Teil Argentiniens
herrschen Zustände wie im Amerika des 19., wie im Europa
des 17.Jahrhunderts. Wie ein Untoter geht unser Protagonist
wortlos und geradeaus seinen Weg. A man's gotta do, what
a man's gotta do. Die Reise als existentieller Akt. Dabei
zeigt er uns alle seine Überlebenstricks und verrät
nebenbei etwas über sich. Interessant sind auch die Einblicke
ins Alltagsleben der Menschen, die LOS MUERTOS eine ethnologische
Qualität geben. Die Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit
derjenigen, denen der Entlassene auf seiner Reise begegnet,
und die man natürlich auch für die Gelassenheit
des Südens halten könnte - wäre sie nicht offenkundig
der Rückfall in den Naturzustand.
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"Vive la Résistance!" brüllt Asia
Argento. Auf der Kinobühne beruft sie sich mit rauchiger
Stimme erst einmal auf Gaspard Noé, Beifall unterbricht
sie, dann noch ein Lob auf ihre Schauspieler, sie zeigt
ihre Netzstrümpfe, und ballt die Faust. Widerstand
gegen wen? Gegen George Dubblejuh oder gegen ihren Vater?
Egal. Denn im Publikum sitzt Julie Delpy und ich bin
fest überzeugt, dass sie mich wohlwollend angeschaut
hat, als ich reingekommen bin. Nach so einem Auftakt ist es
dann auch egal, dass THE HEART IS DECEITFUL ABOUT ALL THINGS,
Asias neuer Film ein vor allem hysterischer, etwas wirrer
Kram ist, mit immer wieder bezwingenden Momenten, und
einer grandiosen One-Woman-Show, aber doch manchmal auch Kusturica
für Underground-Arme. Ok, nein, der Film ist schon besser,
aber eben enttäuschend, weil er gegenüber der bloßen
Erscheinung seiner Regisseurin und dem Event an sich banal
wirkt. Und erst recht neben dem lauthals verkündeten
Anspruch Kino zu machen, wie man es sonst nicht sieht. Naja,
also echt, nee, das ist es beim besten Willen nicht. Eine
tieftraurige Geschichte über eine schreckliche Kindheit,
so inzeniert, dass man nie sicher ist, ob das nun genial ist
oder dilettantisch. Also genial? Im Zweifel schon. Jedenfalls
nicht unangenehm, Nur etwas ermüdend. Aber die Nacht
hat längst begonnen, also gehen wir jetzt schnell ein
Bier trinken. Oder vielleicht doch nochmal ins Kino? Nein,
nein. Ich finde auch: "Vive la Résistance!"
"Vive Julie Delpy!"
Rüdiger Suchsland
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